19. Kapitel
Sie befanden sich im königlichen Garten, auf dem Dach des Palastes.
»Spielen wir Satrapa und Edelmann?«, fragte Hua.
»Bäh.« Aki streckte die Zunge heraus. »Lass uns den Soldaten zuschauen.«
Hua zog neunmalklug die Brauen hoch. »Du weißt, dass Klettern verboten ist.«
»Mir doch egal. Alles ist verboten, was Spaß macht.«
»Irgendwann bist du Königin. Dann musst du auch machen, was Atua-Kore will.«
»Du redest schon wie Mama.«
Als Hua entsetzt schaute, machte Aki einen übertriebenen Knicks. »Entschuldigt, Gnädigste, ich meinte natürlich: Ihr sprecht bereits wie ihre königliche Hoheit.«
»Oder wir basteln Obstfiguren ...«
»Du vielleicht – ich schau mir die Soldaten an.« Bevor Hua noch mehr dumme Vorschläge machen konnte, rannte Aki zu einem Orangenbaum nah an der Mauer, die um den Rand des Daches herumlief. Der unterste Ast hing gerade tief genug, dass sie drankam. Das Hochziehen war am schwierigsten. Sobald sie im Baum stand, ging es gut. Als der Stamm sich fast waagrecht aufgabelte, rutschte sie auf dem dünneren Ende so lange weiter, bis es sich unter ihrem Gewicht der Mauer zu bog. Sie kannte die Stellen, wo die Fugen genug Platz für ihre Fingerspitzen ließen. Eine kleine Anstrengung später saß sie oben auf der Mauer. Sie drehte sich nach Hua um, aber die war natürlich nicht mitgekommen. Warum waren alle anderen Kinder so langweilig? Oder wählte Mama nur langweilige Kinder aus, die mit ihr spielen durften? Egal. Sie legte sich auf den Stein und schob langsam den Kopf über die Mauerkante. Nicht, weil sie Angst hatte – aber sie hatte keine Lust, schon wieder Ärger zu bekommen. Unter ihr erstreckte sich der Übungshof der Palastwache. Bei den Übungen zuzusehen, war eine von Akis Lieblingsbeschäftigungen. Natürlich hätte sie noch viel lieber selbst ein Schwert in der Hand gehalten, aber Mama behauptete, das gehörte sich nicht für eine Prinzessin. Aki blies eine Speichelblase, sie hatte wirklich die lahmste Mama der Welt.
Unten war Speerdrill. Die Soldaten standen in ganz gleichmäßigen Reihen, und zwar so, dass sie genug Platz zwischen sich hatten, um mit ihren Speeren herumzuwirbeln. Vorne stand die Ausbilderin und machte alles vor. Es sah aus wie Tanzen. Aki mochte die Ausbilderin, sie hieß Pehu oder so, und sie sagte nie ein Wort zu viel. Aber wenn sie etwas sagte, dann hörten alle zu. Bei Aki war es umgekehrt: Sie brauchte immer furchtbar lange, bis die Leute verstanden, was sie wollte, und dann machten sie es trotzdem nicht.
Um eine bessere Sicht zu gewinnen, rutschte Aki näher an die Kante, ein Steinchen fiel. Die Auszubildenden standen mit dem Rücken zu ihr, aber Pehu hob den Blick. So wie Aki da lag, hatte sie keine Möglichkeit, sich wegzuducken. Pehu runzelte die Stirn, sah genau in ihre Richtung. Mit angehaltenem Atem wartete Aki, was die Offizierin tun würde. Kaum merklich schüttelte diese den Kopf, dann tanzte sie ihren Leuten den nächsten Speerangriff vor. Puh, das war knapp gewesen. Aki versprach sich, Pehu zur Hauptfrau der Palastwache zu machen, wenn sie erst einmal Königin wäre.
»Kronprinzessin Mahuika«, ertönte es so streng hinter ihr, dass sie zusammenzuckte. »Komm da runter. Sofort.«
Unterm Orangenbaum stand Mama und machte das drohendste Gesicht der Welt. Und neben ihr stand – Hua. Am liebsten hätte Aki dem Balg eine Orange im Gesicht zerdrückt. Dass Hua um jede spaßige Sache einen Bogen machte, war fies genug. Aber dass sie auch noch Akis Leben vermiesen musste, war einfach nur zum Heulen.
Während sie über den Korio setzen, sah Mahuika zum ersten Mal Ranui von außen; die Hauptstadt Tiratangas – das Reich, über das sie hätte herrschen sollen. Oder dem sie hätte dienen sollen, wie die Priesterinnen es nannten. Nein, sie bereute nicht, geflohen zu sein. Gleich, was sie hinter den gewaltigen Mauern erwarten würde, die Priesterinnen hatten recht: Es war mehr Knechtschaft als Macht, auf dem Goldenen Thron sitzen zu müssen. Aber würde sie bereit sein, für die Folgen ihrer Entscheidung einzustehen? Mahuika spürte einen Kloß im Hals. Sie wusste es nicht.
Als sie näher ans Nordtor kamen, gelangten sie in den Bereich der Elenden. Mahuika hatte kaum je von ihnen sprechen gehört, jetzt schauderte sie unter dem Bild, das sich bot: Verhuschte Gestalten waren es, schmutzstarrend, verflucht mit eiternden Geschwüren, mit Verwachsungen, fehlenden Gliedmaßen; hausten in löchrigen Zelten oder ganz unter freiem Himmel. Mit erloschenen Augen sahen sie her, flehten um Almosen, ohne sich näher an die Straße zu trauen.
»So kümmert sich die Goldene also um ihr auserwähltes Volk«, murmelte Kidogo neben ihr. Laut genug, dass der nächste Soldat es gehört hatte, denn der schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. »Halt’s Maul, Pfuscher. Oder du erleidest ein ähnliches Schicksal wie die Erbärmlichen hier. Keine Seele wirst du unter ihnen finden, die nicht den Zorn der Göttin auf sich geladen hat.«
Mahuika fürchtete, dass Kidogo widersprechen würde, doch er tastete bloß mit den gebundenen Händen nach seiner Nase.
Sie gelangten in den dritten Ring. Hier war die Stimmung weniger hoffnungslos als draußen, aber das lärmende Treiben roch nach Gewalt, und der Gestank war benebelnd. Bis auf verstohlene Blicke empfing ihr schwer gepanzerter Trupp keine Beachtung. Man machte, dass man aus dem Weg kam, und kümmerte sich um sein eigenes Geschäft. In den Lumpen, in denen Mahuika steckte, hätte ihr wohl auch niemand große Bedeutung zugemessen.
Erst im zweiten Ring nahmen die Häuser und Straßen langsam eine Gestalt an, wie Mahuika es sich ausgemalt hätte. Ziegelwände statt Bretterbuden, ordentlich gestrichene Fensterläden, eben ausgelegtes Pflaster. Als sie geflohen war, hatte sie die Tunnel unter der Stadt genutzt. Was die Soldaten vermutlich als Rückkehr empfanden, war für sie die Erkundung einer fremden Welt.
Der erste Ring barg weniger Überraschungen, hier war sie schon einige Male gewesen. Doch als sie den inneren Kreis betrat, ihre eigentliche Heimat, konnte sie diese Heimat nicht mehr als die ihre erkennen – konnte es nicht glauben, wie die Marmorstraßen, die Paläste und die prunkvollen Anwesen der Hohen Häuser zur selben Stadt gehören sollten wie die erbärmlichen Verhältnisse ein paar Mauern weiter.
Sie wurde in den Kerker der Hauptwache gebracht. Stroh, ein Eimer, eine Öllampe außerhalb des Zellengitters. Im Vergleich zu Kidogo hatte sie es vermutlich dennoch gut getroffen, denn jenen hatte man in Richtung Tempelverlies abgeführt. Mahuika setzte sich auf den kahlen Boden und wartete. Hätte sie Kidogo wegschicken sollen? Aber sie hatte ihm ehrlich begegnen wollen, und hieß das nicht auch, seine Wahl anzunehmen? In Ranui hatte es nie eine Wahl gegeben. Man hatte seinen Platz; man entschied über die weiter unten, und man tat, was einem von denen weiter oben aufgetragen wurde. Hatte sie Kidogo ausreichend klar gemacht, welche Folgen seine Entscheidung haben könnte? Müßig, es war zu spät. Sie hatte ihre Münzen geworfen, sie konnte nichts mehr tun, als abzuwarten, wie sie fielen.
Es dauerte keine Stunde, bis Kohatu mit drei zusätzlichen Wachen erschien, um sie aus der Zelle zu holen. Als sie das Gebäude verließen, schlossen sich vier weitere Bewaffnete an. Es ging nach Osten, und lange bevor Mahuika die riesige rote Kuppel vor sich aufragen sah, wusste sie das Ziel: das Schloss des Hohen Rates. Gut. Je öffentlicher, desto besser.
Die Wachen geleiteten sie ins Innere des Gebäudes. Vor der verschlossenen Versammlungshalle wurden sie von einer Saaldienerin empfangen. Nachdem die Wachen sich links und rechts des Portals aufgestellt hatten, stieß die Saaldienerin die Portalflügel auf und verkündete: »Die Gefallene Mahuika, Tochter der Haika, aus dem Hause Laki.«
Alateon, alter Knabe, betete Mahuika still, lass mich jetzt bitte nicht hängen. Dann betrat sie das Parkett.
Sie hatte schon einige Versammlungen des Rates erlebt – aber sie musste feststellen: Es war etwas vollkommen anderes, oben in der Sicherheit einer Loge zu sitzen und darauf zu warten, dass Mutter entschied, ob die Weizensteuern erhöht werden sollten, oder alleine unten auf dem Parkett zu stehen.
Eine Welle des Raunens lief die Galerien entlang. Als Mahuika zu den Logen hochblickte und die formidabel herausgeputzten, in Seide gekleideten Satrapanim sah, verstand sie deren Erregung – ihr eigenes verfilztes Haar hatte seit zwei Monden keinen Kamm mehr gesehen, ihr Gesicht kein anderes Schönheitsmittel als Wasser. Ihr Kleid hielt sich nur noch aus gutem Willen an ihrem Körper. Eine ehemalige Kronprinzessin hatten die Damen in ihrer ehrwürdigen Halle erwartet, und nun stand eine Bettlerin vor ihnen.
Schon am Morgen hatte Kohatu einen ihrer Krieger vorgeschickt, die Ankunft zu melden, trotzdem war Mahuika beeindruckt: Jede Loge war besetzt. Zu gewöhnlichen Versammlungen war selten mehr als die Hälfte der Satrapanim zugegen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Parketts erhob sich eine mehrstufige Estrade, und darauf der Goldene Thron. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah Mahuika den Inbegriff der königlichen Macht, ohne dass ihre Mutter darauf saß.
Sondern Hua. Denselben Brokatmantel, denselben Stirnreif hatte Mutter getragen. Und auch wenn Mahuikas Kopf es besser wusste, ihrem Herzen kam es wie Raub vor.
»Tritt vor«, sagte Hua.
Mahuika hatte den steifen Begrüßungsformeln am Hofe nie viel abgewinnen können. Aber dass Hua nicht einmal einen einfachen Gruß aussprechen wollte, war kein gutes Zeichen.
Mit feuchten Händen trat Mahuika in die Mitte der Halle.
»Knie nieder vor deiner Königin.«
Mahuika zögerte. Sie hatte eine Anklage erwartet, keine Prüfung ihrer Ergebenheit. Ein Zeichen von Gnade? Wollte Hua sie verschonen, wenn sie nur genügend Reue zeigte? Doch die Überlieferungen verlangten den Tod einer jeden, die das Große Ritual nicht vollendete. Würde Hua sich über die alten Regeln hinwegsetzen?
»Nein.«
Geschlossen hielt der Saal den Atem an. Es war so still, dass Mahuika das Pochen in ihrer Brust hörte. Köpfe drehten sich zum goldenen Thron, noch mehr drehten sich zur Galerie darüber. Dort, wo diese spitz zulaufend in den Raum stach, befand sich die Loge der Hohepriesterin.
Aber es war das Abteil daneben, in dem man zuerst die Sprache wiederfand. »Gefallene«, ertönte es aus der Loge des Hauses Laki, »du schmähst die Erwählte Atua-Kores?« Alandra. Die schnarrende Stimme ihrer Großtante war unverkennbar.
»Dies sind die Worte Alateons, der die Dornenkrone trägt«, erklärte Mahuika. Auf der Reise hatte sie sich zurechtgelegt, was sie sagen wollte, hatte an jedem Satz, jedem Wort gefeilt; hatte den Vortrag solange wiederholt, bis sie ihn im Schlaf hätte aufsagen können. »Keine Göttin allein beherrscht die Welt ...«
Empörung in den Rängen. Magische Worte wurden gestammelt, Hände vor die Brust geschlagen.
»Auch Atua-Kore nicht«, fuhr Mahuika unbeirrt fort, hob nur die Stimme gegen die lauter werdenden Rufe. »Der Riese Alateon bietet der Goldenen einen Handel an ...«
»Genug«, rief die Sprecherin Sokai, »schweig!«
»Alle Völker, alles Land, alle Tiere und Pflanzen südlich der Nebelzinnen sollen Atua-Kore untertan sein ...«
»Wachen!«, schrie Sokai.
»... Die Nebelzinnen selbst jedoch sollen meinem Herrn gehören.«
Mit gezogenen Schwertern stürmten die Wachen herein, sahen sich gehetzt um, versuchten herauszufinden, gegen welche Bedrohung sie gerufen worden waren. Doch der allgemeine Aufruhr in den Rängen genügte nicht als Anhaltspunkt, wo der Feind war.
»Führt sie ab!« Sokais Stimme überschlug sich.
Erschrocken sah Mahuika die Wachen auf sich zukommen. Sollte es das schon gewesen sein? »Schlagt ein, und Ihr werdet den Wohlstand Tiratangas bewahren«, rief sie verzweifelt, während sie bereits gepackt wurde. »Schlagt aus, und der Zorn Alateons wird über Euch kommen!«
Die Wachen schleiften sie aus der lärmenden Halle.
Auf einen Schlag war es still.
»Bringt sie zurück«, befahl Hua. Ihr erhobener Arm war es gewesen, der das Toben beendet hatte. »Sage«, begann sie, als die Wachen Mahuika zurück auf die Mitte des Parketts geführt hatten, »was ist es, das uns deinen Herrn fürchten lassen soll?«
»Alateon«, sagte Mahuika, und stellte sich so aufrecht hin, wie die Pranken der Wachen es zuließen, »ist der Herrscher über Feuer und Fels. Weist sein Angebot zurück, und der Schattenberg wird bersten, Ranui selbst wird in Flammen aufgehen.«
Tumult in den Logen der Hohen Häuser.
»Sie muss sterben!«, schrillte Sokais Stimme durch den Lärm.
Wieder hob Hua den Arm, wieder verebbte das Geschrei. »Genug. Du lästerst die Göttin. Der Mund Atua-Kores soll sprechen.«
In der Loge über dem Goldenen Thron stemmte sich die Hohepriesterin aus ihrem Sitz, gestützt von einer Akolythin trat sie an die Balustrade. Sie sah noch verwitterter aus, als Mahuika sie in Erinnerung hatte. »Woher sollen wir wissen«, fragte die Alte dünn, »dass Alateon ein Gott ist, und kein Hirngespinnst?«
Von den Rängen murmelte es Zustimmung.
»Oder schlimmer noch: ein Gesandter der Finsternis?«
Die Satrapanim beeilten sich, ihre Schutzzeichen zu schlagen.
»Wie können wir sichergehen«, fuhr die Hohepriesterin fort, »dass du es bist, eine Gefallene, die Alateon als seine Prophetin erkoren hat?«
»Fragt Kohatu«, erwiderte Mahuika, »sie und ihre Soldaten haben seine Macht in mir wirken sehen.«
»Wie lange wollen wir dieser Elenden zuhören«, rief Sokai, »die unsere Göttin, unsere Königin und jetzt auch noch unsere tapfere Hauptfrau beleidigt? Sie muss sterben, so will es das Gesetz.«
»Tod der Gefallenen!«, erscholl es flammend von den Rängen.
Huas Stirnreif war verrutscht, bedächtig rückte sie ihn gerade. Dann sagte sie: »Ihre Heiligkeit soll entscheiden.«
Aller Augen richteten sich auf die Hohepriesterin.
»Wenn Eure Königliche Hoheit es wünscht«, sagte Amokapua, »werde ich die Münzen werfen.«
Weitere Kapitel:
Sie befanden sich im königlichen Garten, auf dem Dach des Palastes.
»Spielen wir Satrapa und Edelmann?«, fragte Hua.
»Bäh.« Aki streckte die Zunge heraus. »Lass uns den Soldaten zuschauen.«
Hua zog neunmalklug die Brauen hoch. »Du weißt, dass Klettern verboten ist.«
»Mir doch egal. Alles ist verboten, was Spaß macht.«
»Irgendwann bist du Königin. Dann musst du auch machen, was Atua-Kore will.«
»Du redest schon wie Mama.«
Als Hua entsetzt schaute, machte Aki einen übertriebenen Knicks. »Entschuldigt, Gnädigste, ich meinte natürlich: Ihr sprecht bereits wie ihre königliche Hoheit.«
»Oder wir basteln Obstfiguren ...«
»Du vielleicht – ich schau mir die Soldaten an.« Bevor Hua noch mehr dumme Vorschläge machen konnte, rannte Aki zu einem Orangenbaum nah an der Mauer, die um den Rand des Daches herumlief. Der unterste Ast hing gerade tief genug, dass sie drankam. Das Hochziehen war am schwierigsten. Sobald sie im Baum stand, ging es gut. Als der Stamm sich fast waagrecht aufgabelte, rutschte sie auf dem dünneren Ende so lange weiter, bis es sich unter ihrem Gewicht der Mauer zu bog. Sie kannte die Stellen, wo die Fugen genug Platz für ihre Fingerspitzen ließen. Eine kleine Anstrengung später saß sie oben auf der Mauer. Sie drehte sich nach Hua um, aber die war natürlich nicht mitgekommen. Warum waren alle anderen Kinder so langweilig? Oder wählte Mama nur langweilige Kinder aus, die mit ihr spielen durften? Egal. Sie legte sich auf den Stein und schob langsam den Kopf über die Mauerkante. Nicht, weil sie Angst hatte – aber sie hatte keine Lust, schon wieder Ärger zu bekommen. Unter ihr erstreckte sich der Übungshof der Palastwache. Bei den Übungen zuzusehen, war eine von Akis Lieblingsbeschäftigungen. Natürlich hätte sie noch viel lieber selbst ein Schwert in der Hand gehalten, aber Mama behauptete, das gehörte sich nicht für eine Prinzessin. Aki blies eine Speichelblase, sie hatte wirklich die lahmste Mama der Welt.
Unten war Speerdrill. Die Soldaten standen in ganz gleichmäßigen Reihen, und zwar so, dass sie genug Platz zwischen sich hatten, um mit ihren Speeren herumzuwirbeln. Vorne stand die Ausbilderin und machte alles vor. Es sah aus wie Tanzen. Aki mochte die Ausbilderin, sie hieß Pehu oder so, und sie sagte nie ein Wort zu viel. Aber wenn sie etwas sagte, dann hörten alle zu. Bei Aki war es umgekehrt: Sie brauchte immer furchtbar lange, bis die Leute verstanden, was sie wollte, und dann machten sie es trotzdem nicht.
Um eine bessere Sicht zu gewinnen, rutschte Aki näher an die Kante, ein Steinchen fiel. Die Auszubildenden standen mit dem Rücken zu ihr, aber Pehu hob den Blick. So wie Aki da lag, hatte sie keine Möglichkeit, sich wegzuducken. Pehu runzelte die Stirn, sah genau in ihre Richtung. Mit angehaltenem Atem wartete Aki, was die Offizierin tun würde. Kaum merklich schüttelte diese den Kopf, dann tanzte sie ihren Leuten den nächsten Speerangriff vor. Puh, das war knapp gewesen. Aki versprach sich, Pehu zur Hauptfrau der Palastwache zu machen, wenn sie erst einmal Königin wäre.
»Kronprinzessin Mahuika«, ertönte es so streng hinter ihr, dass sie zusammenzuckte. »Komm da runter. Sofort.«
Unterm Orangenbaum stand Mama und machte das drohendste Gesicht der Welt. Und neben ihr stand – Hua. Am liebsten hätte Aki dem Balg eine Orange im Gesicht zerdrückt. Dass Hua um jede spaßige Sache einen Bogen machte, war fies genug. Aber dass sie auch noch Akis Leben vermiesen musste, war einfach nur zum Heulen.
Während sie über den Korio setzen, sah Mahuika zum ersten Mal Ranui von außen; die Hauptstadt Tiratangas – das Reich, über das sie hätte herrschen sollen. Oder dem sie hätte dienen sollen, wie die Priesterinnen es nannten. Nein, sie bereute nicht, geflohen zu sein. Gleich, was sie hinter den gewaltigen Mauern erwarten würde, die Priesterinnen hatten recht: Es war mehr Knechtschaft als Macht, auf dem Goldenen Thron sitzen zu müssen. Aber würde sie bereit sein, für die Folgen ihrer Entscheidung einzustehen? Mahuika spürte einen Kloß im Hals. Sie wusste es nicht.
Als sie näher ans Nordtor kamen, gelangten sie in den Bereich der Elenden. Mahuika hatte kaum je von ihnen sprechen gehört, jetzt schauderte sie unter dem Bild, das sich bot: Verhuschte Gestalten waren es, schmutzstarrend, verflucht mit eiternden Geschwüren, mit Verwachsungen, fehlenden Gliedmaßen; hausten in löchrigen Zelten oder ganz unter freiem Himmel. Mit erloschenen Augen sahen sie her, flehten um Almosen, ohne sich näher an die Straße zu trauen.
»So kümmert sich die Goldene also um ihr auserwähltes Volk«, murmelte Kidogo neben ihr. Laut genug, dass der nächste Soldat es gehört hatte, denn der schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. »Halt’s Maul, Pfuscher. Oder du erleidest ein ähnliches Schicksal wie die Erbärmlichen hier. Keine Seele wirst du unter ihnen finden, die nicht den Zorn der Göttin auf sich geladen hat.«
Mahuika fürchtete, dass Kidogo widersprechen würde, doch er tastete bloß mit den gebundenen Händen nach seiner Nase.
Sie gelangten in den dritten Ring. Hier war die Stimmung weniger hoffnungslos als draußen, aber das lärmende Treiben roch nach Gewalt, und der Gestank war benebelnd. Bis auf verstohlene Blicke empfing ihr schwer gepanzerter Trupp keine Beachtung. Man machte, dass man aus dem Weg kam, und kümmerte sich um sein eigenes Geschäft. In den Lumpen, in denen Mahuika steckte, hätte ihr wohl auch niemand große Bedeutung zugemessen.
Erst im zweiten Ring nahmen die Häuser und Straßen langsam eine Gestalt an, wie Mahuika es sich ausgemalt hätte. Ziegelwände statt Bretterbuden, ordentlich gestrichene Fensterläden, eben ausgelegtes Pflaster. Als sie geflohen war, hatte sie die Tunnel unter der Stadt genutzt. Was die Soldaten vermutlich als Rückkehr empfanden, war für sie die Erkundung einer fremden Welt.
Der erste Ring barg weniger Überraschungen, hier war sie schon einige Male gewesen. Doch als sie den inneren Kreis betrat, ihre eigentliche Heimat, konnte sie diese Heimat nicht mehr als die ihre erkennen – konnte es nicht glauben, wie die Marmorstraßen, die Paläste und die prunkvollen Anwesen der Hohen Häuser zur selben Stadt gehören sollten wie die erbärmlichen Verhältnisse ein paar Mauern weiter.
Sie wurde in den Kerker der Hauptwache gebracht. Stroh, ein Eimer, eine Öllampe außerhalb des Zellengitters. Im Vergleich zu Kidogo hatte sie es vermutlich dennoch gut getroffen, denn jenen hatte man in Richtung Tempelverlies abgeführt. Mahuika setzte sich auf den kahlen Boden und wartete. Hätte sie Kidogo wegschicken sollen? Aber sie hatte ihm ehrlich begegnen wollen, und hieß das nicht auch, seine Wahl anzunehmen? In Ranui hatte es nie eine Wahl gegeben. Man hatte seinen Platz; man entschied über die weiter unten, und man tat, was einem von denen weiter oben aufgetragen wurde. Hatte sie Kidogo ausreichend klar gemacht, welche Folgen seine Entscheidung haben könnte? Müßig, es war zu spät. Sie hatte ihre Münzen geworfen, sie konnte nichts mehr tun, als abzuwarten, wie sie fielen.
Es dauerte keine Stunde, bis Kohatu mit drei zusätzlichen Wachen erschien, um sie aus der Zelle zu holen. Als sie das Gebäude verließen, schlossen sich vier weitere Bewaffnete an. Es ging nach Osten, und lange bevor Mahuika die riesige rote Kuppel vor sich aufragen sah, wusste sie das Ziel: das Schloss des Hohen Rates. Gut. Je öffentlicher, desto besser.
Die Wachen geleiteten sie ins Innere des Gebäudes. Vor der verschlossenen Versammlungshalle wurden sie von einer Saaldienerin empfangen. Nachdem die Wachen sich links und rechts des Portals aufgestellt hatten, stieß die Saaldienerin die Portalflügel auf und verkündete: »Die Gefallene Mahuika, Tochter der Haika, aus dem Hause Laki.«
Alateon, alter Knabe, betete Mahuika still, lass mich jetzt bitte nicht hängen. Dann betrat sie das Parkett.
Sie hatte schon einige Versammlungen des Rates erlebt – aber sie musste feststellen: Es war etwas vollkommen anderes, oben in der Sicherheit einer Loge zu sitzen und darauf zu warten, dass Mutter entschied, ob die Weizensteuern erhöht werden sollten, oder alleine unten auf dem Parkett zu stehen.
Eine Welle des Raunens lief die Galerien entlang. Als Mahuika zu den Logen hochblickte und die formidabel herausgeputzten, in Seide gekleideten Satrapanim sah, verstand sie deren Erregung – ihr eigenes verfilztes Haar hatte seit zwei Monden keinen Kamm mehr gesehen, ihr Gesicht kein anderes Schönheitsmittel als Wasser. Ihr Kleid hielt sich nur noch aus gutem Willen an ihrem Körper. Eine ehemalige Kronprinzessin hatten die Damen in ihrer ehrwürdigen Halle erwartet, und nun stand eine Bettlerin vor ihnen.
Schon am Morgen hatte Kohatu einen ihrer Krieger vorgeschickt, die Ankunft zu melden, trotzdem war Mahuika beeindruckt: Jede Loge war besetzt. Zu gewöhnlichen Versammlungen war selten mehr als die Hälfte der Satrapanim zugegen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Parketts erhob sich eine mehrstufige Estrade, und darauf der Goldene Thron. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah Mahuika den Inbegriff der königlichen Macht, ohne dass ihre Mutter darauf saß.
Sondern Hua. Denselben Brokatmantel, denselben Stirnreif hatte Mutter getragen. Und auch wenn Mahuikas Kopf es besser wusste, ihrem Herzen kam es wie Raub vor.
»Tritt vor«, sagte Hua.
Mahuika hatte den steifen Begrüßungsformeln am Hofe nie viel abgewinnen können. Aber dass Hua nicht einmal einen einfachen Gruß aussprechen wollte, war kein gutes Zeichen.
Mit feuchten Händen trat Mahuika in die Mitte der Halle.
»Knie nieder vor deiner Königin.«
Mahuika zögerte. Sie hatte eine Anklage erwartet, keine Prüfung ihrer Ergebenheit. Ein Zeichen von Gnade? Wollte Hua sie verschonen, wenn sie nur genügend Reue zeigte? Doch die Überlieferungen verlangten den Tod einer jeden, die das Große Ritual nicht vollendete. Würde Hua sich über die alten Regeln hinwegsetzen?
»Nein.«
Geschlossen hielt der Saal den Atem an. Es war so still, dass Mahuika das Pochen in ihrer Brust hörte. Köpfe drehten sich zum goldenen Thron, noch mehr drehten sich zur Galerie darüber. Dort, wo diese spitz zulaufend in den Raum stach, befand sich die Loge der Hohepriesterin.
Aber es war das Abteil daneben, in dem man zuerst die Sprache wiederfand. »Gefallene«, ertönte es aus der Loge des Hauses Laki, »du schmähst die Erwählte Atua-Kores?« Alandra. Die schnarrende Stimme ihrer Großtante war unverkennbar.
»Dies sind die Worte Alateons, der die Dornenkrone trägt«, erklärte Mahuika. Auf der Reise hatte sie sich zurechtgelegt, was sie sagen wollte, hatte an jedem Satz, jedem Wort gefeilt; hatte den Vortrag solange wiederholt, bis sie ihn im Schlaf hätte aufsagen können. »Keine Göttin allein beherrscht die Welt ...«
Empörung in den Rängen. Magische Worte wurden gestammelt, Hände vor die Brust geschlagen.
»Auch Atua-Kore nicht«, fuhr Mahuika unbeirrt fort, hob nur die Stimme gegen die lauter werdenden Rufe. »Der Riese Alateon bietet der Goldenen einen Handel an ...«
»Genug«, rief die Sprecherin Sokai, »schweig!«
»Alle Völker, alles Land, alle Tiere und Pflanzen südlich der Nebelzinnen sollen Atua-Kore untertan sein ...«
»Wachen!«, schrie Sokai.
»... Die Nebelzinnen selbst jedoch sollen meinem Herrn gehören.«
Mit gezogenen Schwertern stürmten die Wachen herein, sahen sich gehetzt um, versuchten herauszufinden, gegen welche Bedrohung sie gerufen worden waren. Doch der allgemeine Aufruhr in den Rängen genügte nicht als Anhaltspunkt, wo der Feind war.
»Führt sie ab!« Sokais Stimme überschlug sich.
Erschrocken sah Mahuika die Wachen auf sich zukommen. Sollte es das schon gewesen sein? »Schlagt ein, und Ihr werdet den Wohlstand Tiratangas bewahren«, rief sie verzweifelt, während sie bereits gepackt wurde. »Schlagt aus, und der Zorn Alateons wird über Euch kommen!«
Die Wachen schleiften sie aus der lärmenden Halle.
Auf einen Schlag war es still.
»Bringt sie zurück«, befahl Hua. Ihr erhobener Arm war es gewesen, der das Toben beendet hatte. »Sage«, begann sie, als die Wachen Mahuika zurück auf die Mitte des Parketts geführt hatten, »was ist es, das uns deinen Herrn fürchten lassen soll?«
»Alateon«, sagte Mahuika, und stellte sich so aufrecht hin, wie die Pranken der Wachen es zuließen, »ist der Herrscher über Feuer und Fels. Weist sein Angebot zurück, und der Schattenberg wird bersten, Ranui selbst wird in Flammen aufgehen.«
Tumult in den Logen der Hohen Häuser.
»Sie muss sterben!«, schrillte Sokais Stimme durch den Lärm.
Wieder hob Hua den Arm, wieder verebbte das Geschrei. »Genug. Du lästerst die Göttin. Der Mund Atua-Kores soll sprechen.«
In der Loge über dem Goldenen Thron stemmte sich die Hohepriesterin aus ihrem Sitz, gestützt von einer Akolythin trat sie an die Balustrade. Sie sah noch verwitterter aus, als Mahuika sie in Erinnerung hatte. »Woher sollen wir wissen«, fragte die Alte dünn, »dass Alateon ein Gott ist, und kein Hirngespinnst?«
Von den Rängen murmelte es Zustimmung.
»Oder schlimmer noch: ein Gesandter der Finsternis?«
Die Satrapanim beeilten sich, ihre Schutzzeichen zu schlagen.
»Wie können wir sichergehen«, fuhr die Hohepriesterin fort, »dass du es bist, eine Gefallene, die Alateon als seine Prophetin erkoren hat?«
»Fragt Kohatu«, erwiderte Mahuika, »sie und ihre Soldaten haben seine Macht in mir wirken sehen.«
»Wie lange wollen wir dieser Elenden zuhören«, rief Sokai, »die unsere Göttin, unsere Königin und jetzt auch noch unsere tapfere Hauptfrau beleidigt? Sie muss sterben, so will es das Gesetz.«
»Tod der Gefallenen!«, erscholl es flammend von den Rängen.
Huas Stirnreif war verrutscht, bedächtig rückte sie ihn gerade. Dann sagte sie: »Ihre Heiligkeit soll entscheiden.«
Aller Augen richteten sich auf die Hohepriesterin.
»Wenn Eure Königliche Hoheit es wünscht«, sagte Amokapua, »werde ich die Münzen werfen.«