17. Kapitel

Je tiefer Kidogo sich mit den Kerben auf den schwarzen Würfeln beschäftigte, desto ratloser ließen sie ihn zurück. Die Schriften zu verstehen, hatte er aufgegeben, aber in die Bilder versenkte er sich Tag für Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, unterbrach sich nur zum Jagen und Früchte sammeln. Dies nahm nicht viel Zeit in Anspruch, der Frühling war da und zeigte sich maßlos in seinen Geschenken. Meistens war er allein; auf der Suche nach weiteren Werken der Erbauer unternahm Aki längere Streifzüge.

Kidogo teilte ihre Meinung, dass es noch mehr Kronen zu finden gab. Aber zugleich war er überzeugt, den Kern der Anlage gefunden zu haben. Entweder sie entlockten den schwarzen Würfeln das Geheimnis – oder es würde ihnen verschlossen bleiben. Über das Zeichen des Dreiklangs zerbrach er sich am heftigsten den Kopf. Zwar mochte es so sein, dass viele der gegenwärtigen Völker die Drei als die Zahl des Ausgleichs betrachteten, selbst die Natur schien es so vorgesehen zu haben. Tag und Nacht brauchten die Dämmerung, Vergangenheit und Zukunft brauchten das Jetzt. Erst wenn das Weibliche und das Männliche sich begegneten, zeugten sie neues Leben. Ein Schemel musste drei Beine haben, um sicher zu stehen. In drei Seiten breitete sich der Raum aus. Zwei Orte bedeuteten nichts füreinander, solange es keinen Weg gab, der sie verband.

Und dennoch. Woher sollte er sicher sein, dass die Erbauer mit ähnlichen Augen die Welt betrachtet hatten?

»Sie kommen«, riss Aki ihn aus seinen Gedanken.

Es war nur ein kleiner Schreck, der ihn erfasste. Es hatte sich nur um eine Frage der Zeit gehandelt. »Wann sind sie hier?«

»Im Viertel einer Stunde«, keuchte Aki. Der Schweiß klebte ihr das Haar gegen die Stirn, sie war gerannt.

»Du willst nicht fliehen?« Er wusste die Antwort, in den letzten vier Tagen hatte er die Frage oft genug gestellt.

Aki fuhr sich mit den Fingern durch die Locken, griff nach einem der Wasserschläuche, die sie genäht hatten, wusch sich das Gesicht.

»Sie werden dir nicht glauben.«

Während ihr noch Wasser von Nase und Kinn tropfte, sagte sie: »Ich habe mich entschieden. Du dich auch.« Es war keine Frage.

Kidogo senkte den Blick, nickte.

Nachdem sie ein letztes Mal das Feuer hochgeschürt hatte, setzte sie sich mit unterschlagenen Beinen neben ihn, in die Mitte der drei riesigen schwarzen Würfel. Bald sahen sie den senkrechten, zittrigen Strich am Horizont, den das Banner Ranuis in den Himmel zeichnete. Die Punkte darunter waren zu klein für Pferde. Dies war wenig überraschend, Kidogo hatte keine Stelle im Kopf, an der man die Tiere auf die Hochebene hätte schaffen können.

»Sie haben Hunde dabei«, bemerkte Aki. »Die Anführerin ist Kohatu, die Hauptfrau meiner Schwester.«

Mit einem Mal hatte Kidogo das Bedürfnis, Aki zu berühren. Er griff nach ihrer Hand, drückte sie. Aki ließ es geschehen. Hand in Hand warteten sie, bis der ranaische Trupp heran war, zwanzig Schritt entfernt vor ihnen Halt machte. Kettenschleudern, Breitschwerter, goldene Rüstungen – dieselbe Bewaffnung wie diejenige der anderen; die Bewaffnung der königlichen Leibwache, hatte Aki ihm erzählt.

Eine Kriegerin mit rotem Mantel über ihrer Rüstung trat vor. Auch ihr Helmbusch war rot. Diejenige, die Aki als Kohatu bezeichnet hatte. Während ihre Begleiter mit großen Augen die Bauten beglotzen, war sie die einzige, deren Blick strickt auf Aki gerichtet blieb. »Mahuika, Tochter der Haika, Gefallene aus dem Hause Laki, im Namen Atua-Kores und der Königin nehme ich dich gefangen.«

»Sag meiner Schwester, Atua-Kores Wort gilt nichts im Reich Alateons.«

Die Soldaten schreckten auf, selbst die Hauptfrau schlug ein Schutzzeichen. »Frevlerin«, zischte sie. »Du hast den Zorn der Göttin bereits auf dich gerichtet, schmähe sie nicht weiter.«

Aki sprang auf. »Dies ist Alateons Reich«, rief sie, »und ich bin Aki, seine Prophetin.« Sie streckte die Arme in den Himmel. »Wagt es, euch an der Prophetin des Dornengottes zu vergehen, und sein Fluch wird euch treffen.« Ihre Augen verdrehten sich, ihre Arme begannen zu zittern, blauer Schaum quoll aus ihrem Mund.

Die Soldaten warfen sich angsterfüllte Blicke zu, zogen in hilflosem Handlungsdrang ihre Waffen. Die Hauptfrau war bleich geworden. Doch sie hielt stand. Kidogo war beeindruckt, denn das Schauspiel, das Aki bot, gruselte sogar ihn – und er selbst war es gewesen, der ihr die Kastanienpaste zusammengerührt und gefärbt hatte.

In die gelähmte Stille hinein nahm Aki ein Scheit aus dem Feuer. Wieder richtete sie sich auf, hielt mit der Linken die behelfsmäßige Fackel vor sich. »Alateon, erhöre mich.« Sie senkte die Rechte über die Flamme. »Schenke mir deine Kraft.«

Trotz ihrer gezogenen Waffen wichen die Soldaten zurück, flüsterten Schutzzauber. Nur die Standhaftigkeit ihrer Führerin schien sie davon abzuhalten, Hals über Kopf das Weite zu suchen. Selbst die Hunde spürten die Unruhe ihrer Meister, zogen an ihren Leinen und bleckten die Zähne.

Während die Flamme um ihre Finger leckte, sprach Aki weiter, so ruhig wie zuvor. »Alateon, mein Gebieter, verschone die Unwissenden, ein letztes Mal, ich bitte dich.«

Wie lange wollte sie das Spiel noch treiben? Genug, es reicht, flehte Kidogo sie im Stillen an. Die Salbe, mit der er ihre Hand eingerieben hatte, würde sie nicht lange schützen. Allein das Zusehen bereitete ihm Schmerzen.

Endlich, mit herausfordernder Langsamkeit, senkte sie das brennende Scheit. »Seht«, rief sie und streckte die Hand, die im Feuer gewesen war, den Ranu entgegen. Nicht die kleinste Brandblase war zu erkennen. »Das Licht Atua-Kores brennt kalt, wenn Alateon es will.«

»Nein«, sagte die Hauptfrau. »Das ist unmöglich.«

»Sag meiner Schwester, Alateon erhebt keinen Anspruch auf Atua-Kores Reich. Wenn sie jedoch glaubt, ihn herausfordern ...«

»Ich bin nicht im Namen Eurer Schwester hier, Gefallene.«

»Du sagtest, die Königin schickt dich ...?«

»Auf dem Goldenen Thron sitzt Königin Hua, Tochter der Rauriki, aus dem Hause Atua-Kore.«

»Aber Torokaha ...«

»Atua-Kore hat es entschieden.« Die Hauptfrau senkte den Blick.

»Nun denn«, sagte Aki und streckte den Rücken durch. »Dann berichte eben Hua.« Ihre Stimme war fest, doch Kidogo kannte Aki inzwischen gut genug, um wahrzunehmen, wie viel Kraft es sie kostete, ihr Entsetzen zu verbergen.

»Wie ist es der Prinzessin ergangen?«, fragte Kidogo. Im Gegensatz zu einer vermeintlichen Prophetin konnte er sich menschliche Neugier leisten.

»Ihre königliche Hoheit hat es Torokaha in ihrer Gnade gestattet, als Besitzlose ihr Leben fortzuführen.«

Bevor Kidogo nachhaken konnte, ergriff Aki wieder das Wort: »Es sei, wie es sei. Geht nach Ranui und verkündet Alateons Macht. So spricht Aki, seine Prophetin.«

Eine Weile lang war nur das Knurren der Hunde zu hören. Eine Böe ergriff das ranaische Banner, bauschte es auf. Niemand sonst rührte sich.

Dann sagte die Hauptfrau: »Atua-Kores Macht reicht von Ozean zu Ozean. Ihre Priesterinnen werden entscheiden.« Sie drehte sich zu ihren Soldaten um. »Nehmt sie fest.«

Keine Regung.

 »Ihr habt euch der Goldenen verschrieben. Nehmt die Frevlerin gefangen – oder geht in die Finsternis.«

Die Soldaten gehorchten.

 

Gescheitert. Kidogo hatte sich sowieso keine großen Hoffnungen gemacht, doch nun, da es vorbei war, setzte es ihm zu. Kaum vermochte er dankbar darüber sein, dass man ihn selbst nicht an Ort und Stelle niedergestreckt hatte. Die Hauptfrau hatte entschieden, dass auch sein Schicksal in die Hände der Priesterinnen Ranuis gelegt werden sollte. Ob sie sich vor dem Blut eines Mandrêb an ihren Händen scheute oder sich schlicht aus der Verantwortung ziehen wollte, wusste er nicht, und es spielte auch keine Rolle.

Die ranaischen Soldaten hatten Aki und Kidogo zwei ihrer Wechselpferde überlassen, so kamen sie rasch voran. Aber Kidogo war seit Jahren nicht mehr geritten, und ab dem ersten Tage brannte sein Hinterteil ununterbrochen. Für eine kühlende Salbe hätte er seine Sandalen gegeben. Allerdings ließen die Soldaten ihn nicht an den Ranzen des Meisters; die Fesseln an seinen Händen lösten sie nie außer abends zum Essen, und dann auch nur so weit, dass er mit Mühe seine Schüssel halten konnte. Nach den Tagen mit frischem Wild war die dünne Suppe, die sie ausgaben, eine traurige Angelegenheit.

Aki hielt sich besser im Sattel als er, doch ihr Feuer war erloschen. Stumm und bleich ritt sie neben ihm. Wenn er abends mit ihr zu sprechen versuchte, drehte sie sich weg, noch bevor die Wachen ihm Schweigen gebieten konnten.

Am zweiten Tag fiel ihm auf, dass ihre Hände sich um die Zügel krallten und trotzdem zitterten. Wieder einen Tag später war sie so schwach, dass sie ohne die Hilfe eines Soldaten nicht auf ihr Pferd gekommen wäre. Mit wachsender Sorge beobachtete Kidogo sie. Als sie am Abend Rast machten, glaubte er, ein Zucken in einem ihrer Augenlider wahrzunehmen. Und da schlug die Erkenntnis wie ein Blitz in ihm ein: Gift.

Nachdem die Soldaten sie zusammen an einen Baum gebunden hatten, machten sie sich daran, das Lager zu errichten, überließen die Gefangenen sich selbst.

»Wie schmeckt deine Suppe?«, zischte Kidogo Aki zu.

Sie murmelte etwas Unverständliches.

»Sag schon: eher nach Lauch oder nach Mandeln? Wässrig oder bitter?«

Ein müdes Lachen, das mehr wie ein Husten klang.

»Ich meine es ernst«, flüsterte Kidogo. »Ich glaube, jemand vergiftet dich.«

Nun kam doch etwas Leben in Aki. So weit die Fesseln es erlaubten, richtete sie sich auf. »Bist du sicher?« Ihre Stimme war heiser, kein Wunder, sie hatte seit Tagen nicht gesprochen.

»Ich denke ...«

»Ruhe!«, bellte die Hauptfrau und befahl ihrem Hundeführer, Wache zu halten. Der kam mit seinen beiden auf Blutdurst gezüchteten Bestien herbei, was das Gespräch beendete.

Aber Kidogo bemerkte die Veränderung in Aki. In ihren erschlafften Körper war die Spannung zurückgekehrt; er traute sich nicht, sich nach ihr umzusehen, aber er spürte, wie ihr Kopf sich neben seinem bewegte. Er ahnte, dass dieselben Fragen sie beschäftigten, die auch er sich gerade stellte: Wenn man Aki töten wollte, warum heimlich? Es konnte nur ein Mitglied des Banners sein ... jemand, der für einen persönlichen Zwist an Aki Rache nehmen wollte und befürchtete, die Priesterinnen würden zu milde entscheiden? Oder ein gedungener Handlanger für jemanden, der eigene Gründe hatte, warum er Akis Rückkehr nach Ranui vermeiden wollte?

 Bange wartete Kidogo darauf, wie die Suppe verteilt wurde. Bisher war es die Hauptfrau selbst gewesen, die den Gefangenen ihre Schalen gebracht hatte. Sollte etwa jene hinter dem Gift stecken? Ein Auftrag ihrer früheren Herrin Torokaha? Aber Aki hatte erzählt, sie habe sich geweigert, ihre Schwester zu töten – müsste diese dann nicht eher dankbar sein, als Mordgelüste empfinden?

Schließlich war das Lager aufgeschlagen, ein Feuer wurde entzündet. Die Suppe kam. Und wieder wurde sie von der Hauptfrau gebracht. Mit angehaltenem Atem lauerte Kidogo darauf, was Aki tun würde. Mechanisch nahm er seine eigene Schale entgegen. Dann war Aki an der Reihe – und tat es ihm gleich.

Die Hauptfrau wandte sich ab. Aus dem Augenwinkel sah Kidogo, wie Aki die Schale zum Mund führte. Hatte sie wirklich zu trinken vor? Glaubte sie ihm nicht? Hatte sie ihn doch nicht verstanden?

Er wollte sie warnen, da fuhr ein Zucken durch ihre Glieder, die Schale fiel ihr aus den Händen, ihr Körper bäumte sich unter den Fesseln. Ein schriller, langgezogener Schrei brach aus ihrer Brust, zerschnitt die Finsternis des nächtlichen Waldes.

Die Soldaten sprangen auf und zogen klirrend ihre Waffen. Wütend zerrten die Hunde an ihren Leinen, monströse Schatten in der Dunkelheit. In den unruhigen Flammen des Feuers flackerten die Reißzähne.

Schon war es vorbei. Aki sackte in sich zusammen. Es war, als wäre auf einen Schlag alles Leben von ihr gewichen. Nur noch die Fesseln hielten sie in ihrer sitzenden Position. Die Soldaten blickten hilflos zu ihrer Hauptfrau. Diese machte mit erhobenem Schwert einen vorsichtigen Schritt auf Aki zu.

Aki riss die Augen auf. »Ich sehe den Tod«, rief sie, mit einer Stimme so staubig wie Asche. »Der Tod ist hier.« Ihr Blick traf die Hauptfrau. »Ranui hat ihn gebracht. Nach Ranui wird er zurückkehren.« Ihr Blick erfasste das Feuer. »Ich sehe ein Feuer. Es ist das Feuer Atua-Kores. Es ist Ranui. Der flammende Tod kommt über Ranui. Es ist das Ende.« Wieder sank sie in ihre Fesseln, als hätten alle Kräfte sie verlassen.

Mit bleichen Gesichtern warteten die Soldaten auf das Handeln ihrer Hauptfrau. Diese rührte sich nicht. Schmatzende Hundelefzen, ein Knacken im Feuer, ein Käuzchen im Wald.

Erneut kehrte das Leben in Aki zurück, zeichnete den Schrecken in die Gesichter der Ranu. Doch diesmal waren Akis Bewegungen langsam, verstreut. »Was ist los?«, flüsterte sie. Abwesend betrachtete sie die blanken Waffen der Soldaten. »Werden wir angegriffen?« Ihr Blick fiel auf die leere Schale in ihrem Schoß, auf die Pfütze auf ihrem Oberschenkel. »Meine Suppe ...«

»Du hast geträumt«, sagte die Hauptfrau und senkte das Schwert. Ihre Stimme war tonlos. Aber Kidogo sah, wie sie die freie Hand nach vorne nahm, aus dem Sichtfeld ihrer Soldaten entfernte, und mit einer kleinen, unauffälligen Geste das Schutzzeichen wider die leibhaftige Versuchung schlug.

 

Sie brauchten drei weitere Tage bis Ranui. Die Soldaten näherten sich Aki nur noch, wenn es sich nicht zu vermeiden war. Abends trank Aki wortlos ihre Suppe. Ihre Hände wurden wieder ruhiger, und auch die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück.