16. Kapitel
Jeder Schritt drückte seine Zehennägel tiefer in ihr blutiges Bett. Doch Schmerz war Schwäche, und Schwäche war nichts, was ein ranaischer Soldat sich gestatten durfte. Asil konnte es seinem Bannerführer nicht verdenken, dass dieser ihn für tot hatte liegen lassen, nachdem die vergifteten Beeren ihre Wirkung getan hatten. Er selbst hatte die Schwingen des Todesvogels bereits rauschen gehört. Als Atua-Kore ihm doch noch ihren gnädigen Blick geschenkt hatte, hatte das Banner bereits das Lager verlassen. Zumindest die Überlebenden. Pakin und Laras lagen bleich und verkrümmt im Schlamm des vom Tauwetter aufgeweichten Waldbodens. Alle Pferde waren mitgenommen worden; die Hufspuren verrieten, dass das Banner in Hast aufgebrochen war. Die Spuren waren frisch, die anderen konnte nicht weit sein. Asil eilte los. Die Vergiftung zog schwer an seinen Gliedern, doch bald hörte er Rufe vor sich. Vor ihm öffnete sich der Wald, gab den Blick auf eine Klamm frei, in der gerade der Mandrêb und die Gefallene verschwanden. Seine Kameraden galoppierten ebenfalls in die Klamm, Bannerführer Deris vorneweg.
Es war offensichtlich, dass die Gefallene nicht entkommen würde. Dennoch rannte Asil seinen Kameraden hinterher. Der Platz eines ranaischen Soldaten war bei seinem Banner.
Ein Zittern durchlief den Boden. Von den Felswänden der Klamm bröckelte Gestein. Asils Kameraden hatten ihre Pferde gezügelt. Deris zog sein Schwert und rief etwas, das Asil nicht verstehen konnte.
»Alateon hat Mahuika als seine Prophetin erwählt«, hallte es aus der Schlucht. Die Stimme des jungen Mandrêb. »Kommt näher und erfahrt seinen Zorn!«
Der Mandrêb? Am Leben? Asil hatte selbst gesehen, wie Laras ihn gefällt hatte. Sein Leben hätte verwirkt sein sollen – und dieser Ansicht dürfte auch Deris gewesen sein, sonst hätte er den Burschen kaum verschont.
Der nächste Wortwechsel war wieder unverständlich. Inzwischen war Asil nur noch fünfzig Schritt von der Klamm entfernt. Da löste sich ein Felsblock von oben, polterte krachend herab, ein Rumpeln unter Asils Sohlen, der Boden verschwand, die Welt stand kopf, Dunkelheit.
Als Asil wieder zu Bewusstsein gekommen war, fehlte von seinem Banner jeder Hinweis. Die Gefallene jedoch lagerte in der Klamm. In der Wärme des Feuers, das neben ihr brannte, schlief der Mandrêb. Er lebte also wirklich. Welche Kräfte waren hier am Werk? Asil schlug das Schutzzeichen wider die verborgene Niedertracht. Sollte er sie gefangen nehmen? Aber seine Kameraden waren geflohen; wie konnte er allein die Buhlen der Schwarzen Nacht herausfordern, noch dazu ohne Deris’ Befehl? Der Platz eines ranaischen Soldaten war bei seinem Banner.
Leise entfernte er sich, schlich zurück in den Schutz des Waldes. Hier und da entdeckte er Schneisen im Farn, Spuren eines ungeordneten Rückzugs. Nachdem er Pakin und Laras notdürftig verscharrt hatte, folgte er den Spuren, bis sie sich auf härterem Grund verloren. Aber die Richtung war klar: zurück nach Ranui.
Also machte Asil sich ebenfalls auf den beschwerlichen Weg zurück in die Hauptstadt Tiratangas. Ohne Reittier konnte er nicht darauf hoffen, den Rest des Banners einzuholen. Nach wenigen Tagen begannen seine Zehen zu bluten. Die Dörfer, an denen er vorbeikam, versorgten ihn mit Speis und Trank, doch in den Blicken der Menschen war wenig Zuneigung. War die scheue Gastfreundschaft, an die er sich erinnerte, nur dem ehrfurchtgebietenden Eindruck geschuldet, den das Banner üblicherweise machte, wenn es auf hohem Ross und in glänzender Rüstung das Wappen Ranuis hochhielt?
In den langen Stunden seiner einsamen Wanderschaft kehrten seine Gedanken immer wieder zu der Gefallenen zurück. Ihr Freund hatte sich als Mandrêb ausgegeben und doch die giftigen Beeren ins Lager gebracht. Dass er es gewagt hatte, die gesegneten Krieger Tiratangas anzugreifen, erschütterte Asil weniger als die Vorstellung, dass die Welt augenscheinlich eine solche Verrohung durchlief, dass selbst auf die Redlichkeit eines Schamanen kein Verlass mehr war. Und die Gefallene selbst – sie hatte das Reich verraten, hatte die ehernen Gesetze der Goldenen Göttin verspottet. Asil kannte sich nicht gut aus, was die Heiligen Schriften betraf, aber dass die Gefallene zu ewiger Finsternis verdammt war, war gewiss. Am tiefsten beunruhigten ihn die Geschehnisse in der Klamm. Welchen dunklen Götzen hatte die Gefallene für ihre Sache gewonnen – und zu welchem Preis? Viele Märchen rankten sich um die Geister der Schwarzen Nacht, die einem Menschen jede Begierde erfüllten, nur um ihn später zu verraten; um seine Seele als gequältes Werkzeug ihrer eigenen abgründigen Machenschaften zu missbrauchen.
Die Taten der Gefallenen waren abscheulich – und trotzdem entdeckte Asil Mitgefühl in seinem Herzen. So sehr die Erkenntnis ihn erschreckte, das Mitgefühl keimte. Es war gefährlich, es war verboten, es entbehrte jeder Vernunft – und es war nicht loszuwerden.
War der dunkle Geist schon in die Gefallene gefahren, als sie noch in der Gewalt des Banners gewesen war? Beklommen erinnerte sich Asil an ihre Rechtfertigung, als er sie gefragt hatte, warum sie das Ritual abgebrochen habe. Dass sie nicht im Namen einer Göttin habe töten können, deren Ziele sie nicht verstehe. Der Satz war eine schauerliche Lästerung. Und doch spukte er seither durch Asils Bewusstsein, als läge eine tiefere Wahrheit darin, nach der er nur die Hand ausstrecken müsste, und schon wäre sie sein. Oder hatte die Gefallene ihn verhext, war es ihr Zauber, der ihn Wahrheit in Worten hören ließ, wo nur Verführung lag?
Am elften Tag zeigte sich der Gipfel des Schattenbergs am Horizont, am zwölften erreichte Asil die Stadt. Als er sich dem Fährmann, der ihn über den Korio setzen sollte, als Soldat im Dienst ausgab, verzichtete jener auf das Entgelt, ohne sich allerdings eines missbilligenden Blicks auf Asils verschmutzten, zerschlissenen Waffenrock zu enthalten.
Auf der anderen Seite des Flusses waren die Straßen voller Bauernkarren und reisender Händlerinnen. Hier wurde die Verachtung noch deutlicher; ein schneller Blick schien zu genügen, Asil als abgehalfterten Landstreicher einzuordnen, der dumm genug gewesen war, die Leiche eines ranaischen Soldaten zu fleddern. Eine Unverfrorenheit, mit der man selbst lieber nicht in Verbindung gebracht werden wollte – ohne Gruß hastete man weiter seinem Ziel entgegen.
Auch wenn der Name der Palastwache bezeugte, dass ihre vordringliche Aufgabe im Schutz der Königin bestand, wurde sie doch auch dafür eingesetzt, neben dem Palast weitere wesentliche Punkte Ranuis zu sichern. Das gewaltige Nordtor war einer davon. Asil hoffte darauf, ein bekanntes Gesicht unter den Wachen zu finden; andernfalls konnte es Stunden dauern, bis man die Echtheit seiner Angaben geprüft hätte. Und das Blut in seinen Stiefeln machte die Aussicht auf langes Warten nicht angenehmer.
Während vor ihm der Wagen eines Reisbauern abgefertigt wurde, sah er sich nach der diensthabenden Offizierin um. Tatsächlich, er hatte Glück, auf den Zinnen entdeckte er Pehu, eine langgediente Kriegerin, wortkarg und ruppig, die allerdings für ihre Schutzbefohlenen durch jedes Feuer schritt. Asil hatte den Umgang mit dem Speer bei ihr gelernt.
Er wartete, bis ihr Blick auf ihm lag, dann hob er den Arm. Sie runzelte die Brauen, doch schien ihn nicht zu erkennen. Er winkte heftiger, doch ihr Blick glitt schon weiter. War er so heruntergekommen? Pehu war als beinharte Ausbilderin berüchtigt, aber auch dafür bekannt, dass sie niemanden vergaß, den sie einmal in den Schlamm geschickt hatte.
»Schwertführerin«, rief Asil, »ich bin es, Asil aus dem Banner des Deris.«
Die Angerufene antwortete nicht, zog sich stattdessen von den Zinnen zurück. Was hatte das bloß zu bedeuten? Zumindest den Namen musste sie zuordnen können.
»Was willst du?«, blaffte eine der Torwachen, die breitbeinig auf ihn zukam. Der rote Kreis auf dem Waffenrock zeigte ein einzelnes goldenes Schwert, wies den Träger also als einen Gefreiten des gemeinen Heeres aus. Er hielt einen Speer in der Hand, den er bedrohlich senkte.
»Haltung, Soldat«, befahl Asil. Die denkbar schlechteste Entgegnung.
Der Mann senkte seinen Speer. »Wie sprichst du mit mir, Wurm?«
»Nimm deinen Stock runter«, knurrte Asil, »oder ich verdresche dir den Hosenboden damit.« Er hätte den armen Jungen nicht so anfahren müssen, aber er war erschöpft, Pehus sonderbare Reaktion verwirrte ihn – und wenn er die Seidenzunge einer Satrapa gehabt hätte, wäre er wohl kaum Soldat geworden.
Die Schultermuskeln des Gefreiten spannten sich, seine Füße drehten sich für besseren Halt. Verflucht, sollte er eben kommen. Das Gesetz war auf Asils Seite, schäbiger Waffenrock hin oder her.
»Genug!«, ertönte es vom Tor aus. Eine Stimme, die gewohnt war, zu befehlen. Pehu. Mit gnadenloser Zielstrebigkeit eilte sie herbei; durch zwei gaffende Rosenhändler wäre sie wohl geradewegs hindurchgerauscht, wären diese nicht im letzten Moment zur Seite gesprungen.
»Soldat«, befahl sie dem jugendlichen Speerträger, »zügel deine Waffe.«
»Dieser Wegelagerer ...«, versuchte der Gescholtene sich zu verteidigen.
»Zurück ans Tor«, unterbrach ihn Pehu in tödlicher Kälte. »Ich kümmere mich um ihn.«
Nun begriff der Junge, dass ein weiterer Einspruch nicht zielführend war; schleunigst tat er, wie ihm geheißen.
»Danke, Schwertführerin ...«, begann Asil.
»Still, Armseliger«, herrschte Pehu ihn an. »Was glaubst du, wer du bist, den Rock der Palastwache zu besudeln.«
»Ich bin Asil, erkennt Ihr mich nicht ...«
»Schweig.« Sie packte ihn am Arm, zerrte ihn von der Straße. Als sie außer Hörweite waren, zischte sie: »Du bist in Gefahr, Asil. Dein Banner ist ausgelöscht, gehängt wegen Hochverrats.«
»Was ...? Wieso?«
»Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen. Dass ich dir helfe, ist dumm genug.«
»Und ... ich meine ... was soll ich jetzt machen?«
»Zieh deine Rüstung aus und verschwinde. Lauf, soweit du kannst.«
Alle Geräusche verstummten, das Fluchen der Bauern, das Murren der Ochsen, die blechernen Befehle der Torwachen. In seinem inneren Ohr jedoch hörte Asil sein Leben krachend in sich zusammenstürzen. »Ich habe einen Bruder im dritten Ring ...«
»Du kannst nicht in Ranui bleiben.«
Die Worte prasselten wie Eisregen auf ihn ein. »Ich muss mich ...«, seine Stimme versagte. »Ich muss mich verabschieden.«
Pehu wandte sich um, wollte sich offensichtlich vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurden; noch war niemand neugierig auf ihr Zwiegespräch geworden, noch sahen die Leute nur eine Offizierin, die einen Streuner maßregelte. »Am Westtor halten heute nur Gemeine Wache. Wenn du ohne Waffenrock Einlass erbittest, werden sie dich nicht erkennen.«
»Danke, Schwertführerin.«
Wieder warf sie einen gehetzten Blick über die Schulter. »Versprich mir, dass du noch heute Nacht die Stadt verlässt.«
Es war zu viel. Asil war jahrelang ausgebildet worden, jeder Gefahr unerschrocken ins Auge zu blicken. Aber das hier – was sollte man tun, wenn der Feind aus den eigenen Reihen kam? »Warum hilfst du mir?«
»Wenn ich es dir sage, gehst du dann endlich? Ich mag dich, Asil. Du erinnerst mich an unsere Hauptfrau, du glaubst immer noch an das Gute.«
»Was soll das heißen?«
»Du bist zu dumm für Hochverrat. Geh.«
Pehu sollte recht behalten, am Westtor bereitete der Einlass in den dritten Ring keinerlei Schwierigkeiten. Schwieriger war, den Bruder zu sehen. Dieser hatte Asil für tot gehalten, seit das Banner ohne ihn nach Ranui zurückgekehrt war. Ihn jetzt wiederzufinden und doch gleich wieder zu verlieren, machte den Abschied zu einem tränenreichen Kampf. Doch schließlich riss Asil sich los, nahm das Bündel, das der Bruder ihm geschnürt hatte, und stolperte mit nassen Wangen durch die stinkenden, vertrauten, geliebten Gassen des dritten Rings.
Je weiter er sich von der Hütte des Bruders entfernte, desto deutlicher merkte er, dass nicht nur dessen Verlust ihn aufrieb. Wie ein Raubtier umschlich ihn die Angst. Die Angst, entdeckt zu werden, die Angst vor dem Tod. In der Palastwache lachte man dem Tod ins Gesicht, und Asil hatte mitgelacht. Jetzt war es anders.
Erst als er sein Viertel verlassen hatte, beruhigte er sich etwas. Wer zusammen aufgewachsen war, stand füreinander ein, im Viertel kannte man sich – doch außerhalb des eigenen Viertels kämpfte im dritten Ring jeder für sich selbst. Er hatte seine Rüstung gegen ein einfaches Gewand seines Bruders getauscht, niemand würde ihn erkennen.
Die dämmerte bereits, ein Umstand, der zusätzlich half, das Korsett zu lockern, das sich um seine Brust gelegt hatte; am Abend schlossen die Märkte, und die Bauern verließen die Stadt. Am Tor würde Trubel herrschen. Zum ersten Mal, seit Pehu ihn gewarnt hatte, gelang es ihm, einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Banner war des Hochverrats beschuldigt worden, hatte die Schwertführerin behauptet. Im Lichte der Umstände besehen, konnte das nicht einmal sonderlich überraschen: Der Auftrag war gewesen, die Gefallene nach Ranui zu bringen. Sie hatten versagt.
Aus einer Kaschemme drang der Geruch gekochter Zwiebeln. Asils Magen knurrte. Er hatte seit Tagen nichts mehr Ordentliches gegessen. Ein Blick in seinen Beutel bestätigte ihm, was er befürchtet hatte: In der Eile hatten sie nicht daran gedacht, Proviant einzupacken. Zurück zu seinem Bruder? Nein, er hatte ihn schon genug gefährdet. Außerhalb der Stadt einen Bauern bitten? Er war kein Bettler. Und vielleicht war es gar nicht schlecht, noch ein Stündchen zu warten, bis das Gedränge am Tor seinen Höhepunkt erreicht haben würde. Asil betrat die Kaschemme.
Sogleich umhüllte ihn eine Dunstwolke aus Qualm, Schweiß und fauligem Atem. Die Lautstärke, mit der alles durcheinander schrie, deutete darauf hin, dass die meisten der zwei Dutzend Gäste ihr erstes Bier bereits eine Weile hinter sich hatten. Es gab kaum einen freien Platz, Asil kämpfte sich zur Theke durch. Während er auf Eintopf und Bier wartete, sah er sich die anderen Anwesenden an. Handwerksvolk, niedere Dienerschaft, Trödlerinnen. Man konnte es schlimmer treffen im dritten Ring, dennoch waren die Gesichter verhärmt, die Hände schwielig und vernarbt von der fortwährenden Anstrengung, sich die Münzen für den täglichen Bissen Brot zu verdienen. Gesegnet war das ranaische Volk, sagten die Priesterinnen, denn keinem anderen leuchtete Atua-Kores Gnade so hell. Aber die Augen, die Asil sah, blickten stumpf in leere Bierkrüge oder glänzten fiebrig in jener überspannten Heiterkeit, in der die Angst vor dem Morgen stets mitschwang. Wie konnten die Priesterinnen von Gnade reden, wenn das Leben nicht mehr war als ein täglicher Kampf gegen den Hunger und die Einsamkeit?
Asil zuckte zusammen, schlug hastig das Schutzzeichen wider die leibhaftige Versuchung. Es stand ihm nicht zu, die Goldene in Frage zu stellen. Seine Bestellung kam. Auf einen Zug trank er das Bier, dann machte er sich über den Eintopf her. Warme Speise. Er hatte nicht geahnt, wie sehr er sie vermisst hatte. In Minuten hatte er die Schüssel geleert, bestellte eine zweite.
»Der Mann kann essen«, grölte jemand vom nächsten Tisch. Vier Frauen mittleren Alters saßen um einen Würfelbecher, ihre gelb-roten Schärpen wiesen sie als Kürschnerinnen aus. Die Frau, die gerufen hatte, hatte raspelkurzes, rotes Haar, rote Wangen und ein für den dritten Ring ungewöhnlich hübsches Lächeln. Sie schob die Gefährtin, die neben ihr auf der Bank saß, zur Seite, und winkte. »Komm, setz dich.«
Asil zögerte.
»Jetzt zier dich nicht.«
Andererseits, was sollte schon passieren. Sobald er den zweiten Eintopf gelöffelt hätte, würde er sich aus dem Staub machen.
»Einen so muskulösen Burschen sieht man echt nicht alle Tage«, rief die Rothaarige. »Was machst du?«
»Ich bin Zimmermann.«
»Wo ist deine Schärpe?«
Verflucht, wie schnell begann die Sache aus dem Ruder zu laufen. »Also ... na ja, ich habe den Meister gewechselt ...bekomm erst morgen meine neue.«
Der fadenscheinigste Vorwand überhaupt, doch die Rothaarige schien zufrieden. »Würfelst du?«
»Manchmal ...«
»Wunderbar. Wir spielen Sieben mal vier.«
»Also ...«
»Jetzt komm schon.«
»Na gut, eine Runde.«
Der Würfelbecher kreiste, die Runde ging vorbei, Asil hatte gewonnen. Ehe er sich versah, hatte er sich zu einer zweiten bereiterklärt. Zur dritten setzte er aus, weil sein Eintopf kam. Die vierte würde seine letzte sein, schwor er sich, und bestellte zur Bekräftigung ein letztes Bier.
Diesmal gewann die Rothaarige. »Ein Hoch auf die Goldene Göttin«, rief sie und strich ihre Gewinne ein. »Ein Hoch auf die Einzige«, beendeten ihre Gefährtinnen die Formel.
»Was ist mit dir?«, fragte die Rothaarige Asil, der geschwiegen hatte. »Haderst du mit deiner Göttin?«
»Nein, wie könnte ich, ein Hoch auf die Goldene.«
Mit schief gezogenem Mund musterte sie ihn. »Irgendwas beschäftigt dich doch ... du schlingst deine Suppe wie ein Styrk, hältst mit niemandem den Blick, schaust ständig zur Tür. Hast du Ärger?« Sie zog ein Ledermesser aus ihrem Stiefel, legte es auf den Tisch. »Du hast mit uns getrunken und gewürfelt. Du gehörst zu uns.« Mit zwei Fingern versetzte sie dem Messer einen Schwung, dass es zu kreiseln begann. »Sag, wer dir Ärger macht, und wir reden mit dem Fetzenschädel.«
Die anderen Kürschnerinnen hieben zustimmend ihre Fäuste auf den Tisch.
»Schon gut«, winkte Asil ab. »Ich glaube, ich muss auch mal los.«
Die Rothaarige legte ihre Hand auf den Arm, mit dem er sich vom Tisch hochgedrückt hatte. »Ehrlich, wir helfen dir. Gleich, gegen wen.«
»Und wenn es Atua-Kore wäre?«
Kaum hatte er es ausgesprochen, verkrampfte sein Kiefer, der Schweiß brach ihm aus. Was hatte er getan, welch einen Frevel begangen.
Mit offenen Mündern starrten die Kürschnerinnen ihn an.
»Ein Scherz«, stammelte Asil, »es war ein Scherz.«
Die Kürschnerinnen schlugen das Schutzzeichen wider die vollkommene Finsternis.
»Besser, du gehst«, sagte die Rothaarige.
»Gibt es ein Problem?«, erscholl von der Theke die Stimme des Wirts.
»Nein, nein ...«, versicherte Asil, während er zusah, die Tür zu erreichen.
»Der Bursche hat die Goldene verspottet«, sagte die Rothaarige. Der ganze Raum ächzte auf, Köpfe drehten sich, Schutzzeichen wurden geschlagen, magische Worte geflüstert.
»In meinem Haus?«, polterte der Wirt. »Du kommst hier rein, trinkst von meinem Bier, sitzt an meiner Tafel – und wagst es, der Goldenen Göttin zu spotten?«
»Ein Missverständnis ... verzeiht mir, ich bitte Euch.«
Inzwischen war der Wirt hinter seiner Theke hervorgetreten, marschierte mit geballten Fäusten auf Asil zu. »Mich bittest du um Verzeihung?«, schrie er. »Lästerst die Goldene, und mich bittest du um Verzeihung?«
Asil wich zurück, wollte die Tür erreichen, doch mehrere Gäste waren aufgestanden, verstellten ihm den Weg. Der Wirt war heran, auf seiner Unterlippe hing ein Speicheltropfen. »Die Priesterinnen werden dich lehren, was es heißt, der Goldenen zu spotten.« Er griff nach Asil, der wich aus, schleuderte einen weiteren Angreifer gegen einen dritten, suchte eine Lücke zur Tür, doch schon packte ihn ein vierter Gegner, ein fünfter, die ganze Kneipe war auf den Beinen, stürzte sich von allen Seiten über ihn.
Das Letzte, was Asil sah, bevor er zu Boden gerungen wurde, war die rothaarige Kürschnerin, die das Geschehen aus der Ferne beobachtete. In ihrem Blick lag kein Mitleid.
Weitere Kapitel:
Jeder Schritt drückte seine Zehennägel tiefer in ihr blutiges Bett. Doch Schmerz war Schwäche, und Schwäche war nichts, was ein ranaischer Soldat sich gestatten durfte. Asil konnte es seinem Bannerführer nicht verdenken, dass dieser ihn für tot hatte liegen lassen, nachdem die vergifteten Beeren ihre Wirkung getan hatten. Er selbst hatte die Schwingen des Todesvogels bereits rauschen gehört. Als Atua-Kore ihm doch noch ihren gnädigen Blick geschenkt hatte, hatte das Banner bereits das Lager verlassen. Zumindest die Überlebenden. Pakin und Laras lagen bleich und verkrümmt im Schlamm des vom Tauwetter aufgeweichten Waldbodens. Alle Pferde waren mitgenommen worden; die Hufspuren verrieten, dass das Banner in Hast aufgebrochen war. Die Spuren waren frisch, die anderen konnte nicht weit sein. Asil eilte los. Die Vergiftung zog schwer an seinen Gliedern, doch bald hörte er Rufe vor sich. Vor ihm öffnete sich der Wald, gab den Blick auf eine Klamm frei, in der gerade der Mandrêb und die Gefallene verschwanden. Seine Kameraden galoppierten ebenfalls in die Klamm, Bannerführer Deris vorneweg.
Es war offensichtlich, dass die Gefallene nicht entkommen würde. Dennoch rannte Asil seinen Kameraden hinterher. Der Platz eines ranaischen Soldaten war bei seinem Banner.
Ein Zittern durchlief den Boden. Von den Felswänden der Klamm bröckelte Gestein. Asils Kameraden hatten ihre Pferde gezügelt. Deris zog sein Schwert und rief etwas, das Asil nicht verstehen konnte.
»Alateon hat Mahuika als seine Prophetin erwählt«, hallte es aus der Schlucht. Die Stimme des jungen Mandrêb. »Kommt näher und erfahrt seinen Zorn!«
Der Mandrêb? Am Leben? Asil hatte selbst gesehen, wie Laras ihn gefällt hatte. Sein Leben hätte verwirkt sein sollen – und dieser Ansicht dürfte auch Deris gewesen sein, sonst hätte er den Burschen kaum verschont.
Der nächste Wortwechsel war wieder unverständlich. Inzwischen war Asil nur noch fünfzig Schritt von der Klamm entfernt. Da löste sich ein Felsblock von oben, polterte krachend herab, ein Rumpeln unter Asils Sohlen, der Boden verschwand, die Welt stand kopf, Dunkelheit.
Als Asil wieder zu Bewusstsein gekommen war, fehlte von seinem Banner jeder Hinweis. Die Gefallene jedoch lagerte in der Klamm. In der Wärme des Feuers, das neben ihr brannte, schlief der Mandrêb. Er lebte also wirklich. Welche Kräfte waren hier am Werk? Asil schlug das Schutzzeichen wider die verborgene Niedertracht. Sollte er sie gefangen nehmen? Aber seine Kameraden waren geflohen; wie konnte er allein die Buhlen der Schwarzen Nacht herausfordern, noch dazu ohne Deris’ Befehl? Der Platz eines ranaischen Soldaten war bei seinem Banner.
Leise entfernte er sich, schlich zurück in den Schutz des Waldes. Hier und da entdeckte er Schneisen im Farn, Spuren eines ungeordneten Rückzugs. Nachdem er Pakin und Laras notdürftig verscharrt hatte, folgte er den Spuren, bis sie sich auf härterem Grund verloren. Aber die Richtung war klar: zurück nach Ranui.
Also machte Asil sich ebenfalls auf den beschwerlichen Weg zurück in die Hauptstadt Tiratangas. Ohne Reittier konnte er nicht darauf hoffen, den Rest des Banners einzuholen. Nach wenigen Tagen begannen seine Zehen zu bluten. Die Dörfer, an denen er vorbeikam, versorgten ihn mit Speis und Trank, doch in den Blicken der Menschen war wenig Zuneigung. War die scheue Gastfreundschaft, an die er sich erinnerte, nur dem ehrfurchtgebietenden Eindruck geschuldet, den das Banner üblicherweise machte, wenn es auf hohem Ross und in glänzender Rüstung das Wappen Ranuis hochhielt?
In den langen Stunden seiner einsamen Wanderschaft kehrten seine Gedanken immer wieder zu der Gefallenen zurück. Ihr Freund hatte sich als Mandrêb ausgegeben und doch die giftigen Beeren ins Lager gebracht. Dass er es gewagt hatte, die gesegneten Krieger Tiratangas anzugreifen, erschütterte Asil weniger als die Vorstellung, dass die Welt augenscheinlich eine solche Verrohung durchlief, dass selbst auf die Redlichkeit eines Schamanen kein Verlass mehr war. Und die Gefallene selbst – sie hatte das Reich verraten, hatte die ehernen Gesetze der Goldenen Göttin verspottet. Asil kannte sich nicht gut aus, was die Heiligen Schriften betraf, aber dass die Gefallene zu ewiger Finsternis verdammt war, war gewiss. Am tiefsten beunruhigten ihn die Geschehnisse in der Klamm. Welchen dunklen Götzen hatte die Gefallene für ihre Sache gewonnen – und zu welchem Preis? Viele Märchen rankten sich um die Geister der Schwarzen Nacht, die einem Menschen jede Begierde erfüllten, nur um ihn später zu verraten; um seine Seele als gequältes Werkzeug ihrer eigenen abgründigen Machenschaften zu missbrauchen.
Die Taten der Gefallenen waren abscheulich – und trotzdem entdeckte Asil Mitgefühl in seinem Herzen. So sehr die Erkenntnis ihn erschreckte, das Mitgefühl keimte. Es war gefährlich, es war verboten, es entbehrte jeder Vernunft – und es war nicht loszuwerden.
War der dunkle Geist schon in die Gefallene gefahren, als sie noch in der Gewalt des Banners gewesen war? Beklommen erinnerte sich Asil an ihre Rechtfertigung, als er sie gefragt hatte, warum sie das Ritual abgebrochen habe. Dass sie nicht im Namen einer Göttin habe töten können, deren Ziele sie nicht verstehe. Der Satz war eine schauerliche Lästerung. Und doch spukte er seither durch Asils Bewusstsein, als läge eine tiefere Wahrheit darin, nach der er nur die Hand ausstrecken müsste, und schon wäre sie sein. Oder hatte die Gefallene ihn verhext, war es ihr Zauber, der ihn Wahrheit in Worten hören ließ, wo nur Verführung lag?
Am elften Tag zeigte sich der Gipfel des Schattenbergs am Horizont, am zwölften erreichte Asil die Stadt. Als er sich dem Fährmann, der ihn über den Korio setzen sollte, als Soldat im Dienst ausgab, verzichtete jener auf das Entgelt, ohne sich allerdings eines missbilligenden Blicks auf Asils verschmutzten, zerschlissenen Waffenrock zu enthalten.
Auf der anderen Seite des Flusses waren die Straßen voller Bauernkarren und reisender Händlerinnen. Hier wurde die Verachtung noch deutlicher; ein schneller Blick schien zu genügen, Asil als abgehalfterten Landstreicher einzuordnen, der dumm genug gewesen war, die Leiche eines ranaischen Soldaten zu fleddern. Eine Unverfrorenheit, mit der man selbst lieber nicht in Verbindung gebracht werden wollte – ohne Gruß hastete man weiter seinem Ziel entgegen.
Auch wenn der Name der Palastwache bezeugte, dass ihre vordringliche Aufgabe im Schutz der Königin bestand, wurde sie doch auch dafür eingesetzt, neben dem Palast weitere wesentliche Punkte Ranuis zu sichern. Das gewaltige Nordtor war einer davon. Asil hoffte darauf, ein bekanntes Gesicht unter den Wachen zu finden; andernfalls konnte es Stunden dauern, bis man die Echtheit seiner Angaben geprüft hätte. Und das Blut in seinen Stiefeln machte die Aussicht auf langes Warten nicht angenehmer.
Während vor ihm der Wagen eines Reisbauern abgefertigt wurde, sah er sich nach der diensthabenden Offizierin um. Tatsächlich, er hatte Glück, auf den Zinnen entdeckte er Pehu, eine langgediente Kriegerin, wortkarg und ruppig, die allerdings für ihre Schutzbefohlenen durch jedes Feuer schritt. Asil hatte den Umgang mit dem Speer bei ihr gelernt.
Er wartete, bis ihr Blick auf ihm lag, dann hob er den Arm. Sie runzelte die Brauen, doch schien ihn nicht zu erkennen. Er winkte heftiger, doch ihr Blick glitt schon weiter. War er so heruntergekommen? Pehu war als beinharte Ausbilderin berüchtigt, aber auch dafür bekannt, dass sie niemanden vergaß, den sie einmal in den Schlamm geschickt hatte.
»Schwertführerin«, rief Asil, »ich bin es, Asil aus dem Banner des Deris.«
Die Angerufene antwortete nicht, zog sich stattdessen von den Zinnen zurück. Was hatte das bloß zu bedeuten? Zumindest den Namen musste sie zuordnen können.
»Was willst du?«, blaffte eine der Torwachen, die breitbeinig auf ihn zukam. Der rote Kreis auf dem Waffenrock zeigte ein einzelnes goldenes Schwert, wies den Träger also als einen Gefreiten des gemeinen Heeres aus. Er hielt einen Speer in der Hand, den er bedrohlich senkte.
»Haltung, Soldat«, befahl Asil. Die denkbar schlechteste Entgegnung.
Der Mann senkte seinen Speer. »Wie sprichst du mit mir, Wurm?«
»Nimm deinen Stock runter«, knurrte Asil, »oder ich verdresche dir den Hosenboden damit.« Er hätte den armen Jungen nicht so anfahren müssen, aber er war erschöpft, Pehus sonderbare Reaktion verwirrte ihn – und wenn er die Seidenzunge einer Satrapa gehabt hätte, wäre er wohl kaum Soldat geworden.
Die Schultermuskeln des Gefreiten spannten sich, seine Füße drehten sich für besseren Halt. Verflucht, sollte er eben kommen. Das Gesetz war auf Asils Seite, schäbiger Waffenrock hin oder her.
»Genug!«, ertönte es vom Tor aus. Eine Stimme, die gewohnt war, zu befehlen. Pehu. Mit gnadenloser Zielstrebigkeit eilte sie herbei; durch zwei gaffende Rosenhändler wäre sie wohl geradewegs hindurchgerauscht, wären diese nicht im letzten Moment zur Seite gesprungen.
»Soldat«, befahl sie dem jugendlichen Speerträger, »zügel deine Waffe.«
»Dieser Wegelagerer ...«, versuchte der Gescholtene sich zu verteidigen.
»Zurück ans Tor«, unterbrach ihn Pehu in tödlicher Kälte. »Ich kümmere mich um ihn.«
Nun begriff der Junge, dass ein weiterer Einspruch nicht zielführend war; schleunigst tat er, wie ihm geheißen.
»Danke, Schwertführerin ...«, begann Asil.
»Still, Armseliger«, herrschte Pehu ihn an. »Was glaubst du, wer du bist, den Rock der Palastwache zu besudeln.«
»Ich bin Asil, erkennt Ihr mich nicht ...«
»Schweig.« Sie packte ihn am Arm, zerrte ihn von der Straße. Als sie außer Hörweite waren, zischte sie: »Du bist in Gefahr, Asil. Dein Banner ist ausgelöscht, gehängt wegen Hochverrats.«
»Was ...? Wieso?«
»Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen. Dass ich dir helfe, ist dumm genug.«
»Und ... ich meine ... was soll ich jetzt machen?«
»Zieh deine Rüstung aus und verschwinde. Lauf, soweit du kannst.«
Alle Geräusche verstummten, das Fluchen der Bauern, das Murren der Ochsen, die blechernen Befehle der Torwachen. In seinem inneren Ohr jedoch hörte Asil sein Leben krachend in sich zusammenstürzen. »Ich habe einen Bruder im dritten Ring ...«
»Du kannst nicht in Ranui bleiben.«
Die Worte prasselten wie Eisregen auf ihn ein. »Ich muss mich ...«, seine Stimme versagte. »Ich muss mich verabschieden.«
Pehu wandte sich um, wollte sich offensichtlich vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurden; noch war niemand neugierig auf ihr Zwiegespräch geworden, noch sahen die Leute nur eine Offizierin, die einen Streuner maßregelte. »Am Westtor halten heute nur Gemeine Wache. Wenn du ohne Waffenrock Einlass erbittest, werden sie dich nicht erkennen.«
»Danke, Schwertführerin.«
Wieder warf sie einen gehetzten Blick über die Schulter. »Versprich mir, dass du noch heute Nacht die Stadt verlässt.«
Es war zu viel. Asil war jahrelang ausgebildet worden, jeder Gefahr unerschrocken ins Auge zu blicken. Aber das hier – was sollte man tun, wenn der Feind aus den eigenen Reihen kam? »Warum hilfst du mir?«
»Wenn ich es dir sage, gehst du dann endlich? Ich mag dich, Asil. Du erinnerst mich an unsere Hauptfrau, du glaubst immer noch an das Gute.«
»Was soll das heißen?«
»Du bist zu dumm für Hochverrat. Geh.«
Pehu sollte recht behalten, am Westtor bereitete der Einlass in den dritten Ring keinerlei Schwierigkeiten. Schwieriger war, den Bruder zu sehen. Dieser hatte Asil für tot gehalten, seit das Banner ohne ihn nach Ranui zurückgekehrt war. Ihn jetzt wiederzufinden und doch gleich wieder zu verlieren, machte den Abschied zu einem tränenreichen Kampf. Doch schließlich riss Asil sich los, nahm das Bündel, das der Bruder ihm geschnürt hatte, und stolperte mit nassen Wangen durch die stinkenden, vertrauten, geliebten Gassen des dritten Rings.
Je weiter er sich von der Hütte des Bruders entfernte, desto deutlicher merkte er, dass nicht nur dessen Verlust ihn aufrieb. Wie ein Raubtier umschlich ihn die Angst. Die Angst, entdeckt zu werden, die Angst vor dem Tod. In der Palastwache lachte man dem Tod ins Gesicht, und Asil hatte mitgelacht. Jetzt war es anders.
Erst als er sein Viertel verlassen hatte, beruhigte er sich etwas. Wer zusammen aufgewachsen war, stand füreinander ein, im Viertel kannte man sich – doch außerhalb des eigenen Viertels kämpfte im dritten Ring jeder für sich selbst. Er hatte seine Rüstung gegen ein einfaches Gewand seines Bruders getauscht, niemand würde ihn erkennen.
Die dämmerte bereits, ein Umstand, der zusätzlich half, das Korsett zu lockern, das sich um seine Brust gelegt hatte; am Abend schlossen die Märkte, und die Bauern verließen die Stadt. Am Tor würde Trubel herrschen. Zum ersten Mal, seit Pehu ihn gewarnt hatte, gelang es ihm, einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Banner war des Hochverrats beschuldigt worden, hatte die Schwertführerin behauptet. Im Lichte der Umstände besehen, konnte das nicht einmal sonderlich überraschen: Der Auftrag war gewesen, die Gefallene nach Ranui zu bringen. Sie hatten versagt.
Aus einer Kaschemme drang der Geruch gekochter Zwiebeln. Asils Magen knurrte. Er hatte seit Tagen nichts mehr Ordentliches gegessen. Ein Blick in seinen Beutel bestätigte ihm, was er befürchtet hatte: In der Eile hatten sie nicht daran gedacht, Proviant einzupacken. Zurück zu seinem Bruder? Nein, er hatte ihn schon genug gefährdet. Außerhalb der Stadt einen Bauern bitten? Er war kein Bettler. Und vielleicht war es gar nicht schlecht, noch ein Stündchen zu warten, bis das Gedränge am Tor seinen Höhepunkt erreicht haben würde. Asil betrat die Kaschemme.
Sogleich umhüllte ihn eine Dunstwolke aus Qualm, Schweiß und fauligem Atem. Die Lautstärke, mit der alles durcheinander schrie, deutete darauf hin, dass die meisten der zwei Dutzend Gäste ihr erstes Bier bereits eine Weile hinter sich hatten. Es gab kaum einen freien Platz, Asil kämpfte sich zur Theke durch. Während er auf Eintopf und Bier wartete, sah er sich die anderen Anwesenden an. Handwerksvolk, niedere Dienerschaft, Trödlerinnen. Man konnte es schlimmer treffen im dritten Ring, dennoch waren die Gesichter verhärmt, die Hände schwielig und vernarbt von der fortwährenden Anstrengung, sich die Münzen für den täglichen Bissen Brot zu verdienen. Gesegnet war das ranaische Volk, sagten die Priesterinnen, denn keinem anderen leuchtete Atua-Kores Gnade so hell. Aber die Augen, die Asil sah, blickten stumpf in leere Bierkrüge oder glänzten fiebrig in jener überspannten Heiterkeit, in der die Angst vor dem Morgen stets mitschwang. Wie konnten die Priesterinnen von Gnade reden, wenn das Leben nicht mehr war als ein täglicher Kampf gegen den Hunger und die Einsamkeit?
Asil zuckte zusammen, schlug hastig das Schutzzeichen wider die leibhaftige Versuchung. Es stand ihm nicht zu, die Goldene in Frage zu stellen. Seine Bestellung kam. Auf einen Zug trank er das Bier, dann machte er sich über den Eintopf her. Warme Speise. Er hatte nicht geahnt, wie sehr er sie vermisst hatte. In Minuten hatte er die Schüssel geleert, bestellte eine zweite.
»Der Mann kann essen«, grölte jemand vom nächsten Tisch. Vier Frauen mittleren Alters saßen um einen Würfelbecher, ihre gelb-roten Schärpen wiesen sie als Kürschnerinnen aus. Die Frau, die gerufen hatte, hatte raspelkurzes, rotes Haar, rote Wangen und ein für den dritten Ring ungewöhnlich hübsches Lächeln. Sie schob die Gefährtin, die neben ihr auf der Bank saß, zur Seite, und winkte. »Komm, setz dich.«
Asil zögerte.
»Jetzt zier dich nicht.«
Andererseits, was sollte schon passieren. Sobald er den zweiten Eintopf gelöffelt hätte, würde er sich aus dem Staub machen.
»Einen so muskulösen Burschen sieht man echt nicht alle Tage«, rief die Rothaarige. »Was machst du?«
»Ich bin Zimmermann.«
»Wo ist deine Schärpe?«
Verflucht, wie schnell begann die Sache aus dem Ruder zu laufen. »Also ... na ja, ich habe den Meister gewechselt ...bekomm erst morgen meine neue.«
Der fadenscheinigste Vorwand überhaupt, doch die Rothaarige schien zufrieden. »Würfelst du?«
»Manchmal ...«
»Wunderbar. Wir spielen Sieben mal vier.«
»Also ...«
»Jetzt komm schon.«
»Na gut, eine Runde.«
Der Würfelbecher kreiste, die Runde ging vorbei, Asil hatte gewonnen. Ehe er sich versah, hatte er sich zu einer zweiten bereiterklärt. Zur dritten setzte er aus, weil sein Eintopf kam. Die vierte würde seine letzte sein, schwor er sich, und bestellte zur Bekräftigung ein letztes Bier.
Diesmal gewann die Rothaarige. »Ein Hoch auf die Goldene Göttin«, rief sie und strich ihre Gewinne ein. »Ein Hoch auf die Einzige«, beendeten ihre Gefährtinnen die Formel.
»Was ist mit dir?«, fragte die Rothaarige Asil, der geschwiegen hatte. »Haderst du mit deiner Göttin?«
»Nein, wie könnte ich, ein Hoch auf die Goldene.«
Mit schief gezogenem Mund musterte sie ihn. »Irgendwas beschäftigt dich doch ... du schlingst deine Suppe wie ein Styrk, hältst mit niemandem den Blick, schaust ständig zur Tür. Hast du Ärger?« Sie zog ein Ledermesser aus ihrem Stiefel, legte es auf den Tisch. »Du hast mit uns getrunken und gewürfelt. Du gehörst zu uns.« Mit zwei Fingern versetzte sie dem Messer einen Schwung, dass es zu kreiseln begann. »Sag, wer dir Ärger macht, und wir reden mit dem Fetzenschädel.«
Die anderen Kürschnerinnen hieben zustimmend ihre Fäuste auf den Tisch.
»Schon gut«, winkte Asil ab. »Ich glaube, ich muss auch mal los.«
Die Rothaarige legte ihre Hand auf den Arm, mit dem er sich vom Tisch hochgedrückt hatte. »Ehrlich, wir helfen dir. Gleich, gegen wen.«
»Und wenn es Atua-Kore wäre?«
Kaum hatte er es ausgesprochen, verkrampfte sein Kiefer, der Schweiß brach ihm aus. Was hatte er getan, welch einen Frevel begangen.
Mit offenen Mündern starrten die Kürschnerinnen ihn an.
»Ein Scherz«, stammelte Asil, »es war ein Scherz.«
Die Kürschnerinnen schlugen das Schutzzeichen wider die vollkommene Finsternis.
»Besser, du gehst«, sagte die Rothaarige.
»Gibt es ein Problem?«, erscholl von der Theke die Stimme des Wirts.
»Nein, nein ...«, versicherte Asil, während er zusah, die Tür zu erreichen.
»Der Bursche hat die Goldene verspottet«, sagte die Rothaarige. Der ganze Raum ächzte auf, Köpfe drehten sich, Schutzzeichen wurden geschlagen, magische Worte geflüstert.
»In meinem Haus?«, polterte der Wirt. »Du kommst hier rein, trinkst von meinem Bier, sitzt an meiner Tafel – und wagst es, der Goldenen Göttin zu spotten?«
»Ein Missverständnis ... verzeiht mir, ich bitte Euch.«
Inzwischen war der Wirt hinter seiner Theke hervorgetreten, marschierte mit geballten Fäusten auf Asil zu. »Mich bittest du um Verzeihung?«, schrie er. »Lästerst die Goldene, und mich bittest du um Verzeihung?«
Asil wich zurück, wollte die Tür erreichen, doch mehrere Gäste waren aufgestanden, verstellten ihm den Weg. Der Wirt war heran, auf seiner Unterlippe hing ein Speicheltropfen. »Die Priesterinnen werden dich lehren, was es heißt, der Goldenen zu spotten.« Er griff nach Asil, der wich aus, schleuderte einen weiteren Angreifer gegen einen dritten, suchte eine Lücke zur Tür, doch schon packte ihn ein vierter Gegner, ein fünfter, die ganze Kneipe war auf den Beinen, stürzte sich von allen Seiten über ihn.
Das Letzte, was Asil sah, bevor er zu Boden gerungen wurde, war die rothaarige Kürschnerin, die das Geschehen aus der Ferne beobachtete. In ihrem Blick lag kein Mitleid.