22. Kapitel
In den Nächten, bevor es ein Urteil zu vollstrecken galt, konnte Richter nicht schlafen. Das war schon immer so gewesen, er hatte sich daran gewöhnt. Wer den Tod berührte, hatte einen Preis zu zahlen. Richters Großvater hatte Mückenstiche so lange aufgekratzt, bis sich Geschwüre gebildet hatten, an denen er jämmerlich verendet war. Richters Vater hatte irgendwann aufgehört zu essen. Während einer Winternacht stürzte er auf dem Weg zum Abort und kam nicht mehr hoch, am Morgen fand man seinen steifgefrorenen Leib. Im Vergleich dazu waren ein paar schlaflose Stunden keine große Sache, fand Richter.
Doch diesmal war es anders. Neben ihm atmete seine Frau, gleichmäßig hob und senkte sich ihr gewölbter Bauch, der das Kind barg, von dem die Münzen sagten, dass es leben würde. Er hatte den Mandrêb nicht angefasst, vielmehr war jener es gewesen, der ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte – ein glückspendendes Zeichen.
Nein, eine andere Sorge nagte an seinem Gemüt. Was wäre, wenn die Königin ihm befehlen sollte, die Gefallene zu richten? Die Finsternis würde ihn verschlingen, wenn er sich dem Befehl widersetzte. Aber der Mandrêb hatte es bestätigt, die Gefallene hatte einen neuen Gott gefunden. Wie könnte er die Erwählte eines Gottes töten?
Vor dem Morgengrauen verließ er die Schlafkammer. Atua-Kore hatte ihr Auge noch nicht geöffnet, als er über den Platz der Offenbarung eilte. Noch lag die riesige Fläche verlassen im violetten Licht der Dämmerung. Nur das Blutgerüst in seiner Mitte kündete von der Bedeutung des anbrechenden Tages. Am Rand des Platzes wurde die Tribüne für die Satrapanim errichtet.
Im Tempelverlies überprüfte Richter die geistige Verfasstheit der vier Beschuldigten. Bis auf Asil waren alle bei Kräften, hatten ihre Schuld rasch genug zugegeben, um eine gründlichere Befragung überflüssig zu machen. Er reichte ihnen die Bußgewänder in die Zellen und überließ es den Wachen, das Gnadenmahl auszuteilen.
Er ging zurück zum Platz der Offenbarung und sah zu, wie die Akolythinnen das Blutgerüst mit den magischen Zeichen der Vergebung bemalten. Inzwischen waren die ersten Besitzlosen da; es gab immer einige, die schon nachts vor den Toren der inneren Ringe ausharrten, um die besten Plätze zu ergattern. Nachdem die Akolythinnen mit ihren Zeichen fertig waren, ging er zurück in seine Wohnung im zweiten Ring, aß mit seiner Frau zu Mittag und bat sie, dem Urteil fern zu bleiben. Sie versprach es.
Als er sich nun zum zweiten Mal auf den Weg zum Platz der Offenbarung machte, strömte alles um ihn her in dieselbe Richtung. Der Trubel verstörte ihn. Ein göttliches Urteil sollte gesprochen werden, doch die Leute lärmten und lachten, als seien sie auf dem Weg zu einem Freudenfest. Händlerinnen mit Bauchläden priesen heiser ihre Waren an, Kinder versuchten Beutel zu schneiden, Bauern nahmen ihre löchrigen Strohhüte ab, während sie zum ersten Mal in ihrem Leben der Pracht des inneren Kreises gewahr wurden.
Vor der Tempelpyramide hatte sich eine doppelte Reihe Palastgardisten aufgestellt. Das hieß, die Königin war bereits eingetroffen, bereitete sich im Allerheiligsten auf das Urteil vor.
Richter sputete sich, die Reinigungskammer zu erreichen. Nachdem er sich gewaschen hatte, legte er das Richtgewand an. Das Schwert hatte er schon am Vortag geschliffen und gesalbt, düster nahm er es aus der Halterung. Kein Richter, hieß es, konnte leben, ohne irgendwann den kühlen Atem der Finsternis im Genick zu spüren, und heute war es auch für ihn soweit. Er kniete sich hin, legte das Schwert vor sich auf den Boden und betete um Licht.
Die Fanfaren ertönten. Richter erhob sich mitsamt dem Schwert und trat auf den Platz der Offenbarung. Dieser war so voll, dass man beide Beine hätte verlieren können und trotzdem nicht gefallen wäre. Bis in die umliegenden Straßen staute sich die Menge.
Doch als Richter auf das Blutgerüst zuschritt, bildete sich wie von Zauberhand eine Gasse. Niemand von klarem Verstand hätte es gewagt, Richter am heutigen Tage zu berühren. Auch das Blutgerüst war inzwischen von einem doppelten Ring Soldaten geschützt. Sie traten zur Seite, Richter nahm die Stufen das Podest hinauf. Er schlug das Zeichen der Vergebung, dann drehte er sich zum Tempel und wartete.
Ein zweiter Fanfarenstoß kündigte das Erscheinen der Königin an. Die Menge warf die Köpfe in den Nacken, blickte erwartungsvoll zu den drei geländerfreien Plattformen, die in schwindelerregender Höhe aus der Pyramide ragten. Auf den beiden seitlichen, kleineren Plattformen standen bereits die Herolde an ihren Trichtern, auf der mittleren befand sich nur ein leerer Thron. Doch nun zeigte sich dort die greise Hohepriesterin Amokapua, der Mund Atua-Kores. Ihr folgte Kaïkopura, die Hand Atua-Kores. Hinter ihr Sokai, die erhabene Sprecherin des Hohen Rates. Und dann, schließlich, in strahlendem Gold, erschien die Erwählte der Göttin, Königin Hua, vor ihrem Volk, setzte sich auf den Thron. Die Menge brach in ohrenbetäubenden Jubel aus. Minutenlang dröhnte die Begeisterung von hunderttausend Kehlen dem Himmel entgegen.
Die Königin hob die Hand, die Menge verstummte.
Die Lippen der Königin bewegten sich, einen Augenblick später schallte es aus den Trichtern der Herolde: »Mein Volk. Ich danke der Göttin, euch dienen zu dürfen.«
Erneuter Jubel.
»Kein Amt ist schwerer, doch seid unbesorgt. Denn die Göttin schenkt mir ihr Licht.«
Die Worte waren vorgegeben, dennoch lärmte das Volk aus vollem Halse.
Hua war die dritte Königin, unter welcher Richter seine Pflicht vollführte. Wie jung sie aussah. Ob ihre Jugend ihr ein mildes Gemüt verschaffte? Seine Arbeit war maßgeblich davon beeinflusst, wer auf dem Goldenen Thron saß.
»Heute aber ist es die Finsternis, derentwegen wir uns versammelt haben.« Die Königin schlug das Schutzzeichen wider die vollkommene Finsternis, auf dem ganzen Platz tat man es ihr nach.
»Man bringe den Beschuldigten Sibin, Sohn des Kar, Feinweber.«
Vier Wachen brachten den Bezeichneten. Es war eine undankbare Aufgabe, denn die Menge fluchte und schrie, spie den Beschuldigten an, warf faules Gemüse – und weit häufiger als das eigentliche Ziel wurden die ihn umgebenden Wachen getroffen. Trotzdem war es Richter bewusst, dass sie für tausend Goldstücke nicht mit ihm hätten tauschen wollen.
»Sibin, du hast deinen Bruder Asil vor dem Blick Atua-Kores verborgen, ist das wahr?«
Mit tränennassen Wangen starrte der Gefragte auf den Richtstuhl, Richter hätte nicht sagen können, ob der Mann die Frage überhaupt wahrgenommen hatte.
Neben dem Blutgerüst stand ebenfalls ein Herold, der nun seinen Genossen auf den Plattformen die entsprechenden Zeichen anzeigte.
»Der Beschuldigte bestätigt«, dröhnte es sogleich aus den Trichtern, »es ist wahr.«
»Wer einen Feind des Reiches beherbergt, wird selbst zum Feind des Reiches. Tod durch das Schwert.«
Die Wachen packten den Mann, banden ihn auf den Richtstuhl. Jetzt kann Leben in ihn, er schrie und schlug um sich, leugnete, Asil geholfen zu haben, es war zu spät. Richter führte den Schlag, er brachte das Schwert fehlerlos ins Ziel, sauber abgetrennt fiel der Kopf des Gerichteten, traf dumpf auf dem Bretterboden auf. Wie aus der Ferne hörte Richter den Jubel der Menge.
Nachdem die Wachen den Leichnam von der Verkündigungsplattform gezehrt hatten, ertönte es aus den Trichtern: »Man bringe den Beschuldigten Asil, Sohn des Kar, Schwertmann zweiten Ranges, Bannerträger der Palastwache.«
Asil litt nach wie vor unter den Nachwirkungen der Befragung, hätten die Wachen ihn nicht gehalten, wäre er wohl gestürzt. Doch im Vergleich zu seinem schmächtigen Bruder wirkte der drahtige Körper noch immer eindrucksvoll. Allein seine Gesichtszüge verrieten die Verwandtschaft. Mit einem Tuch, das er sich zuvor bereitgelegt hatte, säuberte Richter sein Schwert.
Als die Gruppe auf der Plattform stand, dröhnte es über den Platz. »Asil, im Auftrag Torokahas hast du unter Bannerführer Deris nach der Gefallenen gesucht, ist das wahr?«
Der Elende nickte.
Der Herold gab das Zeichen, damit die Trichter verkünden konnten: »Der Beschuldigte bestätigt: Es ist wahr.«
»Du sagst, ein Gott habe die Gefallene geschützt, ist das wahr?«
Verzweifelt sah Asil sich nach einem Ausweg um. Es gab keinen. Der Herold gab das Zeichen, aus den Trichtern erscholl in auswegloser Klarheit: »Der Beschuldigte bestätigt: Es ist wahr.«
»Du hast deine Königin verraten. Doch was weit schwerer wiegt: Du hast deine Göttin geschmäht. Tod durch das Schwert.«
Der Verurteilte stammelte hilflose Bitten, aber der Herold verzichtete darauf, sie weiterzugeben, die Trichter blieben stumm. Die Wachen banden Asil auf den Richtstuhl, traten zurück.
»Richter«, flehte Asil den Einzigen an, der noch neben ihm stand, »Ihr wisst, dass ich die Wahrheit sage. Setzt Euch für mich ein!«
»Ich kann nicht«, murmelte Richter und hob sein Schwert. Seine Hände waren schwitzig, schwitziger als sonst.
Asils Augen weiteten sich im Grauen der Erkenntnis, dass nur noch die Leere käme. »Wie könnt Ihr das?«, flüsterte er, »töten für eine Göttin, die Ihr nicht versteht?«
Richter führte den Schlag. So sauber wie zuvor, mit einem Schmatzen traf der Kopf auf den Bretterboden. Das Tosen der Menge war markerschütternd. Richters Gewand klebte schweißnass am Rücken.
»Man bringe die Beschuldigte Pehu, Tochter der Lihu, Schwertmeisterin ersten Ranges, Truppenführerin der Palastwache.«
Ein erwartungsvolles Raunen wogte durch die Menge, Hälse streckten sich. Richter ahnte, wieso; die Palastwache war beim Volk wenig beliebt – eine Truppenführerin auf dem Blutgerüst zu sehen, dürfte vielen der Anwesenden eine besondere Genugtuung bereiten. Als die Beschuldigte herbeigeführt wurde, prasselte der Unrat wie Hagel auf sie ein. Doch ihr Gang war aufrecht. Frei ging sie zwischen ihren Wachen; ein letztes Zeichen der Achtung, die jene ihr zollten. Als sie den Ring der Soldaten durchschritt, legten diese die Faust an die Brust. Das Volk tobte vor Verachtung. Im Schutz der Masse zeigte sich mancher Hass, der sonst verborgen geblieben wäre. Für manche Beleidigung, die den Soldaten entgegengeschleudert wurde, hatte Richter unter anderen Umständen bereits Zungen herausgeschnitten.
Ein Tuch hatte sich über seine Sinne gelegt. Wie könne er für eine Göttin töten, die er nicht verstehe? Was für eine sinnlose Frage. Richter war keine Priesterin, es war nicht seine Aufgabe, den Willen der Göttin zu deuten. Aber warum vergifteten diese bedeutungslosen Worte eines Todgeweihten dann seine Gedanken?
»Pehu, du hast deinen Schwertmann Asil vor dem Blick Atua-Kores verborgen, ist das wahr?«
»Nein. Asil war ein tapferer Soldat und ein guter Mensch. Ich habe versucht, ihn vor der Rache des Reiches zu schützen, nicht vor dem Blick der Göttin.« Aufruhr unter denjenigen, die nah genug standen, um die Worte zu hören. Pehu musste ihre Stimme heben, um den Lärm zu übertönen: »Euer Urteil empfange ich gelassen, denn ich weiß, dass ich das Urteil meiner Göttin nicht fürchten ...« Die Menge brüllte sie nieder.
Neben dem Blutgerüst gab der Herold sein Zeichen, die Trichter verkündeten: »Die Beschuldigte bestätigt: Es ist wahr.«
»Du hast deine Königin verraten. Doch was weit schwerer wiegt: Du hast deine Göttin geschmäht. Tod durch das Schwert.«
Die Wachen wollten Pehu ergreifen, doch sie verbat es sich, setzte sich selbst auf den Richtstuhl. Ihr Blick glitt über den Ring der Soldaten, traf den einer Offizierin mit rotem Helmbusch, die im Gegensatz zu ihren Untergebenen nicht mit dem Rücken zum Podest stand. Die Offizierin nickte ihr zu. Pehu nickte zurück, dann wandte sie sich an Richter. »Bringt es zu Ende.«
Der Sommer war noch fern, trotzdem spürte Richter glühend heiß Atua-Kores Blick in seinem Nacken. Ahnte die Göttin, dass die Finsternis mit der Saat des Zweifels über ihn gekommen war? Er hätte ein Schutzzeichen schlagen müssen, doch dazu hätte er das Schwert mit einer Hand halten müssen. Richter dachte an sein ungeborenes Kind. Der Münzwurf war günstig gewesen, aber würde die Goldene ihm verzeihen, wenn sein Glaube wankte?
Ungeduldige Schreie aus der Menge holten ihn in die Gegenwart zurück. Eilig führte er den Schlag. Im selben Moment drehte Pehu den Kopf, das Schwert streifte das Kinn, die Schneide traf den Hals im falschen Winkel, blieb stecken. Richter zog mit Gewalt am Schwert, doch er konnte es nicht lösen, stattdessen riss er Pehu aus dem Stuhl, mit einer Wucht, die ihn so überraschte, dass er selbst zu Boden ging. Nur eine Handbreit neben ihm Pehus Gesicht, die Augen verdreht, der Mund japsend wie der eines Fisches, aus dem Hals sprudelte das Blut. Richter rappelte sich auf, jetzt bekam er das Schwert frei, hieb auf die am Boden Liegende ein, zweimal, dreimal, dann war die Wirbelsäule durchtrennt, ein letzter Schlag, das Werk war vollbracht, in kaltem Entsetzen taumelte Richter zurück.
Richter war allein in einer Welt von Blut. Ein blutiger Schleier vor seinen Augen, ein blutiges Rauschen in seinen Ohren, Blut an seinen Händen, Blut auf seinen Lippen. Seine Frau, sein Kind, er sah sie vor sich, dabei waren sie doch zu Hause geblieben, er hatte sie darum gebeten. So viele Gesichter, überall, gehörten sie seiner Frau, er wusste es nicht, er flehte die Goldene um Antworten an, doch seine Göttin blieb stumm. Das Rauschen schwoll an, bildete einen Strudel, der ihn hinabriss in die Dunkelheit, er wollte das Schutzzeichen schlagen, doch seine Hände klebten zusammen vor Blut.
Das Rauschen wandelte sich zu einem Kreischen, wurde menschlicher, Stimmen ließen sich unterscheiden. Die Fratzen, die auf Richter eindrangen, entzerrten sich, nahmen menschliche Züge an, gewöhnliche, bedeutungslose Züge gewöhnlicher, bedeutungsloser Menschen. Wie erwachend drehte sich Richter auf seinem Podest, erkannte die Tempelpyramide, den Platz der Offenbarung, das jubelnde Volk. Jubel ... ja ... das Volk jubelte. Pehu, die mutigste Frau, die je vor sein Richtschwert geführt worden war – wie ein betrunkener Metzger hatte er sie geschlachtet. Und das Volk jubelte. Richter verstand die Pflicht, ein Leben zu beenden, das sich der Finsternis verschrieben hatte. Aber es war eine ernste Pflicht, so furchtbar wie heilig. Und dieses – Atua-Kores auserwähltes – Volk empfand nicht etwa scheue Betroffenheit, sondern Rausch.
»Man bringe die Beschuldigte Mahuika, Tochter der Haika, Gefallene aus dem Hause Laki.«
Der Platz war still wie der Tod. Als Mahuika zum Blutgerüst geführt wurde, flog nicht die kleinste Zwiebel, kein Fluch wurde nur geflüstert. Die Kronprinzessin war gefallen, war nie Königin gewesen – doch sie war die Tochter Haikas aus dem Hause Atua-Kore; wer konnte sagen, ob die magische Kraft der Mutter sich nicht doch auf die Tochter übertragen hatte. Richter hatte noch nie die Tochter einer Königin von Nahem gesehen. Die gefallene Prinzessin war zierlich, das graue Bußgewand reichte ihr fast zu den Knöcheln; wie es Vorschrift war, ging sie barfuß. Ihr Haar war zu einem festen Zopf geflochten, kein Schmuck und keine Schminke zierte das bleiche Gesicht. Doch Richter hatte nie eine hoheitsvollere Schönheit gesehen.
Mit offenem Mund bestaunte er die feinen Glieder, das von einer Meisterin gemalte Gesicht, den anmutigen Gang. Wie bei Sibin rannen Tränen ihre Wangen hinab, doch ihr Blick war wach, war so gefasst, als fochten die niederen Regungen des Leibes sie nicht an. Die Wachen folgten ihr in ehrfurchtsvollem Abstand. Mit festem Schritt bestieg sie das Podest, drehte sich ohne Hast dem Tempel zu.
»Mahuika, du leugnest die Allmacht deiner Göttin, ist das wahr?«
Der gesamte Platz hielt den Atem an. Nie hatte das Volk eine schrecklichere Anklage gehört.
»Gott ist dort, wo Dankbarkeit ist und Vergebung«, sagte die Gefallene, und in der atemlosen Stille trug ihre Stimme weit. »Das Bedürfnis zu Herrschen entspringt der Unfähigkeit zur Liebe. Macht ist Gefängnis.«
Der Herold zögerte, ratlos, welche Nachricht er seinen Genossen auf den Plattformen übermitteln sollte.
Was die Königin sagte, schluckte die Weite des Himmels, doch schon dröhnte es aus den Trichtern: »Du sagst, du hast dich einem fremden Gott angedient, ist das wahr?«
»Ich habe meinen Gott gefunden«, entgegnete die Gefallene ruhig, »und ich wünsche dir, Hua, dass du deinen findest.«
Wer die Worte gehört hatte, schlug das Schutzzeichen wider die vollkommene Finsternis, selbst die Soldaten taten es. Wer weiter entfernt stand, folgte dem Beispiel, und wie die Welle eines Steines, der in ruhiges Wasser fiel, durchlief ein Kreis von Schutzzeichen die Menge.
Oben auf der Plattform beugte sich die Sprecherin des Hohen Rates zur Königin hinunter. Diese ließ verkünden: »Atua-Kore hat uns als ihr Volk ausgewählt, und unter ihrem Auge gedeiht unser Reich. Doch wir wissen, dass es an den Rändern Tiratangas Verlorene gab und auch heute noch gibt, die fremde Mächte verehren.«
In das eine von Richters Augen war Blut gelaufen, doch er traute sich nicht, es wegzuwischen. In vollkommener Regungslosigkeit lauschte die Menge.
»Die Gefallene behauptet, sie sei Prophetin eines Gottes. Wir wissen, dass zahllose dunkle Geister nach unserer Seele greifen. Aber kann es eine göttliche Macht geben, die dem Lichte Atua-Kores ebenbürtig ist?«
Unmöglich, wusste Richter. Aber wenn es das war, warum stellte die Königin dann eine solche Frage?
»Nein«, dröhnte es aus den Trichtern. »Wer stark im Glauben ist, weiß um die Allmacht Atua-Kores. Doch wer immer unter euch sein sollte, der die Kälte der Finsternis nach sich greifen spürt, der höre.«
Die Königin hob den Arm, und aus der Tempelöffnung hinter ihr trat ein Mann, in eine leuchtende gold-blaue Robe gekleidet. Neben Richter stöhnte die Gefallene auf. Dann erkannte auch er selbst, wer dort auf die Plattform getreten war – der Wunderheiler!
»Dies ist Kidogo«, verkündete die Königin, »ein wandernder Heiler, ein Schamane des alten Wissens. Er hat die Nebelzinnen im Norden und die Wüste Charalesch im Süden bereist, die Gärten Orofars im Westen und die Inseln der Styrkur im Osten. Tritt vor, Kidogo, und sprich: Hast du auf deinen Reisen eine einzige Macht gefunden, die dem Licht Atua-Kores standzuhalten vermag?«
Der Wunderheiler rührte sich nicht, starrte bleich zu Mahuika herunter.
Die erhabene Sprecherin trat von hinten an ihn heran, flüsterte ihm etwas zu. Der Mandrêb schien noch bleicher zu werden, dann sprach er ein einziges Wort. Richter hätte die Bestätigung der Herolde nicht benötigt, um es zu deuten. »Nein.«
Die Königin erhob sich von ihrem Thron, trat nah an die Kante der Plattform. »Meine Satrapanim«, sagte sie mit kurzem Blick zur Tribüne am Rande des Platzes, »mein Volk, ihr habt es gehört. Selbst die Schamanen des alten Wissens begehren nicht mehr auf gegen Atua-Kores Macht. Nichts kann bestehen neben ihrer Herrlichkeit.« Nun sah sie direkt zum Blutgerüst herunter, Richter blieb das Herz stehen. Er brauchte einen Moment, bis er verstand, dass ihr Blick der Gefallenen galt. »Mahuika, sage dich los von der Finsternis, und du sollst die Milde der Goldenen Göttin erfahren.«
»Was macht es für einen Unterschied«, entgegnete die Angesprochene so ruhig wie zuvor, »ob du mich wegen Lästerung der Göttin hinrichten lässt, oder nur wegen Hochverrats?«
»Du würdest ins Licht gehen«, erwiderte die Königin, »und nicht ins Dunkel. Du würdest ...«
Sie wurde unterbrochen, denn der Wunderheiler redete wild auf die erhabene Sprecherin ein. Doch schon waren zwei Tempelgardisten da – Richter hatte sie nicht kommen sehen – und zerrten ihn von der Plattform.
Während die Königin noch dem Abgeführten hinterhersah, sagte die Gefallene: »Das Licht Atua-Kores blendet, doch es ist kalt.« Sie ging auf den Richtstuhl zu. Ihre bloßen Füße zeichneten kleine Abdrücke in die Blutlache, die sich davor gebildet hatte. Wie Pehu nahm sie freiwillig den Platz ein, der ihr Schicksal besiegeln sollte. »Ich war gefangen.« Sie sagte es zu sich selbst, so leise, dass selbst Richter es kaum hören konnte. »Ich werde frei sein.«
Über ihnen auf der Plattform verkündeten die Herolde: »Du hast deine Königin verraten. Doch was weit schwerer wiegt: Du hast deine Göttin geschmäht. Tod durch das Schwert.«
Nun war es soweit. Richter musste tun, was er befürchtet hatte. Musste die Erwählte eines Gottes töten. Der Wunderheiler hatte es bestätigt, vor drei Tagen, im Befragungsraum: Die Erde war aufgerissen, wie Asil es berichtet hatte, der Gott Alateon hatte sein gekröntes Haupt erhoben, um Mahuika zu schützen. Dass der Wunderheiler jetzt, vor aller Augen, in Gold und Seide gekleidet, das Gegenteil behauptet hatte, konnte Richter nicht täuschen. Das Licht Atua-Kores blendete, ja, so war es, die Prophetin sagte die Wahrheit. Der Wunderheiler war dem falschen Glanz der Goldenen verfallen, wie die Königin, die Priesterinnen, ganz Ranui.
»Beginnt«, befahl die Königin.
Doch was hatte sie ihm zu befehlen, sie war bloß die Erwählte Atua-Kores, die Erwählte einer Blenderin, und er, Richter, hatte sie durchschaut. In der Blutlache, die er selbst verschuldet hatte, kniete er vor dem Richtstuhl nieder, und Friede erfasste ihn. Das Blut, das sein Gewand durchtränkte, war das letzte, das von seiner Hand vergossen worden wäre.
Mit dem Blick der Entrückten sah die Prophetin ihn an. »Was tust du?«
Richter legte ihr sein Schwert zu Füßen. »Ich bitte Euch um Gnade, Herrin.«
»Du suchst die Gnade meines Gottes?« Die Prophetin sah ihn lange an. »In einer Welt ohne Herrschaft gibt es keine Schuld. Der einzige, der dir verzeihen kann, bist du selbst.«
Ein langer, spitzer Schmerz drang ihm in den Rücken. Dann ein zweiter, ein dritter. Pfeile der Palastwache. Richter griff nach dem Stuhl, doch erreichte ihn nicht mehr, kippte in die Blutlache. Der feuchte Boden war angenehm kühl. Mein Kind, dachte er, der Münzwurf war günstig, wirst du leben? Wirst du mir verzeihen? In einer Welt ohne Herrschaft gibt es keine Schuld, sagte die Prophetin. So sehr wünschte sich Richter, dass sie recht hatte, so sehr.
Weitere Kapitel:
In den Nächten, bevor es ein Urteil zu vollstrecken galt, konnte Richter nicht schlafen. Das war schon immer so gewesen, er hatte sich daran gewöhnt. Wer den Tod berührte, hatte einen Preis zu zahlen. Richters Großvater hatte Mückenstiche so lange aufgekratzt, bis sich Geschwüre gebildet hatten, an denen er jämmerlich verendet war. Richters Vater hatte irgendwann aufgehört zu essen. Während einer Winternacht stürzte er auf dem Weg zum Abort und kam nicht mehr hoch, am Morgen fand man seinen steifgefrorenen Leib. Im Vergleich dazu waren ein paar schlaflose Stunden keine große Sache, fand Richter.
Doch diesmal war es anders. Neben ihm atmete seine Frau, gleichmäßig hob und senkte sich ihr gewölbter Bauch, der das Kind barg, von dem die Münzen sagten, dass es leben würde. Er hatte den Mandrêb nicht angefasst, vielmehr war jener es gewesen, der ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte – ein glückspendendes Zeichen.
Nein, eine andere Sorge nagte an seinem Gemüt. Was wäre, wenn die Königin ihm befehlen sollte, die Gefallene zu richten? Die Finsternis würde ihn verschlingen, wenn er sich dem Befehl widersetzte. Aber der Mandrêb hatte es bestätigt, die Gefallene hatte einen neuen Gott gefunden. Wie könnte er die Erwählte eines Gottes töten?
Vor dem Morgengrauen verließ er die Schlafkammer. Atua-Kore hatte ihr Auge noch nicht geöffnet, als er über den Platz der Offenbarung eilte. Noch lag die riesige Fläche verlassen im violetten Licht der Dämmerung. Nur das Blutgerüst in seiner Mitte kündete von der Bedeutung des anbrechenden Tages. Am Rand des Platzes wurde die Tribüne für die Satrapanim errichtet.
Im Tempelverlies überprüfte Richter die geistige Verfasstheit der vier Beschuldigten. Bis auf Asil waren alle bei Kräften, hatten ihre Schuld rasch genug zugegeben, um eine gründlichere Befragung überflüssig zu machen. Er reichte ihnen die Bußgewänder in die Zellen und überließ es den Wachen, das Gnadenmahl auszuteilen.
Er ging zurück zum Platz der Offenbarung und sah zu, wie die Akolythinnen das Blutgerüst mit den magischen Zeichen der Vergebung bemalten. Inzwischen waren die ersten Besitzlosen da; es gab immer einige, die schon nachts vor den Toren der inneren Ringe ausharrten, um die besten Plätze zu ergattern. Nachdem die Akolythinnen mit ihren Zeichen fertig waren, ging er zurück in seine Wohnung im zweiten Ring, aß mit seiner Frau zu Mittag und bat sie, dem Urteil fern zu bleiben. Sie versprach es.
Als er sich nun zum zweiten Mal auf den Weg zum Platz der Offenbarung machte, strömte alles um ihn her in dieselbe Richtung. Der Trubel verstörte ihn. Ein göttliches Urteil sollte gesprochen werden, doch die Leute lärmten und lachten, als seien sie auf dem Weg zu einem Freudenfest. Händlerinnen mit Bauchläden priesen heiser ihre Waren an, Kinder versuchten Beutel zu schneiden, Bauern nahmen ihre löchrigen Strohhüte ab, während sie zum ersten Mal in ihrem Leben der Pracht des inneren Kreises gewahr wurden.
Vor der Tempelpyramide hatte sich eine doppelte Reihe Palastgardisten aufgestellt. Das hieß, die Königin war bereits eingetroffen, bereitete sich im Allerheiligsten auf das Urteil vor.
Richter sputete sich, die Reinigungskammer zu erreichen. Nachdem er sich gewaschen hatte, legte er das Richtgewand an. Das Schwert hatte er schon am Vortag geschliffen und gesalbt, düster nahm er es aus der Halterung. Kein Richter, hieß es, konnte leben, ohne irgendwann den kühlen Atem der Finsternis im Genick zu spüren, und heute war es auch für ihn soweit. Er kniete sich hin, legte das Schwert vor sich auf den Boden und betete um Licht.
Die Fanfaren ertönten. Richter erhob sich mitsamt dem Schwert und trat auf den Platz der Offenbarung. Dieser war so voll, dass man beide Beine hätte verlieren können und trotzdem nicht gefallen wäre. Bis in die umliegenden Straßen staute sich die Menge.
Doch als Richter auf das Blutgerüst zuschritt, bildete sich wie von Zauberhand eine Gasse. Niemand von klarem Verstand hätte es gewagt, Richter am heutigen Tage zu berühren. Auch das Blutgerüst war inzwischen von einem doppelten Ring Soldaten geschützt. Sie traten zur Seite, Richter nahm die Stufen das Podest hinauf. Er schlug das Zeichen der Vergebung, dann drehte er sich zum Tempel und wartete.
Ein zweiter Fanfarenstoß kündigte das Erscheinen der Königin an. Die Menge warf die Köpfe in den Nacken, blickte erwartungsvoll zu den drei geländerfreien Plattformen, die in schwindelerregender Höhe aus der Pyramide ragten. Auf den beiden seitlichen, kleineren Plattformen standen bereits die Herolde an ihren Trichtern, auf der mittleren befand sich nur ein leerer Thron. Doch nun zeigte sich dort die greise Hohepriesterin Amokapua, der Mund Atua-Kores. Ihr folgte Kaïkopura, die Hand Atua-Kores. Hinter ihr Sokai, die erhabene Sprecherin des Hohen Rates. Und dann, schließlich, in strahlendem Gold, erschien die Erwählte der Göttin, Königin Hua, vor ihrem Volk, setzte sich auf den Thron. Die Menge brach in ohrenbetäubenden Jubel aus. Minutenlang dröhnte die Begeisterung von hunderttausend Kehlen dem Himmel entgegen.
Die Königin hob die Hand, die Menge verstummte.
Die Lippen der Königin bewegten sich, einen Augenblick später schallte es aus den Trichtern der Herolde: »Mein Volk. Ich danke der Göttin, euch dienen zu dürfen.«
Erneuter Jubel.
»Kein Amt ist schwerer, doch seid unbesorgt. Denn die Göttin schenkt mir ihr Licht.«
Die Worte waren vorgegeben, dennoch lärmte das Volk aus vollem Halse.
Hua war die dritte Königin, unter welcher Richter seine Pflicht vollführte. Wie jung sie aussah. Ob ihre Jugend ihr ein mildes Gemüt verschaffte? Seine Arbeit war maßgeblich davon beeinflusst, wer auf dem Goldenen Thron saß.
»Heute aber ist es die Finsternis, derentwegen wir uns versammelt haben.« Die Königin schlug das Schutzzeichen wider die vollkommene Finsternis, auf dem ganzen Platz tat man es ihr nach.
»Man bringe den Beschuldigten Sibin, Sohn des Kar, Feinweber.«
Vier Wachen brachten den Bezeichneten. Es war eine undankbare Aufgabe, denn die Menge fluchte und schrie, spie den Beschuldigten an, warf faules Gemüse – und weit häufiger als das eigentliche Ziel wurden die ihn umgebenden Wachen getroffen. Trotzdem war es Richter bewusst, dass sie für tausend Goldstücke nicht mit ihm hätten tauschen wollen.
»Sibin, du hast deinen Bruder Asil vor dem Blick Atua-Kores verborgen, ist das wahr?«
Mit tränennassen Wangen starrte der Gefragte auf den Richtstuhl, Richter hätte nicht sagen können, ob der Mann die Frage überhaupt wahrgenommen hatte.
Neben dem Blutgerüst stand ebenfalls ein Herold, der nun seinen Genossen auf den Plattformen die entsprechenden Zeichen anzeigte.
»Der Beschuldigte bestätigt«, dröhnte es sogleich aus den Trichtern, »es ist wahr.«
»Wer einen Feind des Reiches beherbergt, wird selbst zum Feind des Reiches. Tod durch das Schwert.«
Die Wachen packten den Mann, banden ihn auf den Richtstuhl. Jetzt kann Leben in ihn, er schrie und schlug um sich, leugnete, Asil geholfen zu haben, es war zu spät. Richter führte den Schlag, er brachte das Schwert fehlerlos ins Ziel, sauber abgetrennt fiel der Kopf des Gerichteten, traf dumpf auf dem Bretterboden auf. Wie aus der Ferne hörte Richter den Jubel der Menge.
Nachdem die Wachen den Leichnam von der Verkündigungsplattform gezehrt hatten, ertönte es aus den Trichtern: »Man bringe den Beschuldigten Asil, Sohn des Kar, Schwertmann zweiten Ranges, Bannerträger der Palastwache.«
Asil litt nach wie vor unter den Nachwirkungen der Befragung, hätten die Wachen ihn nicht gehalten, wäre er wohl gestürzt. Doch im Vergleich zu seinem schmächtigen Bruder wirkte der drahtige Körper noch immer eindrucksvoll. Allein seine Gesichtszüge verrieten die Verwandtschaft. Mit einem Tuch, das er sich zuvor bereitgelegt hatte, säuberte Richter sein Schwert.
Als die Gruppe auf der Plattform stand, dröhnte es über den Platz. »Asil, im Auftrag Torokahas hast du unter Bannerführer Deris nach der Gefallenen gesucht, ist das wahr?«
Der Elende nickte.
Der Herold gab das Zeichen, damit die Trichter verkünden konnten: »Der Beschuldigte bestätigt: Es ist wahr.«
»Du sagst, ein Gott habe die Gefallene geschützt, ist das wahr?«
Verzweifelt sah Asil sich nach einem Ausweg um. Es gab keinen. Der Herold gab das Zeichen, aus den Trichtern erscholl in auswegloser Klarheit: »Der Beschuldigte bestätigt: Es ist wahr.«
»Du hast deine Königin verraten. Doch was weit schwerer wiegt: Du hast deine Göttin geschmäht. Tod durch das Schwert.«
Der Verurteilte stammelte hilflose Bitten, aber der Herold verzichtete darauf, sie weiterzugeben, die Trichter blieben stumm. Die Wachen banden Asil auf den Richtstuhl, traten zurück.
»Richter«, flehte Asil den Einzigen an, der noch neben ihm stand, »Ihr wisst, dass ich die Wahrheit sage. Setzt Euch für mich ein!«
»Ich kann nicht«, murmelte Richter und hob sein Schwert. Seine Hände waren schwitzig, schwitziger als sonst.
Asils Augen weiteten sich im Grauen der Erkenntnis, dass nur noch die Leere käme. »Wie könnt Ihr das?«, flüsterte er, »töten für eine Göttin, die Ihr nicht versteht?«
Richter führte den Schlag. So sauber wie zuvor, mit einem Schmatzen traf der Kopf auf den Bretterboden. Das Tosen der Menge war markerschütternd. Richters Gewand klebte schweißnass am Rücken.
»Man bringe die Beschuldigte Pehu, Tochter der Lihu, Schwertmeisterin ersten Ranges, Truppenführerin der Palastwache.«
Ein erwartungsvolles Raunen wogte durch die Menge, Hälse streckten sich. Richter ahnte, wieso; die Palastwache war beim Volk wenig beliebt – eine Truppenführerin auf dem Blutgerüst zu sehen, dürfte vielen der Anwesenden eine besondere Genugtuung bereiten. Als die Beschuldigte herbeigeführt wurde, prasselte der Unrat wie Hagel auf sie ein. Doch ihr Gang war aufrecht. Frei ging sie zwischen ihren Wachen; ein letztes Zeichen der Achtung, die jene ihr zollten. Als sie den Ring der Soldaten durchschritt, legten diese die Faust an die Brust. Das Volk tobte vor Verachtung. Im Schutz der Masse zeigte sich mancher Hass, der sonst verborgen geblieben wäre. Für manche Beleidigung, die den Soldaten entgegengeschleudert wurde, hatte Richter unter anderen Umständen bereits Zungen herausgeschnitten.
Ein Tuch hatte sich über seine Sinne gelegt. Wie könne er für eine Göttin töten, die er nicht verstehe? Was für eine sinnlose Frage. Richter war keine Priesterin, es war nicht seine Aufgabe, den Willen der Göttin zu deuten. Aber warum vergifteten diese bedeutungslosen Worte eines Todgeweihten dann seine Gedanken?
»Pehu, du hast deinen Schwertmann Asil vor dem Blick Atua-Kores verborgen, ist das wahr?«
»Nein. Asil war ein tapferer Soldat und ein guter Mensch. Ich habe versucht, ihn vor der Rache des Reiches zu schützen, nicht vor dem Blick der Göttin.« Aufruhr unter denjenigen, die nah genug standen, um die Worte zu hören. Pehu musste ihre Stimme heben, um den Lärm zu übertönen: »Euer Urteil empfange ich gelassen, denn ich weiß, dass ich das Urteil meiner Göttin nicht fürchten ...« Die Menge brüllte sie nieder.
Neben dem Blutgerüst gab der Herold sein Zeichen, die Trichter verkündeten: »Die Beschuldigte bestätigt: Es ist wahr.«
»Du hast deine Königin verraten. Doch was weit schwerer wiegt: Du hast deine Göttin geschmäht. Tod durch das Schwert.«
Die Wachen wollten Pehu ergreifen, doch sie verbat es sich, setzte sich selbst auf den Richtstuhl. Ihr Blick glitt über den Ring der Soldaten, traf den einer Offizierin mit rotem Helmbusch, die im Gegensatz zu ihren Untergebenen nicht mit dem Rücken zum Podest stand. Die Offizierin nickte ihr zu. Pehu nickte zurück, dann wandte sie sich an Richter. »Bringt es zu Ende.«
Der Sommer war noch fern, trotzdem spürte Richter glühend heiß Atua-Kores Blick in seinem Nacken. Ahnte die Göttin, dass die Finsternis mit der Saat des Zweifels über ihn gekommen war? Er hätte ein Schutzzeichen schlagen müssen, doch dazu hätte er das Schwert mit einer Hand halten müssen. Richter dachte an sein ungeborenes Kind. Der Münzwurf war günstig gewesen, aber würde die Goldene ihm verzeihen, wenn sein Glaube wankte?
Ungeduldige Schreie aus der Menge holten ihn in die Gegenwart zurück. Eilig führte er den Schlag. Im selben Moment drehte Pehu den Kopf, das Schwert streifte das Kinn, die Schneide traf den Hals im falschen Winkel, blieb stecken. Richter zog mit Gewalt am Schwert, doch er konnte es nicht lösen, stattdessen riss er Pehu aus dem Stuhl, mit einer Wucht, die ihn so überraschte, dass er selbst zu Boden ging. Nur eine Handbreit neben ihm Pehus Gesicht, die Augen verdreht, der Mund japsend wie der eines Fisches, aus dem Hals sprudelte das Blut. Richter rappelte sich auf, jetzt bekam er das Schwert frei, hieb auf die am Boden Liegende ein, zweimal, dreimal, dann war die Wirbelsäule durchtrennt, ein letzter Schlag, das Werk war vollbracht, in kaltem Entsetzen taumelte Richter zurück.
Richter war allein in einer Welt von Blut. Ein blutiger Schleier vor seinen Augen, ein blutiges Rauschen in seinen Ohren, Blut an seinen Händen, Blut auf seinen Lippen. Seine Frau, sein Kind, er sah sie vor sich, dabei waren sie doch zu Hause geblieben, er hatte sie darum gebeten. So viele Gesichter, überall, gehörten sie seiner Frau, er wusste es nicht, er flehte die Goldene um Antworten an, doch seine Göttin blieb stumm. Das Rauschen schwoll an, bildete einen Strudel, der ihn hinabriss in die Dunkelheit, er wollte das Schutzzeichen schlagen, doch seine Hände klebten zusammen vor Blut.
Das Rauschen wandelte sich zu einem Kreischen, wurde menschlicher, Stimmen ließen sich unterscheiden. Die Fratzen, die auf Richter eindrangen, entzerrten sich, nahmen menschliche Züge an, gewöhnliche, bedeutungslose Züge gewöhnlicher, bedeutungsloser Menschen. Wie erwachend drehte sich Richter auf seinem Podest, erkannte die Tempelpyramide, den Platz der Offenbarung, das jubelnde Volk. Jubel ... ja ... das Volk jubelte. Pehu, die mutigste Frau, die je vor sein Richtschwert geführt worden war – wie ein betrunkener Metzger hatte er sie geschlachtet. Und das Volk jubelte. Richter verstand die Pflicht, ein Leben zu beenden, das sich der Finsternis verschrieben hatte. Aber es war eine ernste Pflicht, so furchtbar wie heilig. Und dieses – Atua-Kores auserwähltes – Volk empfand nicht etwa scheue Betroffenheit, sondern Rausch.
»Man bringe die Beschuldigte Mahuika, Tochter der Haika, Gefallene aus dem Hause Laki.«
Der Platz war still wie der Tod. Als Mahuika zum Blutgerüst geführt wurde, flog nicht die kleinste Zwiebel, kein Fluch wurde nur geflüstert. Die Kronprinzessin war gefallen, war nie Königin gewesen – doch sie war die Tochter Haikas aus dem Hause Atua-Kore; wer konnte sagen, ob die magische Kraft der Mutter sich nicht doch auf die Tochter übertragen hatte. Richter hatte noch nie die Tochter einer Königin von Nahem gesehen. Die gefallene Prinzessin war zierlich, das graue Bußgewand reichte ihr fast zu den Knöcheln; wie es Vorschrift war, ging sie barfuß. Ihr Haar war zu einem festen Zopf geflochten, kein Schmuck und keine Schminke zierte das bleiche Gesicht. Doch Richter hatte nie eine hoheitsvollere Schönheit gesehen.
Mit offenem Mund bestaunte er die feinen Glieder, das von einer Meisterin gemalte Gesicht, den anmutigen Gang. Wie bei Sibin rannen Tränen ihre Wangen hinab, doch ihr Blick war wach, war so gefasst, als fochten die niederen Regungen des Leibes sie nicht an. Die Wachen folgten ihr in ehrfurchtsvollem Abstand. Mit festem Schritt bestieg sie das Podest, drehte sich ohne Hast dem Tempel zu.
»Mahuika, du leugnest die Allmacht deiner Göttin, ist das wahr?«
Der gesamte Platz hielt den Atem an. Nie hatte das Volk eine schrecklichere Anklage gehört.
»Gott ist dort, wo Dankbarkeit ist und Vergebung«, sagte die Gefallene, und in der atemlosen Stille trug ihre Stimme weit. »Das Bedürfnis zu Herrschen entspringt der Unfähigkeit zur Liebe. Macht ist Gefängnis.«
Der Herold zögerte, ratlos, welche Nachricht er seinen Genossen auf den Plattformen übermitteln sollte.
Was die Königin sagte, schluckte die Weite des Himmels, doch schon dröhnte es aus den Trichtern: »Du sagst, du hast dich einem fremden Gott angedient, ist das wahr?«
»Ich habe meinen Gott gefunden«, entgegnete die Gefallene ruhig, »und ich wünsche dir, Hua, dass du deinen findest.«
Wer die Worte gehört hatte, schlug das Schutzzeichen wider die vollkommene Finsternis, selbst die Soldaten taten es. Wer weiter entfernt stand, folgte dem Beispiel, und wie die Welle eines Steines, der in ruhiges Wasser fiel, durchlief ein Kreis von Schutzzeichen die Menge.
Oben auf der Plattform beugte sich die Sprecherin des Hohen Rates zur Königin hinunter. Diese ließ verkünden: »Atua-Kore hat uns als ihr Volk ausgewählt, und unter ihrem Auge gedeiht unser Reich. Doch wir wissen, dass es an den Rändern Tiratangas Verlorene gab und auch heute noch gibt, die fremde Mächte verehren.«
In das eine von Richters Augen war Blut gelaufen, doch er traute sich nicht, es wegzuwischen. In vollkommener Regungslosigkeit lauschte die Menge.
»Die Gefallene behauptet, sie sei Prophetin eines Gottes. Wir wissen, dass zahllose dunkle Geister nach unserer Seele greifen. Aber kann es eine göttliche Macht geben, die dem Lichte Atua-Kores ebenbürtig ist?«
Unmöglich, wusste Richter. Aber wenn es das war, warum stellte die Königin dann eine solche Frage?
»Nein«, dröhnte es aus den Trichtern. »Wer stark im Glauben ist, weiß um die Allmacht Atua-Kores. Doch wer immer unter euch sein sollte, der die Kälte der Finsternis nach sich greifen spürt, der höre.«
Die Königin hob den Arm, und aus der Tempelöffnung hinter ihr trat ein Mann, in eine leuchtende gold-blaue Robe gekleidet. Neben Richter stöhnte die Gefallene auf. Dann erkannte auch er selbst, wer dort auf die Plattform getreten war – der Wunderheiler!
»Dies ist Kidogo«, verkündete die Königin, »ein wandernder Heiler, ein Schamane des alten Wissens. Er hat die Nebelzinnen im Norden und die Wüste Charalesch im Süden bereist, die Gärten Orofars im Westen und die Inseln der Styrkur im Osten. Tritt vor, Kidogo, und sprich: Hast du auf deinen Reisen eine einzige Macht gefunden, die dem Licht Atua-Kores standzuhalten vermag?«
Der Wunderheiler rührte sich nicht, starrte bleich zu Mahuika herunter.
Die erhabene Sprecherin trat von hinten an ihn heran, flüsterte ihm etwas zu. Der Mandrêb schien noch bleicher zu werden, dann sprach er ein einziges Wort. Richter hätte die Bestätigung der Herolde nicht benötigt, um es zu deuten. »Nein.«
Die Königin erhob sich von ihrem Thron, trat nah an die Kante der Plattform. »Meine Satrapanim«, sagte sie mit kurzem Blick zur Tribüne am Rande des Platzes, »mein Volk, ihr habt es gehört. Selbst die Schamanen des alten Wissens begehren nicht mehr auf gegen Atua-Kores Macht. Nichts kann bestehen neben ihrer Herrlichkeit.« Nun sah sie direkt zum Blutgerüst herunter, Richter blieb das Herz stehen. Er brauchte einen Moment, bis er verstand, dass ihr Blick der Gefallenen galt. »Mahuika, sage dich los von der Finsternis, und du sollst die Milde der Goldenen Göttin erfahren.«
»Was macht es für einen Unterschied«, entgegnete die Angesprochene so ruhig wie zuvor, »ob du mich wegen Lästerung der Göttin hinrichten lässt, oder nur wegen Hochverrats?«
»Du würdest ins Licht gehen«, erwiderte die Königin, »und nicht ins Dunkel. Du würdest ...«
Sie wurde unterbrochen, denn der Wunderheiler redete wild auf die erhabene Sprecherin ein. Doch schon waren zwei Tempelgardisten da – Richter hatte sie nicht kommen sehen – und zerrten ihn von der Plattform.
Während die Königin noch dem Abgeführten hinterhersah, sagte die Gefallene: »Das Licht Atua-Kores blendet, doch es ist kalt.« Sie ging auf den Richtstuhl zu. Ihre bloßen Füße zeichneten kleine Abdrücke in die Blutlache, die sich davor gebildet hatte. Wie Pehu nahm sie freiwillig den Platz ein, der ihr Schicksal besiegeln sollte. »Ich war gefangen.« Sie sagte es zu sich selbst, so leise, dass selbst Richter es kaum hören konnte. »Ich werde frei sein.«
Über ihnen auf der Plattform verkündeten die Herolde: »Du hast deine Königin verraten. Doch was weit schwerer wiegt: Du hast deine Göttin geschmäht. Tod durch das Schwert.«
Nun war es soweit. Richter musste tun, was er befürchtet hatte. Musste die Erwählte eines Gottes töten. Der Wunderheiler hatte es bestätigt, vor drei Tagen, im Befragungsraum: Die Erde war aufgerissen, wie Asil es berichtet hatte, der Gott Alateon hatte sein gekröntes Haupt erhoben, um Mahuika zu schützen. Dass der Wunderheiler jetzt, vor aller Augen, in Gold und Seide gekleidet, das Gegenteil behauptet hatte, konnte Richter nicht täuschen. Das Licht Atua-Kores blendete, ja, so war es, die Prophetin sagte die Wahrheit. Der Wunderheiler war dem falschen Glanz der Goldenen verfallen, wie die Königin, die Priesterinnen, ganz Ranui.
»Beginnt«, befahl die Königin.
Doch was hatte sie ihm zu befehlen, sie war bloß die Erwählte Atua-Kores, die Erwählte einer Blenderin, und er, Richter, hatte sie durchschaut. In der Blutlache, die er selbst verschuldet hatte, kniete er vor dem Richtstuhl nieder, und Friede erfasste ihn. Das Blut, das sein Gewand durchtränkte, war das letzte, das von seiner Hand vergossen worden wäre.
Mit dem Blick der Entrückten sah die Prophetin ihn an. »Was tust du?«
Richter legte ihr sein Schwert zu Füßen. »Ich bitte Euch um Gnade, Herrin.«
»Du suchst die Gnade meines Gottes?« Die Prophetin sah ihn lange an. »In einer Welt ohne Herrschaft gibt es keine Schuld. Der einzige, der dir verzeihen kann, bist du selbst.«
Ein langer, spitzer Schmerz drang ihm in den Rücken. Dann ein zweiter, ein dritter. Pfeile der Palastwache. Richter griff nach dem Stuhl, doch erreichte ihn nicht mehr, kippte in die Blutlache. Der feuchte Boden war angenehm kühl. Mein Kind, dachte er, der Münzwurf war günstig, wirst du leben? Wirst du mir verzeihen? In einer Welt ohne Herrschaft gibt es keine Schuld, sagte die Prophetin. So sehr wünschte sich Richter, dass sie recht hatte, so sehr.