26. Kapitel
Die Hohepriesterin hatte Wort gehalten. Nachdem Kidogo die Ereignisse in den Nebelzinnen geschildert hatte, hatte man ihn entlassen, ohne ihn ferner zu belangen. Im Gegenteil, die Ratssprecherin bot ihm weiterhin Herberge und Kost.
Kidogo war schon geschwächt nach Ranui gekommen; dass er eine Woche nichts gegessen hatte, hatte seinen Zustand nicht verbessert. Er beschloss, das Angebot der Sprecherin für zwei Tage in Anspruch zu nehmen. Am dritten würde er die Stadt für immer verlassen.
Dass er wohl nicht gänzlich frei war, zeigte sich darin, dass die Bewaffneten, die ihn zum Palast geführt hatten, ihn auch zurück zum Anwesen der Sprecherin begleiteten. Als er endlich allein in den ihn zugewiesenen Räumlichkeiten war, ließ er sich aufs Bett fallen und atmete tief durch. Nie war er so nah an der Macht gewesen wie soeben. Und doch hätte er mit keiner der drei Frauen tauschen wollen: Die Hohepriesterin war von einer Müdigkeit gezeichnet gewesen, die die Gebrechen ihres Alters überstieg. In den Augen der Sprecherin hatten Verbitterung und Einsamkeit gelegen. Und die Königin selbst war überfordert und verängstigt gewesen wie ein Kind – das sie vor kurzem noch gewesen war. Besser den je verstand Kidogo, warum Aki versucht hatte, einem solchen Schicksal zu entfliehen.
Es klopfte. Angespannt richtete Kidogo sich auf. Wer konnte es sein? Pawe hatte den Raum bereits hergerichtet, während er im Palast gewesen war. Als er die Person einzutreten bat, zeigte sich das Gesicht eines Jungen, der fünfzehn Winter zählen mochte. Er trug die Kluft eines höheren Dieners, sein dichtes Haar war zu einem langen Zopf gebunden.
»Verzeiht die Störung, Herr.«
»Was kann ich für dich tun?«
»Pawe meinte, Ihr habt ihr mit ihrem Bein geholfen ...«
»Geht es besser? Das freut mich.«
»Sie sagt, Ihr seid ein großer Heiler.«
»Ich bin ein Heiler, ja. Du hast Schmerzen?«
Der Junge legte sich eine Hand an die Seite. Kidogo winkte ihn zu sich, betastete die entsprechende Stelle. »Kannst du lesen?«
»Ja, Herr.«
Kidogo hatte in seinem Raum auch einen Tisch mit Schreibwerkzeug. Er schrieb dem Jungen eine Liste mit Kräutern und reichte sie ihm. »Solltest du alles auf dem Markt finden. Zerreibe jeden Morgen und jeden Abend eine Handvoll davon und gieße das Ergebnis mit heißem Wasser auf. Diese Brühe trinkst du, sobald sie nicht mehr dampft.«
Als der Junge nicht aufhören wollte, sich zu bedanken, scheuchte Kidogo ihn davon. Den Rest des Tages verbrachte er damit, einige der Gerichte zu kosten, die Pawe ihm hingestellt hatte, und vom Fenster aus die Stadt zu betrachten. Die größte Stadt des Kontinents, vielleicht die größte Stadt der Welt. Die Erbauer der Dornen mussten ungleich mächtiger gewesen sein, und dennoch waren sie untergegangen. Was bedeutete ihr Untergang? Bedeutete er überhaupt irgendetwas? Werden und Vergehen bildeten den Kreislauf des Lebens – vielleicht verbarg sich das große Geheimnis des menschlichen Wesens in der Fähigkeit zur Selbsttäuschung, dass man den Kreislauf durchbrechen könnte. Dass man erreichen könnte, was jedem Blümchen unmöglich war: zu gedeihen, ohne zu verblühen.
Es klopfte.
»Tritt ein.« Ein weiterer Bittsteller? Es machte ihm nichts aus; indem er sich auf seine Berufung besann, vermochte er seinen umherirrenden Gedanken eine Richtung zu geben.
Doch es war niemand, der seiner Heilfähigkeiten bedurfte, sondern ein Soldat. Keiner in goldenem Harnisch diesmal, sondern in schwarzem Leder. Eine Tempelwache. Kidogo hatte bereits mit ihnen Bekanntschaft gemacht, am Tag der Hinrichtung, als er Aki verraten hatte. Seine Kehle schnürte sich zusammen. »Was wollt Ihr?«
»Ihre Heiligkeit erbittet Euren Besuch.«
Als man Kidogo zum Palast gebracht hatte, hatte der Weg am Platz der Hinrichtung bloß vorbeigeführt. Jetzt hingegen ging es gerade darüber hinweg. Es kostete ihn alle Kraft, die Erinnerungen im Zaum zu halten.
Dass es sich nur um eine Bitte der Hohepriesterin handelte, statt um einen Befehl, schien tatsächlich der Wahrheit zu entsprechen. Der Gardist, der ihn abgeholt hatte, war alleine gekommen. Vor der Tempelpyramide blieb er stehen, übergab Kidogo einer Priesterin mit nackten Füßen, auf deren Robe ein silberner Ring gestickt war.
Im trüben Licht der Öllampen ging es nach oben. Die Decke war niedrig und die Treppen schmal, wie eine Spalte zwischen glattgeschliffenem Fels. Wie es gelungen war, die gewaltigen Steinquader übereinanderzustapeln und nahtlos aneinanderzufügen, konnte sich Kidogo kaum vorstellen. Das Bauwerk war gleichermaßen ehrfurchtgebietend wie bedrückend.
Die Priesterin führte ihn zu einem kleinen, achteckigen Saal, in dessen Mitte ein wuchtiger, ebenfalls achteckiger Tisch stand, an dem eine weitere Priesterin Schriftrollen durchsah. Auch hier war die Decke kümmerlich niedrig. »Eure Heiligkeit«, sagte die Priesterin, bevor sie sich lautlos zurückzog.
Die verbliebene Frau sah von ihren Schriftstücken auf. »Mandrêb«, sagte sie, »danke, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid. Ich bin Kaïkopura, der Mund Atua-Kores.«
»Der Mund ...?« Er stutzte. »Was ist mit Amokapua?«
»Tot.«
»Was ist passiert?«
»Vor zwei Stunden ins Licht gegangen. Vermutlich hat Atua-Kore entschieden, dass es Zeit war, ihre Dienerin von den Lasten des Irdischen zu erlösen.«
»›Vermutlich‹?«, fragte er misstrauisch.
»Deswegen habe ich Euch rufen lassen.« Die frischgebackene Hohepriesterin setzte ein letztes Zeichen auf ein Papier und rollte es ein. Dann wandte sie sich wieder Kidogo zu. »Amokapua wurde bereits einmal vergiftet, während des Frühjahrsgebets, vor sieben Wochen. Erst letzte Woche gab es einen Anschlag auf ihre Tochter, die erhabene Sprecherin. Dass die Hohepriesterin uns in diesen unruhigen Zeiten verlassen hat, ist schlimm genug. Aber wenn es tatsächlich das Tun einer finsteren Seele war, wäre das ungleich gefährlicher. Ich habe keine Angst, für meine Göttin ins Licht zu gehen – doch um des Friedens der Stadt willen darf mir nichts geschehen.«
»Ihr wollt, dass ich herausfinde, ob ihre Heiligkeit vergiftet wurde?«
»Ja.«
»Und Ihr fragt mich, weil Ihr niemandem sonst traut?«
Kaïkopura sah sich um, als könnte der Meuchler sich bereits in eine Ecke des Saales geschlichen haben. »Niemandem.«
»Gut«, seufzte Kidogo, nachdem er sich einen Moment besonnen hatte, »führt mich zu ihr.«
Man hatte Amokapua noch nicht aus ihren privaten Gemächern geholt, sondern auf Kaïkopuras Befehl hin auf demselben Sofa aufgebahrt, auf dem sie gestorben war. Zwei Priesterinnen waren damit beschäftigt, Gebete zu sprechen, eine Akolythin schwenkte Weihrauch. Kaïkopura schickte alle drei aus dem Raum.
»Wer hat sie gefunden?«, fragte Kidogo.
»Ihre Tochter, die erhabene Sprecherin.«
Kidogo untersuchte die Augen der Toten, öffnete ihren Mund, sah hinein. Der Geruch verriet, dass sie getrunken hatte. Er entdeckte eine leere Karaffe, ein leeres Glas. Neben dem Sofa lagen die Scherben eines zweiten.
»Es muss ihr aus der Hand gefallen sein, als das Leben sie verließ«, erklärte Kaïkopura.
»Wie lange war sie allein?«
»Keine Viertelstunde. Nachdem sie von der Fleischwalkerin gekommen war, hat sie nach ihrer Tochter geschickt, und diese erschien sogleich – aber da war ihre Heiligkeit bereits im Licht.«
»Sagt Sokai?«
»Ja, wer sonst, sie war es ja, die sie gefunden hat.«
»Hm.« Kidogo sah sich das Glas an, hielt es ins Licht einer Öllampe. »Entweder Eure Akolythinnen haben nachlässig gespült«, murmelte er, »oder dieses Glas hier wurde benutzt.«
»Unsere Akolythinnen werden zu größter Sorgfalt erzogen.« Kaïkopura nahm es ihm aus der Hand, musterte es ebenfalls. Als sie die Schlieren sah, rümpfte sie die Nase.
»Vielleicht war es Sokai«, überlegte Kidogo.
»Warum sollte die Sprecherin nach der Entdeckung ihrer verblichenen Mutter noch einen Wein trinken?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Kidogo vorsichtig. »Fragt sie am besten selbst.«
»Aber wie lautet denn nun Eure Meinung, was eine mögliche Vergiftung betrifft?«
»Es mag sein, dass der Besuch bei der Fleischwalkerin und das anschließende Treppensteigen einfach zu anstrengend für ihr Herz war. Anzeichen für eine Vergiftung sehe ich keine, aber das muss nichts heißen, es gibt einige Gifte, die kaum Spuren hinterlassen. Ich kann Euch keine klare Antwort geben.«
»Das bedeutet, ich habe Euch umsonst rufen lassen.« Sie klang nicht erzürnt, nur enttäuscht.
»An Eurer Stelle würde ich mir einen Vorkoster zulegen. Und wenn Ihr keinen findet, dem Ihr vertraut, rate ich Euch, die nächste Zeit nur Wasser zu trinken und ungegarte Speisen zu verzehren. So bemerkt Ihr am ehesten eine unbekannte Note im Geschmack.«
»Nun gut. Danke für Euren Rat. Ihr seid entlassen, ich muss das Abschiedsritual vorbereiten.«
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Die Hohepriesterin hatte Wort gehalten. Nachdem Kidogo die Ereignisse in den Nebelzinnen geschildert hatte, hatte man ihn entlassen, ohne ihn ferner zu belangen. Im Gegenteil, die Ratssprecherin bot ihm weiterhin Herberge und Kost.
Kidogo war schon geschwächt nach Ranui gekommen; dass er eine Woche nichts gegessen hatte, hatte seinen Zustand nicht verbessert. Er beschloss, das Angebot der Sprecherin für zwei Tage in Anspruch zu nehmen. Am dritten würde er die Stadt für immer verlassen.
Dass er wohl nicht gänzlich frei war, zeigte sich darin, dass die Bewaffneten, die ihn zum Palast geführt hatten, ihn auch zurück zum Anwesen der Sprecherin begleiteten. Als er endlich allein in den ihn zugewiesenen Räumlichkeiten war, ließ er sich aufs Bett fallen und atmete tief durch. Nie war er so nah an der Macht gewesen wie soeben. Und doch hätte er mit keiner der drei Frauen tauschen wollen: Die Hohepriesterin war von einer Müdigkeit gezeichnet gewesen, die die Gebrechen ihres Alters überstieg. In den Augen der Sprecherin hatten Verbitterung und Einsamkeit gelegen. Und die Königin selbst war überfordert und verängstigt gewesen wie ein Kind – das sie vor kurzem noch gewesen war. Besser den je verstand Kidogo, warum Aki versucht hatte, einem solchen Schicksal zu entfliehen.
Es klopfte. Angespannt richtete Kidogo sich auf. Wer konnte es sein? Pawe hatte den Raum bereits hergerichtet, während er im Palast gewesen war. Als er die Person einzutreten bat, zeigte sich das Gesicht eines Jungen, der fünfzehn Winter zählen mochte. Er trug die Kluft eines höheren Dieners, sein dichtes Haar war zu einem langen Zopf gebunden.
»Verzeiht die Störung, Herr.«
»Was kann ich für dich tun?«
»Pawe meinte, Ihr habt ihr mit ihrem Bein geholfen ...«
»Geht es besser? Das freut mich.«
»Sie sagt, Ihr seid ein großer Heiler.«
»Ich bin ein Heiler, ja. Du hast Schmerzen?«
Der Junge legte sich eine Hand an die Seite. Kidogo winkte ihn zu sich, betastete die entsprechende Stelle. »Kannst du lesen?«
»Ja, Herr.«
Kidogo hatte in seinem Raum auch einen Tisch mit Schreibwerkzeug. Er schrieb dem Jungen eine Liste mit Kräutern und reichte sie ihm. »Solltest du alles auf dem Markt finden. Zerreibe jeden Morgen und jeden Abend eine Handvoll davon und gieße das Ergebnis mit heißem Wasser auf. Diese Brühe trinkst du, sobald sie nicht mehr dampft.«
Als der Junge nicht aufhören wollte, sich zu bedanken, scheuchte Kidogo ihn davon. Den Rest des Tages verbrachte er damit, einige der Gerichte zu kosten, die Pawe ihm hingestellt hatte, und vom Fenster aus die Stadt zu betrachten. Die größte Stadt des Kontinents, vielleicht die größte Stadt der Welt. Die Erbauer der Dornen mussten ungleich mächtiger gewesen sein, und dennoch waren sie untergegangen. Was bedeutete ihr Untergang? Bedeutete er überhaupt irgendetwas? Werden und Vergehen bildeten den Kreislauf des Lebens – vielleicht verbarg sich das große Geheimnis des menschlichen Wesens in der Fähigkeit zur Selbsttäuschung, dass man den Kreislauf durchbrechen könnte. Dass man erreichen könnte, was jedem Blümchen unmöglich war: zu gedeihen, ohne zu verblühen.
Es klopfte.
»Tritt ein.« Ein weiterer Bittsteller? Es machte ihm nichts aus; indem er sich auf seine Berufung besann, vermochte er seinen umherirrenden Gedanken eine Richtung zu geben.
Doch es war niemand, der seiner Heilfähigkeiten bedurfte, sondern ein Soldat. Keiner in goldenem Harnisch diesmal, sondern in schwarzem Leder. Eine Tempelwache. Kidogo hatte bereits mit ihnen Bekanntschaft gemacht, am Tag der Hinrichtung, als er Aki verraten hatte. Seine Kehle schnürte sich zusammen. »Was wollt Ihr?«
»Ihre Heiligkeit erbittet Euren Besuch.«
Als man Kidogo zum Palast gebracht hatte, hatte der Weg am Platz der Hinrichtung bloß vorbeigeführt. Jetzt hingegen ging es gerade darüber hinweg. Es kostete ihn alle Kraft, die Erinnerungen im Zaum zu halten.
Dass es sich nur um eine Bitte der Hohepriesterin handelte, statt um einen Befehl, schien tatsächlich der Wahrheit zu entsprechen. Der Gardist, der ihn abgeholt hatte, war alleine gekommen. Vor der Tempelpyramide blieb er stehen, übergab Kidogo einer Priesterin mit nackten Füßen, auf deren Robe ein silberner Ring gestickt war.
Im trüben Licht der Öllampen ging es nach oben. Die Decke war niedrig und die Treppen schmal, wie eine Spalte zwischen glattgeschliffenem Fels. Wie es gelungen war, die gewaltigen Steinquader übereinanderzustapeln und nahtlos aneinanderzufügen, konnte sich Kidogo kaum vorstellen. Das Bauwerk war gleichermaßen ehrfurchtgebietend wie bedrückend.
Die Priesterin führte ihn zu einem kleinen, achteckigen Saal, in dessen Mitte ein wuchtiger, ebenfalls achteckiger Tisch stand, an dem eine weitere Priesterin Schriftrollen durchsah. Auch hier war die Decke kümmerlich niedrig. »Eure Heiligkeit«, sagte die Priesterin, bevor sie sich lautlos zurückzog.
Die verbliebene Frau sah von ihren Schriftstücken auf. »Mandrêb«, sagte sie, »danke, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid. Ich bin Kaïkopura, der Mund Atua-Kores.«
»Der Mund ...?« Er stutzte. »Was ist mit Amokapua?«
»Tot.«
»Was ist passiert?«
»Vor zwei Stunden ins Licht gegangen. Vermutlich hat Atua-Kore entschieden, dass es Zeit war, ihre Dienerin von den Lasten des Irdischen zu erlösen.«
»›Vermutlich‹?«, fragte er misstrauisch.
»Deswegen habe ich Euch rufen lassen.« Die frischgebackene Hohepriesterin setzte ein letztes Zeichen auf ein Papier und rollte es ein. Dann wandte sie sich wieder Kidogo zu. »Amokapua wurde bereits einmal vergiftet, während des Frühjahrsgebets, vor sieben Wochen. Erst letzte Woche gab es einen Anschlag auf ihre Tochter, die erhabene Sprecherin. Dass die Hohepriesterin uns in diesen unruhigen Zeiten verlassen hat, ist schlimm genug. Aber wenn es tatsächlich das Tun einer finsteren Seele war, wäre das ungleich gefährlicher. Ich habe keine Angst, für meine Göttin ins Licht zu gehen – doch um des Friedens der Stadt willen darf mir nichts geschehen.«
»Ihr wollt, dass ich herausfinde, ob ihre Heiligkeit vergiftet wurde?«
»Ja.«
»Und Ihr fragt mich, weil Ihr niemandem sonst traut?«
Kaïkopura sah sich um, als könnte der Meuchler sich bereits in eine Ecke des Saales geschlichen haben. »Niemandem.«
»Gut«, seufzte Kidogo, nachdem er sich einen Moment besonnen hatte, »führt mich zu ihr.«
Man hatte Amokapua noch nicht aus ihren privaten Gemächern geholt, sondern auf Kaïkopuras Befehl hin auf demselben Sofa aufgebahrt, auf dem sie gestorben war. Zwei Priesterinnen waren damit beschäftigt, Gebete zu sprechen, eine Akolythin schwenkte Weihrauch. Kaïkopura schickte alle drei aus dem Raum.
»Wer hat sie gefunden?«, fragte Kidogo.
»Ihre Tochter, die erhabene Sprecherin.«
Kidogo untersuchte die Augen der Toten, öffnete ihren Mund, sah hinein. Der Geruch verriet, dass sie getrunken hatte. Er entdeckte eine leere Karaffe, ein leeres Glas. Neben dem Sofa lagen die Scherben eines zweiten.
»Es muss ihr aus der Hand gefallen sein, als das Leben sie verließ«, erklärte Kaïkopura.
»Wie lange war sie allein?«
»Keine Viertelstunde. Nachdem sie von der Fleischwalkerin gekommen war, hat sie nach ihrer Tochter geschickt, und diese erschien sogleich – aber da war ihre Heiligkeit bereits im Licht.«
»Sagt Sokai?«
»Ja, wer sonst, sie war es ja, die sie gefunden hat.«
»Hm.« Kidogo sah sich das Glas an, hielt es ins Licht einer Öllampe. »Entweder Eure Akolythinnen haben nachlässig gespült«, murmelte er, »oder dieses Glas hier wurde benutzt.«
»Unsere Akolythinnen werden zu größter Sorgfalt erzogen.« Kaïkopura nahm es ihm aus der Hand, musterte es ebenfalls. Als sie die Schlieren sah, rümpfte sie die Nase.
»Vielleicht war es Sokai«, überlegte Kidogo.
»Warum sollte die Sprecherin nach der Entdeckung ihrer verblichenen Mutter noch einen Wein trinken?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Kidogo vorsichtig. »Fragt sie am besten selbst.«
»Aber wie lautet denn nun Eure Meinung, was eine mögliche Vergiftung betrifft?«
»Es mag sein, dass der Besuch bei der Fleischwalkerin und das anschließende Treppensteigen einfach zu anstrengend für ihr Herz war. Anzeichen für eine Vergiftung sehe ich keine, aber das muss nichts heißen, es gibt einige Gifte, die kaum Spuren hinterlassen. Ich kann Euch keine klare Antwort geben.«
»Das bedeutet, ich habe Euch umsonst rufen lassen.« Sie klang nicht erzürnt, nur enttäuscht.
»An Eurer Stelle würde ich mir einen Vorkoster zulegen. Und wenn Ihr keinen findet, dem Ihr vertraut, rate ich Euch, die nächste Zeit nur Wasser zu trinken und ungegarte Speisen zu verzehren. So bemerkt Ihr am ehesten eine unbekannte Note im Geschmack.«
»Nun gut. Danke für Euren Rat. Ihr seid entlassen, ich muss das Abschiedsritual vorbereiten.«