23. Kapitel

Das Meer aus Fassungslosigkeit, das über dem Platz der Offenbarung wogte, umspülte Torokaha, überschwemmte sie. Ungläubig sah sie zu, wie der Richter ihrer Schwester sein Schwert darbot, wie die Pfeile der Palastwache sich in seinen Rücken bohrten.

Während das Volk noch blind auf das Blutgerüst starrte, sah Torokaha zur königlichen Plattform hoch. Und natürlich – Sokai stand neben der Königin, flüsterte ihr ihr Gift ins Ohr. Sokai würde es gewesen sein, die den Schussbefehl gegeben hatte. Torokaha kannte keine schmutzigere Ratte – und seit sie im dritten Ring hauste, hatte sie viele gesehen. Ihre Finger zitterten. Vielleicht war es die Wut, vielleicht auch der billige Wein, den Kohatus Mutter ihr zu trinken gab. Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Nicht, weil sie Angst gehabt hätte, entdeckt zu werden. Sie war gekleidet wie eine Besitzlose, hatte wochenlang das Leben einer Besitzlosen geführt – niemand würde die Tochter einer Königin in ihr erkennen. Doch der Anblick Sokais und deren Püppchens Hua trieb ihr Klingen in den Bauch. Am Morgen hatte sie noch gedacht, die Verurteilung Mahuikas zu verfolgen, könne ihrem flussabwärts treibenden Leben einen Halt bieten. Ihr ganzes Schicksal war mit dem ihrer Schwester verwoben, und dennoch sah sie jene heute zum ersten Mal. Wie schön sie war. Eine Erkenntnis, die Torokaha nicht half, ihre Abscheu zu zügeln. Nicht einmal, dass Mahuika ihr Leben verschont hatte, konnte sie milde stimmen. Denn Torokaha war sich sicher, dass ihre Schwester damals nicht aus Liebe, sondern aus Eigennutz gehandelt hatte. Während sie selbst bereit gewesen war, sich zu opfern, ihr Leben in die Hände Atua-Kores gegeben hatte, hatte Mahuika sich der eigenen – weit weniger fordernden – Pflicht entzogen. Hatte Torokahas Opfer verschmäht, verlacht, entweiht.

Am Morgen war Torokaha zum Platz der Offenbarung aufgebrochen, um ihre Schwester sterben zu sehen.

Jetzt jedoch schmeckte das Bühnenstück, obwohl es seinen Höhepunkt noch nicht erreicht hatte, bereits schal. Den Weinschlauch hatte sie schon geleert, bevor die Hinrichtung begonnen hatte. Sollte sie sich um Nachschub bemühen oder sich direkt aus dem Staub machen? Erst einmal runter vom Platz. Einfacher gedacht als getan, eingekeilt, wie sie war.

Während sie noch nach einer Lücke in der Menge suchte, wich deren stilles Staunen, das dem Tod des Richters gefolgt war, einer aufgekratzten Unruhe.

»Wer der Finsternis folgt«, dröhnte es aus den Trichtern, »wird ins Dunkel gehen.«

Fürs Erste gab Torokaha ihre Fluchtpläne auf, wandte sich wieder der königlichen Plattform zu. »Hauptfrau!«, Hua schien Wort für Wort zu wiederholen, was Sokai ihr einflößte, »nimm des Richters Schwert, vollende das Urteil.«

Der üppige Helmbusch Kohatus war das Erste gewesen, was Torokaha bei Betreten des Platzes entdeckt hatte. Treuloses Biest. Noch so oft konnte es behaupten, zwei Herrinnen dienen zu wollen, wie alle Menschen diente es am Ende doch nur sich selbst.

Torokaha beobachtete, wie Kohatu ihren Helm abnahm, ihn einer ihrer Offizierinnen reichte, dann die Stufen auf das Blutgerüst nahm. Mahuika sagte etwas, Kohatu antwortete – doch die Entfernung war zu groß, und die Herolde verbreiteten das Gesprochene nicht.

Wie gern hätte Torokaha noch Wein gehabt, trocken wie Dörrfleisch lag ihre Zunge im Mund. Würde Kohatu, ihre Kohatu, Mahuika wirklich töten? Der Wunsch, die Schwester tot zu sehen, war erloschen. Im Gegenteil: Torokahas eigentlicher Feind war Sokai – und mit der Hinrichtung Mahuikas würde die Sprecherin bekommen, was sie wollte. Ob Hua, die Puppe, ahnte, dass auch ihr Häuptchen nicht fester auf den Schultern saß, als Sokais Pläne mit ihr reichten?

Kohatu bückte sich, zog das Richtschwert aus den Händen seines früheren Besitzers.

Nein, erkannte Torokaha, ihre Schwester hatte sie verschont, nun war es an ihr, bei deren Hinrichtung einzuschreiten. Und sei es nur ein kleiner Stein, den sie damit Sokai in den Weg legen könnte. »Kohatu!«, rief sie, »Kohatu, halt ein!« Obwohl kaum ein Räuspern aus der Menge drang, reichte der Ruf nicht weit genug.

Kohatu richtete sich wieder auf, mit dem Schwert in der Hand trat sie neben den Stuhl, auf dem Mahuika noch immer saß.

»Kohatu!« Mit aller Kraft drückte Torokaha sich zwischen den Umstehenden hindurch, drängte sich dem Blutgerüst entgegen. Sie war nie besonders kräftig gewesen, und die weinlastige Zeit im dritten Ring hatte nicht geholfen. Die Besitzlosen vor ihr dachten nicht daran, nur einen Fingerbreit zur Seite zu weichen. »Kohatu!«, schrie sie, so laut sie es vermochte. Sie sprang und winkte, die ersten Soldaten des Rings sahen zu ihr herüber. Sie würde nichts bewirken, flackerte die Erkenntnis in ihr auf, nur ihren eigenen Tod.

Kohatu hob das Richtschwert.

Um Torokaha herum zischten die Leute ihr Beleidigungen zu, erzürnt, vom Gipfelpunkt des Tages abgelenkt zu werden. »Kohatu!«, schrie sie, von einer dunklen Besessenheit gepackt. Sie würde ihrem Leben die Bedeutsamkeit verleihen, die es verdiente, zu jedwedem Preis.

Kohatu sah sie an. Neben ihr schwebte das Schwert, bereit zum tödlichen Schlag. »Nein!«, schrie Torokaha so laut, dass ihre Stimmbänder zerreißen wollten.

Wie ein Bote der Finsternis hing das Schwert über Mahuika.

»Ich bin es, Torokaha – warte!«

Trotz der Entfernung sah sie das Erkennen in Kohatus Augen aufflammen. Auch Mahuika drehte den Kopf, doch Torokaha konnte sie nicht beachten. »Tu es nicht!«, schrie sie stattdessen der Soldatin zu, die ihr Treue bis in den Tod geschworen hatte. »Kohatu, du ...«

Kohatu schwang das Schwert, die Klinge flog wie von selbst, eine Bewegung vollendeter Fechtkunst. So billig, wie eine Melone, die vom Karren eines Obsthändlers rollte, fiel Mahuikas Kopf. Der Rumpf kippte zur Seite, dann hielt die Armlehne des Richtstuhls ihn auf.

Ihr letztes Wort blieb Torokaha in der Kehle stecken, ihre Brust zog sich zusammen. Ihr Kopf dröhnte, als sei sie selbst getroffen. Verrat. Wieder. Sie wusste, dass Kohatu sie gesehen hatte. Hatte sie gesehen und sich abgewandt. Die Welt war finster, und keine Göttin konnte hell genug strahlen, dass sie licht werden würde. Soldaten lösten sich aus dem Ring, näherten sich. Torokaha wich zurück, mehr Instinkt als bewusste Entscheidung, wand sich zwischen Feldarbeitern und Handwerkerinnen hindurch, harmlosen Menschen mit Hoffnung. Ohne sich umzusehen, ohne zu wissen, ob die Soldaten sie noch verfolgten, erreichte sie die Straße, die zum ersten Tor führte. Hier war bereits viel Bewegung, die Pflichten des Alltags erledigten sich nicht von allein, Essen mussten geschürt, Seile gedreht, Marktstände aufgebaut werden. Alltag – Torokaha hatte nie einen gehabt, und sie würde nie einen haben. Sie ging, doch sie wusste nicht, wohin. Überrascht merkte sie, dass sie vor der Hütte von Kohatus Mutter stand. Sie klopfte, niemand öffnete. Sie hatte keinen Schlüssel. Hier konnte sie nicht bleiben. Weder hier noch irgendwo sonst in Ranui gab es noch einen Platz für sie. Sie musste fort, so, wie sie es von Anfang an vorgehabt hatte. Wäre sie doch gleich gegangen, hätte sie sich doch von Kohatus Warnungen nicht aufhalten lassen. Sie trug nichts am Leibe als ein grobes Kleid und einen leeren Weinschlauch. Wie weit käme sie damit? Spielte es eine Rolle? Sie würde solange wandern, bis ihre Beine versagten. An Ort und Stelle würde sie sich schlafen legen, und wenn sie nicht wieder aufwachen sollte, so wäre es gut.

Wenn man die Finsternis bereits geschaut hatte, verlor der Tod seinen Schrecken.