27. Kapitel

Endlich entdeckte sie Taupus roten Schopf in der Menge. Der Abschied hatte noch nicht begonnen.

»Du bist schon wieder zu spät«, sagte ihre Freundin vorwurfsvoll.

»Ich hatte noch einen Mantel zu füttern«, rechtfertigte sich Rangi, erleichtert, dass sie ihre Freundin rechtzeitig gefunden hatte. »Außerdem war mir nicht klar, dass so viele kommen würden.« Auf den Hügeln, die den Schrein umgaben, war kein Flecken Grün mehr zu erkennen. Selbst beim Frühlingsgebet war es nicht so voll gewesen.

Taupu zupfte an ihrer Schärpe herum. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen reichten die Festschärpen, die sie heute alle trugen, bis zu den Knien, waren umständlich zu wickeln und besaßen allgemein die Fähigkeit, stets im Weg zu sein. »Die Hohepriesterin Atua-Kores wird verabschiedet, und du wunderst dich, dass die Leute kommen?«

»Na ja, wie viele kommen zu den Wochengebeten?«

»Du jedenfalls nicht. Hier.« Taupu reichte ihr eine Mango. »Wer weiß, wie lange das dauert.«

»Du bist die Beste«, grinste Rangi und zog ihr Ledermesser aus dem Stiefel. Während sie den ersten Streifen aus der Mango schnitt, fragte sie: »Und, glaubst du es?«

Taupu rollte mit den Augen. »Du meinst, dass sie vergiftet wurde? In dieser Stadt gibt es mehr Gerüchte als eingewachsene Zehennägel – seit wann glaubst denn du so einen Gerberwitz?«

»Jetzt nicht frech werden, Kleine.« Rangi reichte ihrer Freundin das Mangostück und nickte in Richtung des Schreins. »Aber sieh dir mal den Aufmarsch an Tempelgardisten an. Unsere neue Hohepriesterin ist auf jeden Fall mehr auf ihre Sicherheit bedacht als die alte.«

»Vielleicht ist die alte auch nicht der beste Richtwert. Mein Vetter arbeitet im inneren Kreis, der behauptet, er habe Amokapua mal auf der Straße gesehen, ohne Sänfte, nicht mal mit Begleitung.«

»Dein Vetter erzählt auch, dass seine Fürze nach Wurst riechen.«

»Was tut denn das jetzt zur Sache?«

»Weißt du, was ich auch gehört habe?«, fragte Rangi, während sie sich selbst einen Mangoschnitz in den Mund schob.

»Jetzt kommt’s.«

»Der Schwächeanfall zum Frühlingsgebet«, sagte sie kauend, »das war auch Gift.«

»Selbstverständlich, davon würde ich auch ausgehen – wenn ich geistig so verklebt wäre zu glauben, dass es dieses Mal Gift gewesen ist.«

»Es kommt noch dicker«, Rangi ließ sich von dem Misstrauen ihrer Freundin nicht beirren, »die erhabene Sprecherin soll ebenfalls vergiftet worden sein. Es heißt, sie hat nur überlebt, weil der Schamane ihr im letzten Moment den Speichel eines Fuchses ins Ohr geträufelt hat.«

»Was für ein Humbug. Ein Jammer, das Königin Haika so früh ins Licht ist.« Sie schlug das Zeichen des Andenkens an verlorene Größe.

»Haika war ein Monster ...«

»Aber sie hat für Ordnung gesorgt. Zum Beispiel hat sie die Kräuterpfuscher aus Ranui vertrieben. Weißt du, wie meine Großmutter gestorben ist? Sie hat einen Pfuscher gebeten, ihr schwindendes Augenlicht zu behandeln. Ein paar Wochen später war sie tot.«

»Dann scheint die neue Königin wohl nicht nach deinem Geschmack zu sein ...«

»Weil sie am Tag des Urteils einen Kräuterpfuscher vorgeführt hat? Hast du seine teure Robe gesehen? Ich glaube nicht, dass der wirklich einer war.«

»Ein Schauspieler?«, zweifelte Rangi. »Und selbst wenn – indem sie ihn zeigt, holt sie den Schamanismus zurück ins Gedächtnis der Menschen.«

»Hast du damals nicht zugehört? Der Kerl hat zugegeben, dass niemand mächtiger ist als die Goldene Göttin.«

Rangi pulte sich eine Fruchtfleischfaser aus den Zähnen. »Und seit wann braucht die Allmächtige Bestätigung von außen?«

»Bitte nicht, nicht hier«, flüsterte Taupu erschrocken, sah sich hastig um, ob jemand zugehört hatte.

»Die Mächtigen sind verunsichert«, fuhr Rangi ungerührt fort. »Es gärt im dritten Ring. Königin Haika war geschickt genug, die Zünfte gegeneinander auszuspielen. Sie war ohne Herz geboren – aber sie hat für Ordnung gesorgt, da bin ich deiner Meinung. Und Hua besitzt weder Haikas Härte noch ihren Verstand.«

»Still, sei still«, zischte Taupu, »oder willst du, dass es dir wie dem armen Burschen aus dem Durstigen Mond ergeht?«

Rangi presste die Lippen zusammen. Hätte Taupu damals einfach den Mund gehalten, wäre der Mann vielleicht noch am Leben.

»Jetzt tu nicht so, als ob es deine Große Liebe gewesen wäre«, sagte Taupu, knuffte sie aber versöhnlich in die Seite.

»Er hat gesagt, was er denkt«, murmelte Rangi. »Das ist selten geworden.«

»Und sieh, was es ihm gebracht hat.«

»Der Tag wird kommen, an dem mehr Leute den Mut finden, zu sagen, was sie denken.«

»Bitte, Rangi.«

»Vielleicht stimmt die Anklage. Vielleicht hat er wirklich behauptet, die Gefallene sei von einem neuen Gott aufgenommen worden. Und vielleicht hat er recht. Denk daran, wie der Richter der Gefallenen sein Schwert angeboten an. Was wäre, wenn die Macht Atua-Kores ...«

Taupu hielt ihr den Mund zu, sah sie mit schreckgeweiteten Augen an.

Als Zeichen, dass sie verstanden hatte, hob Rangi die Hände, worauf Taupu ihren Griff zögerlich wieder löste.

»Du lästerst die Göttin, Kürschnerin«, brummte es hinter ihnen. Beide fuhren sie herum, ein Hüne stand da, sah mit verschränkten Armen auf sie herab. Seine Schärpe wies ihn als Schmied aus.

»Nein, nein«, stammelte Taupu, »du musst dich verhört haben.«

»Ich weiß, was ich gehört habe.« Eine Stimme wie ein Amboss. Er blickte Rangi an. »Du solltest nicht sprechen, wie du sprichst«, doch statt die Garde zu rufen, zwinkerte er ihr zu, »nicht während der Bestattung einer Hohepriesterin.« Ohne auf eine Entgegnung zu warten, drehte er sich wieder weg, sah in Richtung des Schreins, wo der Zug der Akolythinnen eingetroffen war. In wenigen Minuten würde das Ritual beginnen.