20. Kapitel

Verfluchte Königin, verfluchte Mahuika, vierfach verfluchte Kohatu. Mit geballten Fäusten stürmte Sokai in ihrem Amtszimmer auf und ab. Keine Macht war ewig, da konnten die Priesterinnen noch so hartnäckig ihre Lieder singen – auch Ranui würde untergehen, früher oder später. Und eher früher, wenn man sah, wie viel Unrat auf zwei Beinen im inneren Kreis herumlief. War sie eigentlich die Einzige, die irgendeinen Plan hatte in dieser stinkenden Stadt? Mahuika, dieses Miststück, diese Göre, spielte solch ein lächerliches Spiel – wie war es möglich, dass sie damit durchkam? Und Hua, dieses dumme, dumme Huhn, wie konnte man nur so abgründig dumm sein? Ein öffentliches Gericht? Vor dem Volk? Warum nicht gleich die Ratsversammlungen für alle zugänglich machen? Oder die Regierungsgeschäfte ganz dem Volk überlassen ... Sokai knirschte mit den Zähnen vor Zorn.

Es klopfte.

»Herein!«

Die Tür öffnete sich, Kohatu trat ein. »Erhabene Sprecherin.«

»Schließ die Tür«, befahl Sokai. In mühsam zurückgehaltenem Zorn starrte sie die Hauptfrau an. »Hast du nur den Hauch einer Ahnung, in welche Gefahr du Ranui gebracht hast?«

»Verzeiht, erhabene Sprecherin.«

»Du wirst bereuen, mich verraten zu haben, das verspreche ich dir.«

»Ich habe getan, was Ihr wolltet. Das Gift ... es hat nicht gewirkt.«

Bebend trat Sokai an Kohatu heran. »Glaube mir, es wirkt. Ich habe dir gesagt, jeden Abend drei Tropfen ...«

»Das habe ich getan.«

»Du muss dich verzählt haben, Armselige.«

»Die Gefallene wurde von Tag zu Tag schwächer ...«

In gefährlicher Ruhe machte Sokai einen weiteren Schritt auf die Hauptfrau zu. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, die Kriegerin überragte sie um Haupteslänge. »Ich höre ein Aber ...«

»Ihr Gott ... Alateon ...«

Sokai gab ihr eine Ohrfeige. Obwohl ihre ganze Wut in den Schlag geflossen war, rührte sich die Getroffene kaum. Es machte Sokai nur noch wütender. »Nenn noch einmal diesen Namen, und ich schicke dich in den Befragungsraum der Priesterinnen.«

Kohatu schwieg.

»Sprich – was ist geschehen? Und beginn am Anfang.«

Während Kohatu berichtete, trat Sokai an einen der Fensterbögen, die den Blick auf den inneren Kreis freigaben. Wie prunkvoll die Paläste in der Abendsonne leuchteten. Wie zerbrechlich alles war. Von der Ohrfeige schmerzte ihre Hand.

Mit jedem Wort Kohatus wurde sie tiefer in einen Alptraum hineingezogen. So sicher sie war, dass weder Gott noch Dämon seine Hände im Spiel hatte, so sicher war sie sich auch, dass Kohatu vom Gegenteil überzeugt war. Und vermutlich auch deren gesamter Trupp. Welche List die Gefallene auch immer angewendet hatte, sie war erfolgreich gewesen. »Mit wem hast du bisher gesprochen?«

»Mit niemandem, erhabene Sprecherin. Wie Ihr es befohlen habt.«

»Und deine Leute?«

»Ich versichere Euch, sie verstehen zu schweigen.«

Sie wandte sich wieder vom Fenster ab, sah die Kriegerin an. »Na gut. Ich habe einen Auftrag für sie. Schick sie nach Charalesch. Sie sollen überprüfen, ob die dortigen Nomaden die Waffenruhe einhalten.« Die Wüste war zwölfhundert Meilen entfernt; es würde Monde dauern, bis sie zurück wären.

»Verzeiht, erhabene Sprecherin, es handelt sich um Soldaten der Palastwache ...«

»Ich werde mit der Königin sprechen. Wann will sie denn dich sehen?«

»Sogleich.«

»Sieh an – und du bist trotzdem zuerst zu mir gekommen ... vielleicht ist doch noch nicht alles verloren.«

»Ich habe Euch gesagt, dass meine Sorge um Torokaha nicht meine Treue gegenüber der Königin schmälert. Ich werde sie nicht anlügen.«

»Sch ...«, Sokai legte den Zeigefinger an die Lippen. »Niemand hat verlangt, dass du das tust. Überlege dir nur, was wahrscheinlicher ist: Dass die gefallene Satrapa dich getäuscht hat – oder dass Atua-Kore, deren mächtiges Auge seit Anbeginn der Zeiten über uns wacht, in einem Steinriesen am Rande der Welt einen ebenbürtigen Gott findet. Glaubst du an die Macht Atua-Kores?«

»Mit ganzem Herzen, erhabene Sprecherin.«

»Dann hüte dich, dich von der Gefallenen missbrauchen zu lassen für die dunklen Ziele ihres Herrn.«

 

Nachdem Sokai die Hauptfrau entlassen und auch mit Kaïkopura gesprochen hatte, setzte sich auf den Lehnstuhl hinter ihrem Schreibtisch und betrachtete lange das polierte Holz. In einem Verfahren, das nur den besten Handwerkern Orofars vertraut war, war es so weit gehärtet worden, dass es die Jahrhunderte überstehen würde. Im ersten Ring könnte man sich ein Haus kaufen für diesen Tisch. Und doch war sein Wert nur eine Frage der Umstände. Im dritten Ring würde man vermutlich Brennholz daraus machen.

Sokai öffnete eine der Schubladen, glitt mit ihren Fingern über die Phiolen darin. Mahuika hatte das Brennen Ranuis prophezeit. Als Sokai die richtige Phiole gefunden hatte, nahm sie diese aus der Schublade, zog den Pfropfen. Das arme Mädchen wusste gar nicht, wie nah es an der Wahrheit lag. Königin Haika hatte mit eiserner Faust alle Fliehkräfte zusammengehalten. Seit sie ins Licht getreten war, brodelte es in den Ringen. Und nur Sokai stand noch zwischen der satten Selbstgefälligkeit der Satrapanim und dem Untergang des größten Reiches aller Zeiten.

Sie würde ihre Pflicht tun.

Auf einen Zug trank Sokai die Phiole aus. Ruhig blieb sie in ihrem Lehnstuhl sitzen und wartete. Als sie merkte, dass das Gift zu wirken begann, rief sie ihre Dienerin.

 

»Meine Tochter, meine Tochter.«

»Ihr seid da«, ächzte Sokai schwach. Doch die Erleichterung, dass Mutter gekommen war, konnte sie kaum über die Krämpfe trösten, die ihre Eingeweide zerschnitten.

»Was ist geschehen?«, fragte Mutter, mit angemessener Verzweiflung in der Stimme.

»Ich weiß nicht. Nehmt meine Hand.«

Mutter eilte schneller herbei, als die Akolythin, die sie hätte stützen sollen, ihr folgen konnte; sie kniete sich neben das behelfsmäßige Lager, auf dem Sokai lag, umklammerte die dargebotene Hand. »Alles wird gut.« Sie sah sich um. »Wo sind die Heilerinnen?«

»Sie werfen die Münzen.«

»Lass mich das übernehmen.«

»Ihr müsst die Münzen doch bereits befragen, zur Zukunft der Gefallenen. Die Königin wird zornig sein.«

»Sie wird mir verzeihen. Kaïkopura kann mich vertreten.«

Ein Hustanfall schüttelte Sokai, ausgiebig gab sie sich ihm hin. »Nein«, keuchte sie in einem Augenblick des Atemholens, »Kaïkopura ist nicht bereit.«

»Du hast es selbst oft genug gesagt«, Mutter ließ sich ein feuchtes Tuch geben, kühlte ihre Stirn, »ich werde nicht ewig der Mund Atua-Kores sein können. Es ist Zeit, Kaïkopura den Pfad zu weisen.«

Sokai gab vor, widersprechen zu wollen – aber als Mutter ihr zu schweigen gebot, gehorchte sie gern. Auch die Krämpfe ließen nach.