14. Kapitel
Die Gliederung Ranuis war von der besonderen Lage der Stadt bestimmt: Direkt in der Gabelung, wo die Flüsse Korio und Puao schäumend aufeinandertrafen, erhob sich die Tempelpyramide der Goldenen Göttin. Die Pyramide war gen Westen ausgerichtet, weg von den rauschenden Wassern, dem Schattenberg entgegen. An ihrem Fuße erstreckte sich der Platz der Offenbarung – in dessen marmornem Boden sich Atua-Kores Auge zur Mittagszeit derart blendend spiegelte, dass man glauben konnte, vor einem Meer aus Licht zu stehen. Natürlich durften abseits der Rituale nur die Priesterinnen den Platz betreten. Untergebracht waren die Priesterinnen und ihr Tross im umgebenden Bezirk. Auf der anderen Seite des Platzes befand sich der Palast der Königin, der gemeinsam mit dem Tempel eine Achse bildete, die über den Kuppelbau des Hohen Rates bis zum fernen Schattenberg reichte. Der übrige Bereich bis zur ersten Mauer, die von Norden nach Süden verlaufend das von den Flüssen gebildete Dreieck abschloss, war den Satrapanim und ihrem Gefolge vorbehalten. Die Kasernen und Gildenhäuser befanden sich zwischen der ersten und der zweiten Mauer. Hinter der zweiten lagen die Arena und der große Markt, außerdem die Handwerksbetriebe und die Unterkünfte der höheren Dienerschaft. Der dritte Ring war mit Abstand der größte: Hier drängten sich die Hütten der Besitzlosen. Außerhalb der vierten und äußersten Mauer standen keine Blauen Türme mehr. Wer das Pech hatte, hier sein Dasein fristen zu müssen, galt als gefallen – und hatte weder Pflichten noch Rechte gegenüber Ranui.
Im Torhaus der zweiten Mauer gab Kohatu ihre Mordaxt und den Brustpanzer ab. Ihr Ziel befand sich im Ring der Besitzlosen, und je weniger die Hauptfrau der Palastwache auf ihre Stellung aufmerksam machte, desto weniger Scherereien hatte sie zu erwarten.
Zügig durchschritt Kohatu das Handwerksviertel. Bei der Arena wimmelte sie einen aufdringlichen Seifenverkäufer ab und erwarb am Markt ein Netz Gemüse, bevor sie die dritte Mauer erreichte. Hier war das Tor geschlossen; erst als die wachhabende Offizierin ihre oberste Vorgesetzte erkannte, wurde es geöffnet. Kohatu wusste um die Notwendigkeit der Sicherheitsvorkehrungen und störte sich nicht daran. Menschen waren Geschwüre der Niedertracht, und nur Atua-Kores Blick verhinderte, dass die Geschwüre noch häufiger platzten. Es war gut, die Erwählten Atua-Kores vor der Tücke des Volkes abzuschirmen – umso verständnisloser war Kohatu, dass die Priesterinnen zu den großen Festen alle Tore öffneten und selbst den Gefallenen erlaubten, auf den Platz der Offenbarung zu strömen. Es gab weniger gefährliche Wege, dem Volk Atua-Kores Willen zu verkünden, als es in seiner Gänze im inneren Kreis zu versammeln. Die Wege der Priesterinnen ... Kohatu bemerkte, wie sich ihre Faust in das Gemüsenetz gekrampft hatte. Rasch schloss sie die Augen, um dreimal ein- und auszuatmen. Als sie die Augen wieder öffnete, war ihr Geist von keinen Grübeleien getrübt. Die Technik war ihr bereits als Kind beigebracht worden – keine Soldatin Ranuis durfte sich in ihren Gedanken verheddern.
Der Ring der Besitzlosen. Wie immer war es als Erstes der Geruch, der Kohatu in die Nase stach; eine Mischung aus Schweiß, Fäulnis und Unrat. Eigentlich gab es eine Kanalisation, doch nach dem letzten Aufstand hatte die damalige Königin Haika die Wartungsarbeiten eingestellt. Kohatu drückte ihr Gemüsenetz an die Brust und beeilte sich, das Schlachterviertel zu erreichen. Es war bereits Mitternacht vorüber, trotzdem drängte sich das Volk in einer Zahl durch die engen Gässchen, als brauchte es keinen Schlaf. Im Gegensatz zu den inneren Ringen gab es hier keine öffentlichen Öllampen; die Leute behalfen sich mit Fackeln, Kerzen, billigen Laternen – oder vertrauten auf die Leuchten der anderen.
Um Gestank und Gedränge zu entkommen, bog Kohatu in ein Seitengässchen ab. Sofort wurde es dunkel. Das Gässchen war so schmal, dass das Mondlicht an den Dachtraufen hängen blieb. Kohatu eilte weiter. Obwohl die windschiefen Häuser ohne erkennbaren Plan errichtet worden waren, kannte sie jeden Winkel des Viertels. Die abgewetzten, schiefen, oftmals zerbrochenen Pflastersteine, deren Kanten durch die Stiefelsohlen drückten, waren ihr so vertraut wie der nahtlos gefugte Mosaikboden im Palast der Königin. In diesen einsamen Momenten, in denen Kohatu durch das schmierige Dunkel des dritten Rings hastete, bebte sie vor Dankbarkeit für das Schicksal, das die Goldene ihr gewährt hatte.
Schmerzensschreie und Feixen.
Zu spät, um noch eine andere Abzweigung zu nehmen. Mehrere Besitzlose hatten auf ein heulendes Bündel eingetreten, drehten sich aber bereits nach Kohatu um. Es waren vier, allesamt jung und drahtig. Ihre Kleidung war abgetragen und geflickt, aber halbwegs sauber; die gelbe Farbe ihrer Schärpen wies sie als Schlachtergesellen aus.
»Was schaust du?«, blaffte der, der ihr am nächsten stand. Er mochte noch keine zwanzig Winter gesehen haben, besaß jedoch bereits die Statur eines Bullen. In einer anderen Situation hätte Kohatu die freche Anrede geradezu als erfrischend empfunden im Vergleich zu den starren Regeln am Hofe – aber sie hatte keine Zeit zu verlieren und wollte keinen Ärger. Beschwichtigend hob sie die Hand, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Jedes Zögern würde sie nur interessanter für die Schläger machen. Sie musste an ihnen vorbeikommen, bevor sie ein neues Opfer in ihr sahen.
»Helft«, schluchzte das Bündel am Boden. »Bitte, helft.«
Kohatu verzichtete auf den Fehler, stehen zu bleiben. Es war nicht ihre Aufgabe, im dritten Ring Ordnung zu schaffen – und sie hätte nur Mitleid für diejenige übrig, die es sich zur Aufgabe machen wollte.
»Was hast du da?« Wieder der Jungbulle, der zuerst gesprochen hatte. Sein Blick hatte ihr Gemüsenetz gefunden. Wie in stummer Verständigung waren die anderen drei ihr in den Weg getreten.
»Nichts. Lasst mich durch.«
»Was hältst du von einem kleinen Geschäft?« Der Bulle zeigte grinsend ein Gebiss, das bereits zu faulen begann. Kohatu bezweifelte, dass er seinen dreißigsten Winter erleben würde.
»Danke, nein.« Sie versuchte, sich zwischen zweien seiner Kumpane hindurchzuzwängen.
»Du lässt uns dein Gemüse da, und wir – wir lassen dich am Leben.« Er lachte, offensichtlich stolz auf sein Wortspiel.
»Ich gebe euch eine Orange«, bot Kohatu an, langsam wurde sie ungeduldig. Sie kramte die Orange aus dem Netz und hielt es ihrem Widersacher entgegen.
»Eine einzige?« Der Bulle zog in gespielter Entrüstung die Brauen hoch. »Wir sind zu viert! Zeig mal, was du sonst noch da drin hast.« Er kam auf sie zu, griff nach ihrem Einkauf.
Kohatu zertrat ihm das Knie und steckte zugleich die Orange wieder ein. Während er fiel, packte sie mit der freigewordenen Hand seinen Schopf und rammte ihm ihr eigenes Knie ins Gesicht. Der Tölpel war bewusstlos, bevor er auf dem Pflaster aufschlug. Mit schreckgeweiteten Augen starrten seine Begleiter Kohatu an. In aller Ruhe drehte sie sich nach ihnen um. Neigte den Kopf zur Seite, bis der Hals knackte.
Die Bande nahm Reißaus.
Törichter Geist, schallt sich Kohatu im Stillen. Sie kannte den dritten Ring, warum hatte sie das Gemüsenetz nicht besser verborgen? Künftig würde sie vorsichtiger sein müssen.
Hinter ihr eine Bewegung. Das Lumpenbündel, das zuvor um Hilfe gefleht hatte – und jetzt einen schmutzigen, blutverschmierten Kopf zu erkennen gab. »Ihr habt mich gerettet.« Die Stimme eines Jungen, zehn oder zwölf Winter alt.
Auch das noch. »Verschwinde«, befahl Kohatu und deutete auf den Bewusstlosen. »Seine Gefährten werden nach ihm sehen, sobald ich weg bin.«
Die Wangen des Jungen waren hohl vor Hunger. Er konnte den Blick nicht von Kohatus Gemüsenetz lösen.
»Willst du die Orange?«
Der Junge nickte sehnsüchtig.
Kohatu ging vor ihm in die Knie. »Ich bin hier groß geworden.« Mit kaltem Blick sah sie ihn an. »Weißt du, wie ich überlebt habe?«
Sie erhoffte keine Antwort, dennoch schüttelte der Junge pflichterfüllt den Kopf.
»Indem ich mich nicht darauf verlassen habe, dass jemand anderes kommt und mir hilft.«
Ängstlich und verwirrt blickte der Junge zurück, wartete, dass sie weitersprach.
Doch Kohatu hatte alles gesagt. Sie erhob sich und ließ die beiden Besitzlosen zurück, ohne sich noch einmal umzusehen.
Das aus groben Latten gezimmerte Häuschen, das Kohatus Ziel darstellte, neigte sich gegen das Stiegenhaus eines Fleischkellers. Ohne diese steinerne Stütze wäre es wohl schon vor vielen Jahren auseinandergefallen. In der Gasse lungerte der Gestank der Verwesung. Der Fleischkeller selbst mochte kühl sein, doch die hölzernen Wagen, auf denen das tote Getier Tag und Nacht herangekarrt wurde, dünsteten gnadenlos aus, was sie über die Jahre ihrer Verwendung an Blut und Schleim eingesogen hatten.
Kohatu umging die vierschrötigen Kerle, die gerade einen der Wagen abluden. Mit einem schnellen Blick auf die Schwelle trat sie an die Eingangstür der Hütte. Nirgendwo war es wichtiger, Ordnung zu bewahren, als in einem Umfeld des Chaos. Als Kohatu sich vergewissert hatte, dass die Schwelle so gründlich gefegt war wie stets, klopfte sie.
Wenig später wurde geöffnet. Eine Alte im Nachthemd, einem Gesicht voller Furchen und strähnigem, grauem Haar erkannte Kohatu und fiel auf die Knie. »Atua-Kore sei Dank für Euren Besuch, Gesegnete.«
Kohatu packte ihre Mutter am Oberarm und zog sie auf die Beine. »Steh auf.« Obwohl das Verhalten den Vorschriften entsprach, wie Besitzlose die Dienerschaft der Hohen Häuser zu behandeln hatten, war es Kohatu zuwider, Mutter auf den Knien zu sehen. Sie reichte ihr das Gemüsenetz und trat in die Hütte. Der Hauptraum wurde durch das flackernde Licht einer einzelnen Kerze erleuchtet.
»Wollt Ihr für die Nacht bleiben?«, fragte Mutter, während sie die Türe schloss. »Ihr könnt mein Lager haben.«
Kohatu löschte die Kerze mit Daumen und Zeigefinger. »Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst kein offenes Feuer in der Wohnung nutzen.«
»Das Lampenöl geht zur Neige. Unser Gast besteht darauf, bei Licht zu schlafen.«
Kohatu seufzte. »Bei meinem nächsten Besuch bringe ich Öl mit.« Mit Blick auf die Tür zur Schlafkammer fügte sie leiser hinzu: »Wie geht es ihr?«
Mutter schlang sich eine Decke um. »Sie verlässt das Bett nur, um sich zu erleichtern. Sie trinkt Wein, doch die Speisen, die ich ihr bereite, rührt sie nicht an.«
Die Nacht schien nicht besser werden zu wollen. Kohatu trat an die Tür, klopfte. Keine Antwort. Sie klopfte ein zweites Mal, drückte vorsichtig die Tür auf. Die Schlafkammer beinhaltete nicht mehr als ein einfaches Bett und zwei schwere Truhen. Vor dem Bett lagen mehrere erschlaffte Weinschläuche. Auf dem Bett selbst lag ein Haufen Decken, aus dem die Gliedmaßen einer zierlichen Gestalt ragten. Der saure Geruch nach Schweiß und Erbrochenem füllte den Raum.
Kohatu machte einen Schritt hinein. »Eure Erhabenheit.«
Aus dem Deckenberg tönte ein Stöhnen, ein Arm tastete blind umher, bis er die oberste Decke zu fassen bekam, sie von einem Ball langen, verworrenen Haares zog.
»Ich bin es, Kohatu.«
Der zu dem Haarknäuel gehörige Kopf drehte sich, brachte ein aufgedunsenes Gesicht zum Vorschein. Verquollene Augen blinzelten im fahlen Licht der Öllampe.
»Geht es Euch gut?« Das Bild, das sich Kohatu bot, war mehr als beunruhigend. Sollte dieses selbstvergessene, schwache Geschöpf dort vor ihr wirklich Torokaha sein, Tochter der Haika, Kind aus dem Hause Laki?
»Lass mich.«
»Eure Erhabenheit, ich ...«
»Lass mich.« Torokaha zog einen halbvollen Weinschlauch aus den Decken hervor und schleuderte ihn in die Richtung Kohatus. Der Schlauch öffnete sich, sein Inhalt ergoss sich über die Bodendielen. »Erstick an deinen höflichen Anreden. Ich bin keine Königin, nicht einmal mehr eine Satrapa, nichts bin ich mehr.«
»Wir müssen über Eure Zukunft reden«, beharrte Kohatu. »Meine Mutter kann Euch nicht für immer hier verstecken. Es ist zu gefährlich.«
»Ach ja?« Torokaha befreite sich von ihren Decken, schwang die Beine über die Bettkante. »Und was schlägst du vor, Wanze? Dass ich mich vor Alandra Laki in den Staub werfe und um Gnade winsle?« Ein heiseres Lachen. »Lieber sterbe ich, als der alten Kröte diese Genugtuung zu bieten.« Mit unsicheren Schritten tappte sie an Kohatu heran. »Lass mich hier oder stoß mich auf die Straße. Was kümmert dich mein Schicksal? Gib es zu, du genießt es, deine Herrin im Dreck zu sehen.« Sie spuckte Kohatu ins Gesicht.
»Verzeiht, wenn ich Euch erzürnt habe, Herrin.« Kohatu spürte, wie der Speichel ihre Wange hinunterlief. Die Ausscheidungen einer Erwählten Atua-Kores galten als lebensspendend – aber ob die Kraft der Göttin noch immer in der verblichenen Prinzessin weilte, wusste wohl niemand außer der Goldenen selbst.
»Erzürnt? Das trifft es gut«, ereiferte sich Torokaha. »Du hast mir das alles eingebrockt. Du hast mich in dieses Loch gesperrt. Ich könnte längst in den Gärten Orofars sein, hättest du mich nicht aufgehalten.«
»Eine Reise wäre zu gefährlich ge...«
»Leck meine Zehen. Du bleibst mir treu bis zum Ende des Lichts?« Sie stieß Kohatu mit der Faust gegen die Brust. »Wie kann es dann sein, dass du noch immer Hauptfrau der Palastwache bist?«
»Wir brauchen den Sold. Und Königin Hua hat verkündet, Euch Eurem Schicksal zu überlassen. Meine Pflichten gegenüber der Königin beschneiden nicht mein Recht, Euch zu Diensten zu sein.«
»Immer noch dieser alberne Schwur ...« Doch der Zorn in Torokahas Stimme wich Erschöpfung. Die Prinzessin wankte zum Bett.
»Bannerführer Deris ist zurück ...«, begann Kohatu.
»Nie gehört, den Namen ... zurück von wo? Ach, vergiss es.« Torokaha vergrub sich unter den Decken.
»Er behauptet, Mahuika gefunden zu haben.«
»Sollen die Styrkur ihre Gedärme braten.«
»Meine Herrin, ich ...«
»Still. Und sag deiner hässlichen Mutter, sie soll besseren Wein anschaffen. Wie soll ich mich mit diesem Fusel zu Tode saufen.«
Kohatu schlug zu, bis ihre Fingerknöchel bluteten. Die körperliche Anstrengung, der Schmerz legte sich wie eine Rüstung um die bedrohte Ruhe ihres Geistes. Die Fechtpuppe zitterte. Unerbittlich hieb Kohatu weiter auf sie ein. Mit jedem Kampfschrei, der ihre Angriffe begleitete, fand sie ein bisschen mehr zu sich selbst. Ihre Brust stand in Flammen, ihre Muskeln glühten, doch sie ließ nicht ab von ihrem Feind. Die Puppe bebte, das Holz knirschte unter den Treffern. Im Tunnel ihrer Wut zerschlug Kohatu einen Arm, Späne flogen, mit einem Sprungtritt drosch sie den Kopf vom Rumpf.
Keuchend taumelte sie von den Resten ihres Opfers zurück. In ihren Schläfen schäumte das Blut, kaum konnte sie sich auf den Beinen halten. Auf die Knie gestützt rang sie nach Luft.
»Beeindruckend«, drang es durch das Rauschen in ihren Ohren, gefolgt von nachlässigem Klatschen.
Verärgert richtete Kohatu sich auf, wandte sich um. Zu rasch, die abrupte Bewegung ließ sie schwindeln. Trotzdem, wer immer sie störte, würde bereuen, geboren worden zu sein. Sie bemühte sich, den Schleier abzuschütteln, der sich über ihren Blick gelegt hatte. Der Zorn half. Ihre Offizierinnen sollten wissen, dass die Hauptfrau während ihrer morgendlichen Übungen nicht unterbrochen werden wollte.
»Wacker gekämpft«, tönte es spöttisch.
Das Erste, was sie erkannte, als der Schleier sich zu lichten begann, war die Robe, die der ungebetene Besuch trug. Keine Soldatin. Wer dann? Der Übungskeller der Wache war nicht nachlässiger geschützt als die privaten Gemächer der Königin. Kohatu wischte sich den Schweiß aus den Augen.
»Wenn alle deine Feinde so enden, möchte ich dich lieber nicht zur Gegnerin haben.«
Nun erkannte Kohatu die Stimme, und auch ihr Blick wurde klar. Am Eingang des Raumes stand Sokai, die Sprecherin des Hohen Rates, und musterte sie mit der Andeutung eines Lächelns.
»Erhabene Sprecherin«, stotterte Kohatu. »Atua-Kore sei Dank für Euren Besuch.« Peinlich wurde ihr bewusst, dass sie nur in Schurz und Brustband dastand; zu allem Überfluss lag wie ein klebriger Film der Schweiß auf ihrer Haut.
Die Sprecherin tat, als störte sie sich nicht an Kohatus unangemessenem Erscheinungsbild. Ohne die Schuhe auszuziehen, trat sie auf die Bastmatten, mit denen die Kampffläche ausgelegt war. »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«
»Nein«, stieß Kohatu hervor, immer noch außer Atem, »erhabene Sprecherin.«
Die Sprecherin trat näher, beugte sich zur Fechtpuppe hinunter, dass ihre Turmfrisur gefährlich wippte. Sie nahm den abgetretenen Kopf und musterte ihn wie ein Kleinod. »Du dienst deiner Königin?«
»Bis ans Ende des Lichts.« Kohatu spürte das Blut ihrer aufgeschlagenen Knöchel von den Fingern tropfen. Doch sie wagte nicht, sich nach einem Tuch umzusehen.
»Und wer, Hauptfrau, ist deine Königin?«
»Hua«, entgegnete Kohatu, verwirrt von der seltsamen Frage, »aus dem Hause Atua-Kore.«
»Tatsächlich?« Achtlos ließ die Sprecherin den hölzernen Kopf in ihren Händen wieder fallen. Ihr Blick traf den Kohatus. »Nicht Torokaha aus dem Hause Laki?«
»Was? Nein! Wieso ...?«
»Beruhige dich. Es war nur eine Frage.«
Kohatu schwieg.
Die Sprecherin schritt langsam um sie herum. »Die Königin weiß von dem heimlichen Gast in der Hütte deiner Mutter – still, sag nichts. Ich glaube dir.« Seitlich von ihr blieb sie stehen. »Im Auftrag der Königin habe ich Erkundigungen über dich eingezogen.« Mit einem Fingernagel strich sie ihr über die schweißnasse Schulter. »Bevor ihre königliche Hoheit dich zur Hauptfrau der Palastwache ernannt hat, wollte sie natürlich wissen, ob sie dir trauen kann. Und ich muss sagen, ich bin beeindruckt. Niemand verliert ein einziges böses Wort über dich.« Sie nahm ihren Rundweg wieder auf. »Also sag mir: Warum schützt du Torokaha?«
»Ich habe es geschworen.«
»Und du siehst keinen Widerspruch darin, sowohl der Königin wie ihrer Widersacherin verschrieben zu sein?«
»Torokaha greift Atua-Kores Urteil nicht an.«
»Kannst du dir sicher sein?«
Sie senkte den Kopf. »Was immer ihre königliche Hoheit über mich verfügen möchte – ich werde folgen.«
»Na, das klingt doch vielversprechend.« Die Sprecherin tätschelte Kohatus Oberarm. Ihre Hand war weich wie die eines Kindes. »Führe mich zu Bannerführer Deris.«
»Jetzt?«
»Wann sonst?«
»Sehr wohl, erhabene Sprecherin. Wünscht Ihr, dass ich mich vorher noch ankleide?«
Bereits auf dem Weg zur Tür, winkte die Sprecherin Zustimmung.
Unter dem inneren Kreis erstreckte sich ein Netz miteinander verbundener Gewölbe. Die Keller dienten nicht nur als kühle Lager für verderbliche Waren wie Bier, Fleisch und Gemüse, sondern erlaubten den Mitgliedern der Hohen Häuser, unbemerkt von einem Anwesen zum anderen zu gelangen. Mehrere Kriege hatten den Nutzen des Systems bewiesen. In Friedenszeiten half es den Satrapanim vor allem, Liebschaften zu pflegen, die nicht den Ansprüchen des Protokolls genügten.
Kohatu machte sich nichts aus der Lebensweise der Erhabenen. Sie selbst nutzte die unterirdischen Gänge einzig dafür, zügig den Ort zu wechseln. Außerdem diente dasjenige Gewölbe, das dem Keller der Hauptwache am nächsten gelegen war, als Verlies.
Gemeinsam mit der Sprecherin ging sie die wenigen Schritte bis zur entsprechenden Schutztür, die von zwei Wachposten gesäumt wurde. Nachdem man ihnen geöffnet hatte, betraten sie einen kleinen, unverputzten Raum, in dem ein weiterer Soldat gegen sich selbst den Würfelbecher schwang. Als er des hohen Besuchs gewahr wurde, sprang er erschrocken auf.
»Erhabene Sprecherin, ich danke Atua-Kore für Euren ...«
»Die Schlüssel.«
Der Mann sah überrascht zu Kohatu, doch als diese keinen anderslautenden Befehl gab, reichte er der Sprecherin einen schweren Schlüsselbund.
»Du kannst gehen.«
Ein weiterer verblüffter Blick des Soldaten zu seiner Hauptfrau, dann machte er sich davon.
Während die Schutztür hinter ihnen wieder ins Schloss fiel, sah die Sprecherin sich mit einer Neugier in dem Raum um, als wäre sie ein Kind in einer Kuchenbäckerei. An einer tönernen Schüssel, in der ein Blechmesser lag, blieb ihr Blick hängen. Sie reichte Kohatu mit spitzen Fingern den Schlüsselbund und nahm selbst das Messer an sich. »Dann mal los.«
Obwohl Kohatu Deris nicht selbst hierhergebracht hatte, handelte es sich um keine große Suche. Das Verlies bestand aus einem einzigen Gang, an dessen Seiten grobe Höhlen aus dem Fels gehauen worden waren. Anschließend hatte man die Öffnungen mit Eisenstangen verschlossen. Ein knappes Dutzend Zellen befand sich hier, und die meisten davon standen leer. Alle Delikte außerhalb des ersten Rings fielen den Blauen Türmen zu, die über eigene Kerker verfügten – und wer im inneren Kreis straffällig wurde, musste gewöhnlich nicht lange verwahrt werden. Auch Deris’ Männer hatte man bereits gehängt.
Den Bannerführer fand Kohatu in der dritten Zelle.
»Öffnen«, befahl die Sprecherin.
Kohatu hängte die Öllaterne, die sie aus dem Vorraum mitgenommen hatte, in die dafür vorgesehene Wandhalterung und sperrte die Gittertür der Zelle auf.
»Widerlich«, bemerkte die Sprecherin und hielt sich die Nase zu. Kohatu konnte es ihr nicht verdenken, es roch wie im dritten Ring.
»Hauptfrau, seid Ihr es?«, grunzte es aus der hintersten Ecke des Lochs.
Die Sprecherin wandte sich an die Angesprochene. »Töte ihn.«
»Verzeiht?«
»Die Königin befiehlt es.« Sie neigte ihre Lippen Kohatus Ohr entgegen. »Jetzt kannst du zeigen, wem deine Treue gilt.«
»Es wäre Aufgabe des Richters ...«
»Hauptfrau, bitte!«, rief Deris, der sich aufzurappeln begann. »Ich habe nur Euren Befehl ausgeführt.«
»War der Befehl nicht«, noch immer waren die Lippen der Sprecherin unnötig nahe an Kohatus Ohr, »die Gefallene nach Ranui zu bringen?«
Deris war inzwischen vollends auf die Beine gekommen. »Der Dämon ...«
»Halt den Mund.« Mit einem schnellen Schritt trat die Sprecherin in die Zelle. Bevor Kohatu es verhindern konnte, warf sie dem gefallenen Bannerführer das Messer hin. »Hier.«
»Töte ihn, Hauptfrau«, sagte sie, während sie gleichgültig beobachtete, wie Deris nach dem Messer grabschte. »Oder willst du das Leben einer Satrapa in Gefahr bringen?«
Das Blechmesserchen mochte weder besonders lang noch besonders scharf sein. Doch Deris war Bannerführer der Palastwache gewesen, hatte dieselbe gnadenlose Ausbildung durchlaufen wie Kohatu selbst. In seiner Hand war das Messer eine tödliche Waffe, daran konnte auch die eine Nacht im Kerker nichts ändern.
»Es ist nicht der Wunsch der Königin«, murmelte Kohatu, »sondern Eurer.« Eine reguläre Hinrichtung wäre anders verlaufen. Sie ballte die Faust um den Schlüssel, spürte, wie der Stoffstreifen spannte, den sie um ihrer verwundete Hand gewickelt hatte. »Warum?«
»Glaub mir, die Königin ...«
Im selben Augenblick schnellte Deris nach vorn, das Messer blitzte, mit der freien Hand packte er die Sprecherin, diese schrie auf. Er schlang den Arm um ihren Hals, riss sie herum, wollte sie zwischen sich und Kohatu bringen. Aber schon war Kohatu da, packte ihrerseits Deris’ Handgelenk, drehte es, das Messer fiel, ein Knacken, nun war es Deris, der aufschrie. Ein Tritt gegen den Brustkorb schleuderte ihn gegen die Rückwand der Zelle, er fiel, fing seinen Sturz auf einem Knie ab, wollte wieder angreifen. Kohatu kam ihm zuvor, hieb ihm den Schlüsselbund ins Gesicht, noch ein Tritt. Wieder ging Deris zu Boden, und diesmal blieb er liegen.
Kohatu fuhr zur Sprecherin herum. »Was zur Finsternis sollte das?«
Das Antlitz der Angesprochenen schimmert bleich im Licht der Laterne. Doch ihre Haltung war so gerade wie eh und je. »Ganz so aufregend habe ich mir das nicht vorgestellt.« Leichthin hingeworfene Worte – allein das Zittern in der Stimme verriet, dass die Sprecherin nicht aus Stein gemeißelt war.
»Erklärt Euch.«
»Töte ihn.«
Ein Röcheln aus Deris’ Richtung. Kohatu beachtete ihn nicht, er war keine Gefahr mehr. »Nein«, sagte sie. »Ich werde meiner Königin berichten, was hier geschehen ist.«
»Ihr wagt es, den Willen der Sprecherin des Hohen Rates zu schmähen?«
Ohne sich noch die Mühe einer Antwort zu machen, verließ Kohatu die Zelle. Als sie nach der Laterne griff, spürte sie die Bewegung hinter sich. Sie wirbelte herum – zu spät. Die Sprecherin hatte sich bereits nach dem Messer gebückt, drang auf Deris ein, stach zu. Vor dem dritten Stich war Kohatu heran, entwand der Wahnsinnigen das Messer. Überall war Blut. Die Sprecherin hatte auf Deris’ Hals gezielt, und sie hatte gut getroffen. Aus einer doppelten Wunde quoll das Leben des Bannerführers in schwächer werdendem Puls.
Schwer atmend stand die Mörderin über dem Sterbenden, starrte mit entrücktem Blick auf ihr Werk.
»Atua-Kore, steh mir bei«, flüsterte Kohatu.
Endlich sah die Sprecherin auf, wandte sich Kohatu zu.
»Jetzt zu uns.« Sie wischte sich eine Strähne aus der Stirn, ihre blutgetränkten Finger zogen eine schmierig dunkle Spur. »Es gibt zwei Möglichkeiten, wie diese Geschichte ausgeht. Entweder die Königin erfährt, dass die Hauptfrau der Palastwache im Beisein der Sprecherin des Hohen Rates Bannerführer Deris ermordert hat.« Wieder deutete sie ihr höhnisches Lächeln an; in Verbindung mit der blutbesudelten Stirn bot sich ein schauerliches Bild. »Gegen den Willen der Königin, wie wir beide wissen.«
»Und wozu?«, fragte Kohatu benommen, kaum fähig, das Geschehene zu verarbeiten. Eine solche Darstellung würde ihren Tod bedeuten. Wenn Aussage gegen Aussage stand, urteilte die ranaische Rechtssprechung grundsätzlich zu Gunsten der höhergestellten Beteiligten.
»Wer weiß? Vielleicht willst du Mahuika schützen? Zürnst ihm, weil er sie verraten hat.«
»Das ist lächerlich«, entfuhr es Kohatu. »Ich bin es gewesen, die ihn überhaupt ausgeschickt hat.«
»Lächerlich? Nun, wer will versuchen, die verqueren Gedanken einer Soldatin nachzuvollziehen?« Die Sprecherin machte einen Schritt weg von Deris’ Leiche, um nicht von der Blutlache erreicht zu werden, die sich zu ihren Füßen ausbreitete. »Wenn die Königin erst erfährt, wie aufopferungsvoll du dich um die eine Schwester kümmerst – es dürfte sie nicht wundern, wenn du auch Gefühle für die andere hegst.«
»Torokaha hat nichts mit Mahuika gemein ...«
»Still. Wie gesagt, die Geschichte kann auch anders ausgehen.«
»Ich begehe tatsächlich einen Mord. An einer Satrapa«, knurrte Kohatu.
»Und behauptest, es sei Deris gewesen, den du anschließend überwältigt hättest. Nicht schlecht.« Die Sprecherin deutete ein anerkennendes Nicken an. »Für dein Versagen, mich zu schützen, würdest du dennoch gekreuzigt werden. Und ich habe Vorkehrungen getroffen. Es gibt einige üble Gestalten, die gerne wissen würden, wo Torokaha sich aufhält. Wenn mir etwas zustößt, würden sie es erfahren. Du würdest deinen Schwur verraten.«
Ungläubig starrte Kohatu in die schimmernde Blutlache. »Als ob Ihr Euch einen Mitesser um die Gnade Atua-Kores schert.«
»Na und? Du tust es.«
Kohatu schwieg.
»Es gibt einen dritten Weg. Du hast deine Satrapa gerettet, als Deris sie angegriffen hat. Niemand wird von deiner fortgeführten Beziehung zu Torokaha erfahren ...«
»Und der Preis?« Ihre Kehle war trocken.
»Du suchst dir ein Banner deiner Leute und reist nach Norden. Finde Mahuika. Töte sie. Lass es für deine Leute wie einen Unfall aussehen.«
»Aber weshalb ... was habt Ihr davon?«
»Ob du es glaubst oder nicht, das Schicksal der Königin liegt mir nicht weniger am Herzen als dir. Wenn die Gefallene nach Ranui zurückkehrte, würde das eine Unruhe erzeugen, die dem Gedeihen unseres Reichs nicht dienlich wäre.« In falscher Unschuld legte sie den Kopf schief. »Findest du nicht?«
»Warum ich?«
»Meine Mutter wurde vergiftet, und noch immer sind die Verantwortlichen nicht gefunden. Mein Haus ist in Bedrängnis; ich weiß nicht, wem ich trauen kann.« Wieder das harmlose Lächeln, ein Lächeln, wie es niemandem hätte gehören sollen, der gerade einen Menschen ermordet hatte. »Liegt es da nicht nahe, dass ich mich an die einzige redliche Frau wende, die im inneren Kreis zu finden ist?«
Weitere Kapitel:
Die Gliederung Ranuis war von der besonderen Lage der Stadt bestimmt: Direkt in der Gabelung, wo die Flüsse Korio und Puao schäumend aufeinandertrafen, erhob sich die Tempelpyramide der Goldenen Göttin. Die Pyramide war gen Westen ausgerichtet, weg von den rauschenden Wassern, dem Schattenberg entgegen. An ihrem Fuße erstreckte sich der Platz der Offenbarung – in dessen marmornem Boden sich Atua-Kores Auge zur Mittagszeit derart blendend spiegelte, dass man glauben konnte, vor einem Meer aus Licht zu stehen. Natürlich durften abseits der Rituale nur die Priesterinnen den Platz betreten. Untergebracht waren die Priesterinnen und ihr Tross im umgebenden Bezirk. Auf der anderen Seite des Platzes befand sich der Palast der Königin, der gemeinsam mit dem Tempel eine Achse bildete, die über den Kuppelbau des Hohen Rates bis zum fernen Schattenberg reichte. Der übrige Bereich bis zur ersten Mauer, die von Norden nach Süden verlaufend das von den Flüssen gebildete Dreieck abschloss, war den Satrapanim und ihrem Gefolge vorbehalten. Die Kasernen und Gildenhäuser befanden sich zwischen der ersten und der zweiten Mauer. Hinter der zweiten lagen die Arena und der große Markt, außerdem die Handwerksbetriebe und die Unterkünfte der höheren Dienerschaft. Der dritte Ring war mit Abstand der größte: Hier drängten sich die Hütten der Besitzlosen. Außerhalb der vierten und äußersten Mauer standen keine Blauen Türme mehr. Wer das Pech hatte, hier sein Dasein fristen zu müssen, galt als gefallen – und hatte weder Pflichten noch Rechte gegenüber Ranui.
Im Torhaus der zweiten Mauer gab Kohatu ihre Mordaxt und den Brustpanzer ab. Ihr Ziel befand sich im Ring der Besitzlosen, und je weniger die Hauptfrau der Palastwache auf ihre Stellung aufmerksam machte, desto weniger Scherereien hatte sie zu erwarten.
Zügig durchschritt Kohatu das Handwerksviertel. Bei der Arena wimmelte sie einen aufdringlichen Seifenverkäufer ab und erwarb am Markt ein Netz Gemüse, bevor sie die dritte Mauer erreichte. Hier war das Tor geschlossen; erst als die wachhabende Offizierin ihre oberste Vorgesetzte erkannte, wurde es geöffnet. Kohatu wusste um die Notwendigkeit der Sicherheitsvorkehrungen und störte sich nicht daran. Menschen waren Geschwüre der Niedertracht, und nur Atua-Kores Blick verhinderte, dass die Geschwüre noch häufiger platzten. Es war gut, die Erwählten Atua-Kores vor der Tücke des Volkes abzuschirmen – umso verständnisloser war Kohatu, dass die Priesterinnen zu den großen Festen alle Tore öffneten und selbst den Gefallenen erlaubten, auf den Platz der Offenbarung zu strömen. Es gab weniger gefährliche Wege, dem Volk Atua-Kores Willen zu verkünden, als es in seiner Gänze im inneren Kreis zu versammeln. Die Wege der Priesterinnen ... Kohatu bemerkte, wie sich ihre Faust in das Gemüsenetz gekrampft hatte. Rasch schloss sie die Augen, um dreimal ein- und auszuatmen. Als sie die Augen wieder öffnete, war ihr Geist von keinen Grübeleien getrübt. Die Technik war ihr bereits als Kind beigebracht worden – keine Soldatin Ranuis durfte sich in ihren Gedanken verheddern.
Der Ring der Besitzlosen. Wie immer war es als Erstes der Geruch, der Kohatu in die Nase stach; eine Mischung aus Schweiß, Fäulnis und Unrat. Eigentlich gab es eine Kanalisation, doch nach dem letzten Aufstand hatte die damalige Königin Haika die Wartungsarbeiten eingestellt. Kohatu drückte ihr Gemüsenetz an die Brust und beeilte sich, das Schlachterviertel zu erreichen. Es war bereits Mitternacht vorüber, trotzdem drängte sich das Volk in einer Zahl durch die engen Gässchen, als brauchte es keinen Schlaf. Im Gegensatz zu den inneren Ringen gab es hier keine öffentlichen Öllampen; die Leute behalfen sich mit Fackeln, Kerzen, billigen Laternen – oder vertrauten auf die Leuchten der anderen.
Um Gestank und Gedränge zu entkommen, bog Kohatu in ein Seitengässchen ab. Sofort wurde es dunkel. Das Gässchen war so schmal, dass das Mondlicht an den Dachtraufen hängen blieb. Kohatu eilte weiter. Obwohl die windschiefen Häuser ohne erkennbaren Plan errichtet worden waren, kannte sie jeden Winkel des Viertels. Die abgewetzten, schiefen, oftmals zerbrochenen Pflastersteine, deren Kanten durch die Stiefelsohlen drückten, waren ihr so vertraut wie der nahtlos gefugte Mosaikboden im Palast der Königin. In diesen einsamen Momenten, in denen Kohatu durch das schmierige Dunkel des dritten Rings hastete, bebte sie vor Dankbarkeit für das Schicksal, das die Goldene ihr gewährt hatte.
Schmerzensschreie und Feixen.
Zu spät, um noch eine andere Abzweigung zu nehmen. Mehrere Besitzlose hatten auf ein heulendes Bündel eingetreten, drehten sich aber bereits nach Kohatu um. Es waren vier, allesamt jung und drahtig. Ihre Kleidung war abgetragen und geflickt, aber halbwegs sauber; die gelbe Farbe ihrer Schärpen wies sie als Schlachtergesellen aus.
»Was schaust du?«, blaffte der, der ihr am nächsten stand. Er mochte noch keine zwanzig Winter gesehen haben, besaß jedoch bereits die Statur eines Bullen. In einer anderen Situation hätte Kohatu die freche Anrede geradezu als erfrischend empfunden im Vergleich zu den starren Regeln am Hofe – aber sie hatte keine Zeit zu verlieren und wollte keinen Ärger. Beschwichtigend hob sie die Hand, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Jedes Zögern würde sie nur interessanter für die Schläger machen. Sie musste an ihnen vorbeikommen, bevor sie ein neues Opfer in ihr sahen.
»Helft«, schluchzte das Bündel am Boden. »Bitte, helft.«
Kohatu verzichtete auf den Fehler, stehen zu bleiben. Es war nicht ihre Aufgabe, im dritten Ring Ordnung zu schaffen – und sie hätte nur Mitleid für diejenige übrig, die es sich zur Aufgabe machen wollte.
»Was hast du da?« Wieder der Jungbulle, der zuerst gesprochen hatte. Sein Blick hatte ihr Gemüsenetz gefunden. Wie in stummer Verständigung waren die anderen drei ihr in den Weg getreten.
»Nichts. Lasst mich durch.«
»Was hältst du von einem kleinen Geschäft?« Der Bulle zeigte grinsend ein Gebiss, das bereits zu faulen begann. Kohatu bezweifelte, dass er seinen dreißigsten Winter erleben würde.
»Danke, nein.« Sie versuchte, sich zwischen zweien seiner Kumpane hindurchzuzwängen.
»Du lässt uns dein Gemüse da, und wir – wir lassen dich am Leben.« Er lachte, offensichtlich stolz auf sein Wortspiel.
»Ich gebe euch eine Orange«, bot Kohatu an, langsam wurde sie ungeduldig. Sie kramte die Orange aus dem Netz und hielt es ihrem Widersacher entgegen.
»Eine einzige?« Der Bulle zog in gespielter Entrüstung die Brauen hoch. »Wir sind zu viert! Zeig mal, was du sonst noch da drin hast.« Er kam auf sie zu, griff nach ihrem Einkauf.
Kohatu zertrat ihm das Knie und steckte zugleich die Orange wieder ein. Während er fiel, packte sie mit der freigewordenen Hand seinen Schopf und rammte ihm ihr eigenes Knie ins Gesicht. Der Tölpel war bewusstlos, bevor er auf dem Pflaster aufschlug. Mit schreckgeweiteten Augen starrten seine Begleiter Kohatu an. In aller Ruhe drehte sie sich nach ihnen um. Neigte den Kopf zur Seite, bis der Hals knackte.
Die Bande nahm Reißaus.
Törichter Geist, schallt sich Kohatu im Stillen. Sie kannte den dritten Ring, warum hatte sie das Gemüsenetz nicht besser verborgen? Künftig würde sie vorsichtiger sein müssen.
Hinter ihr eine Bewegung. Das Lumpenbündel, das zuvor um Hilfe gefleht hatte – und jetzt einen schmutzigen, blutverschmierten Kopf zu erkennen gab. »Ihr habt mich gerettet.« Die Stimme eines Jungen, zehn oder zwölf Winter alt.
Auch das noch. »Verschwinde«, befahl Kohatu und deutete auf den Bewusstlosen. »Seine Gefährten werden nach ihm sehen, sobald ich weg bin.«
Die Wangen des Jungen waren hohl vor Hunger. Er konnte den Blick nicht von Kohatus Gemüsenetz lösen.
»Willst du die Orange?«
Der Junge nickte sehnsüchtig.
Kohatu ging vor ihm in die Knie. »Ich bin hier groß geworden.« Mit kaltem Blick sah sie ihn an. »Weißt du, wie ich überlebt habe?«
Sie erhoffte keine Antwort, dennoch schüttelte der Junge pflichterfüllt den Kopf.
»Indem ich mich nicht darauf verlassen habe, dass jemand anderes kommt und mir hilft.«
Ängstlich und verwirrt blickte der Junge zurück, wartete, dass sie weitersprach.
Doch Kohatu hatte alles gesagt. Sie erhob sich und ließ die beiden Besitzlosen zurück, ohne sich noch einmal umzusehen.
Das aus groben Latten gezimmerte Häuschen, das Kohatus Ziel darstellte, neigte sich gegen das Stiegenhaus eines Fleischkellers. Ohne diese steinerne Stütze wäre es wohl schon vor vielen Jahren auseinandergefallen. In der Gasse lungerte der Gestank der Verwesung. Der Fleischkeller selbst mochte kühl sein, doch die hölzernen Wagen, auf denen das tote Getier Tag und Nacht herangekarrt wurde, dünsteten gnadenlos aus, was sie über die Jahre ihrer Verwendung an Blut und Schleim eingesogen hatten.
Kohatu umging die vierschrötigen Kerle, die gerade einen der Wagen abluden. Mit einem schnellen Blick auf die Schwelle trat sie an die Eingangstür der Hütte. Nirgendwo war es wichtiger, Ordnung zu bewahren, als in einem Umfeld des Chaos. Als Kohatu sich vergewissert hatte, dass die Schwelle so gründlich gefegt war wie stets, klopfte sie.
Wenig später wurde geöffnet. Eine Alte im Nachthemd, einem Gesicht voller Furchen und strähnigem, grauem Haar erkannte Kohatu und fiel auf die Knie. »Atua-Kore sei Dank für Euren Besuch, Gesegnete.«
Kohatu packte ihre Mutter am Oberarm und zog sie auf die Beine. »Steh auf.« Obwohl das Verhalten den Vorschriften entsprach, wie Besitzlose die Dienerschaft der Hohen Häuser zu behandeln hatten, war es Kohatu zuwider, Mutter auf den Knien zu sehen. Sie reichte ihr das Gemüsenetz und trat in die Hütte. Der Hauptraum wurde durch das flackernde Licht einer einzelnen Kerze erleuchtet.
»Wollt Ihr für die Nacht bleiben?«, fragte Mutter, während sie die Türe schloss. »Ihr könnt mein Lager haben.«
Kohatu löschte die Kerze mit Daumen und Zeigefinger. »Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst kein offenes Feuer in der Wohnung nutzen.«
»Das Lampenöl geht zur Neige. Unser Gast besteht darauf, bei Licht zu schlafen.«
Kohatu seufzte. »Bei meinem nächsten Besuch bringe ich Öl mit.« Mit Blick auf die Tür zur Schlafkammer fügte sie leiser hinzu: »Wie geht es ihr?«
Mutter schlang sich eine Decke um. »Sie verlässt das Bett nur, um sich zu erleichtern. Sie trinkt Wein, doch die Speisen, die ich ihr bereite, rührt sie nicht an.«
Die Nacht schien nicht besser werden zu wollen. Kohatu trat an die Tür, klopfte. Keine Antwort. Sie klopfte ein zweites Mal, drückte vorsichtig die Tür auf. Die Schlafkammer beinhaltete nicht mehr als ein einfaches Bett und zwei schwere Truhen. Vor dem Bett lagen mehrere erschlaffte Weinschläuche. Auf dem Bett selbst lag ein Haufen Decken, aus dem die Gliedmaßen einer zierlichen Gestalt ragten. Der saure Geruch nach Schweiß und Erbrochenem füllte den Raum.
Kohatu machte einen Schritt hinein. »Eure Erhabenheit.«
Aus dem Deckenberg tönte ein Stöhnen, ein Arm tastete blind umher, bis er die oberste Decke zu fassen bekam, sie von einem Ball langen, verworrenen Haares zog.
»Ich bin es, Kohatu.«
Der zu dem Haarknäuel gehörige Kopf drehte sich, brachte ein aufgedunsenes Gesicht zum Vorschein. Verquollene Augen blinzelten im fahlen Licht der Öllampe.
»Geht es Euch gut?« Das Bild, das sich Kohatu bot, war mehr als beunruhigend. Sollte dieses selbstvergessene, schwache Geschöpf dort vor ihr wirklich Torokaha sein, Tochter der Haika, Kind aus dem Hause Laki?
»Lass mich.«
»Eure Erhabenheit, ich ...«
»Lass mich.« Torokaha zog einen halbvollen Weinschlauch aus den Decken hervor und schleuderte ihn in die Richtung Kohatus. Der Schlauch öffnete sich, sein Inhalt ergoss sich über die Bodendielen. »Erstick an deinen höflichen Anreden. Ich bin keine Königin, nicht einmal mehr eine Satrapa, nichts bin ich mehr.«
»Wir müssen über Eure Zukunft reden«, beharrte Kohatu. »Meine Mutter kann Euch nicht für immer hier verstecken. Es ist zu gefährlich.«
»Ach ja?« Torokaha befreite sich von ihren Decken, schwang die Beine über die Bettkante. »Und was schlägst du vor, Wanze? Dass ich mich vor Alandra Laki in den Staub werfe und um Gnade winsle?« Ein heiseres Lachen. »Lieber sterbe ich, als der alten Kröte diese Genugtuung zu bieten.« Mit unsicheren Schritten tappte sie an Kohatu heran. »Lass mich hier oder stoß mich auf die Straße. Was kümmert dich mein Schicksal? Gib es zu, du genießt es, deine Herrin im Dreck zu sehen.« Sie spuckte Kohatu ins Gesicht.
»Verzeiht, wenn ich Euch erzürnt habe, Herrin.« Kohatu spürte, wie der Speichel ihre Wange hinunterlief. Die Ausscheidungen einer Erwählten Atua-Kores galten als lebensspendend – aber ob die Kraft der Göttin noch immer in der verblichenen Prinzessin weilte, wusste wohl niemand außer der Goldenen selbst.
»Erzürnt? Das trifft es gut«, ereiferte sich Torokaha. »Du hast mir das alles eingebrockt. Du hast mich in dieses Loch gesperrt. Ich könnte längst in den Gärten Orofars sein, hättest du mich nicht aufgehalten.«
»Eine Reise wäre zu gefährlich ge...«
»Leck meine Zehen. Du bleibst mir treu bis zum Ende des Lichts?« Sie stieß Kohatu mit der Faust gegen die Brust. »Wie kann es dann sein, dass du noch immer Hauptfrau der Palastwache bist?«
»Wir brauchen den Sold. Und Königin Hua hat verkündet, Euch Eurem Schicksal zu überlassen. Meine Pflichten gegenüber der Königin beschneiden nicht mein Recht, Euch zu Diensten zu sein.«
»Immer noch dieser alberne Schwur ...« Doch der Zorn in Torokahas Stimme wich Erschöpfung. Die Prinzessin wankte zum Bett.
»Bannerführer Deris ist zurück ...«, begann Kohatu.
»Nie gehört, den Namen ... zurück von wo? Ach, vergiss es.« Torokaha vergrub sich unter den Decken.
»Er behauptet, Mahuika gefunden zu haben.«
»Sollen die Styrkur ihre Gedärme braten.«
»Meine Herrin, ich ...«
»Still. Und sag deiner hässlichen Mutter, sie soll besseren Wein anschaffen. Wie soll ich mich mit diesem Fusel zu Tode saufen.«
Kohatu schlug zu, bis ihre Fingerknöchel bluteten. Die körperliche Anstrengung, der Schmerz legte sich wie eine Rüstung um die bedrohte Ruhe ihres Geistes. Die Fechtpuppe zitterte. Unerbittlich hieb Kohatu weiter auf sie ein. Mit jedem Kampfschrei, der ihre Angriffe begleitete, fand sie ein bisschen mehr zu sich selbst. Ihre Brust stand in Flammen, ihre Muskeln glühten, doch sie ließ nicht ab von ihrem Feind. Die Puppe bebte, das Holz knirschte unter den Treffern. Im Tunnel ihrer Wut zerschlug Kohatu einen Arm, Späne flogen, mit einem Sprungtritt drosch sie den Kopf vom Rumpf.
Keuchend taumelte sie von den Resten ihres Opfers zurück. In ihren Schläfen schäumte das Blut, kaum konnte sie sich auf den Beinen halten. Auf die Knie gestützt rang sie nach Luft.
»Beeindruckend«, drang es durch das Rauschen in ihren Ohren, gefolgt von nachlässigem Klatschen.
Verärgert richtete Kohatu sich auf, wandte sich um. Zu rasch, die abrupte Bewegung ließ sie schwindeln. Trotzdem, wer immer sie störte, würde bereuen, geboren worden zu sein. Sie bemühte sich, den Schleier abzuschütteln, der sich über ihren Blick gelegt hatte. Der Zorn half. Ihre Offizierinnen sollten wissen, dass die Hauptfrau während ihrer morgendlichen Übungen nicht unterbrochen werden wollte.
»Wacker gekämpft«, tönte es spöttisch.
Das Erste, was sie erkannte, als der Schleier sich zu lichten begann, war die Robe, die der ungebetene Besuch trug. Keine Soldatin. Wer dann? Der Übungskeller der Wache war nicht nachlässiger geschützt als die privaten Gemächer der Königin. Kohatu wischte sich den Schweiß aus den Augen.
»Wenn alle deine Feinde so enden, möchte ich dich lieber nicht zur Gegnerin haben.«
Nun erkannte Kohatu die Stimme, und auch ihr Blick wurde klar. Am Eingang des Raumes stand Sokai, die Sprecherin des Hohen Rates, und musterte sie mit der Andeutung eines Lächelns.
»Erhabene Sprecherin«, stotterte Kohatu. »Atua-Kore sei Dank für Euren Besuch.« Peinlich wurde ihr bewusst, dass sie nur in Schurz und Brustband dastand; zu allem Überfluss lag wie ein klebriger Film der Schweiß auf ihrer Haut.
Die Sprecherin tat, als störte sie sich nicht an Kohatus unangemessenem Erscheinungsbild. Ohne die Schuhe auszuziehen, trat sie auf die Bastmatten, mit denen die Kampffläche ausgelegt war. »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«
»Nein«, stieß Kohatu hervor, immer noch außer Atem, »erhabene Sprecherin.«
Die Sprecherin trat näher, beugte sich zur Fechtpuppe hinunter, dass ihre Turmfrisur gefährlich wippte. Sie nahm den abgetretenen Kopf und musterte ihn wie ein Kleinod. »Du dienst deiner Königin?«
»Bis ans Ende des Lichts.« Kohatu spürte das Blut ihrer aufgeschlagenen Knöchel von den Fingern tropfen. Doch sie wagte nicht, sich nach einem Tuch umzusehen.
»Und wer, Hauptfrau, ist deine Königin?«
»Hua«, entgegnete Kohatu, verwirrt von der seltsamen Frage, »aus dem Hause Atua-Kore.«
»Tatsächlich?« Achtlos ließ die Sprecherin den hölzernen Kopf in ihren Händen wieder fallen. Ihr Blick traf den Kohatus. »Nicht Torokaha aus dem Hause Laki?«
»Was? Nein! Wieso ...?«
»Beruhige dich. Es war nur eine Frage.«
Kohatu schwieg.
Die Sprecherin schritt langsam um sie herum. »Die Königin weiß von dem heimlichen Gast in der Hütte deiner Mutter – still, sag nichts. Ich glaube dir.« Seitlich von ihr blieb sie stehen. »Im Auftrag der Königin habe ich Erkundigungen über dich eingezogen.« Mit einem Fingernagel strich sie ihr über die schweißnasse Schulter. »Bevor ihre königliche Hoheit dich zur Hauptfrau der Palastwache ernannt hat, wollte sie natürlich wissen, ob sie dir trauen kann. Und ich muss sagen, ich bin beeindruckt. Niemand verliert ein einziges böses Wort über dich.« Sie nahm ihren Rundweg wieder auf. »Also sag mir: Warum schützt du Torokaha?«
»Ich habe es geschworen.«
»Und du siehst keinen Widerspruch darin, sowohl der Königin wie ihrer Widersacherin verschrieben zu sein?«
»Torokaha greift Atua-Kores Urteil nicht an.«
»Kannst du dir sicher sein?«
Sie senkte den Kopf. »Was immer ihre königliche Hoheit über mich verfügen möchte – ich werde folgen.«
»Na, das klingt doch vielversprechend.« Die Sprecherin tätschelte Kohatus Oberarm. Ihre Hand war weich wie die eines Kindes. »Führe mich zu Bannerführer Deris.«
»Jetzt?«
»Wann sonst?«
»Sehr wohl, erhabene Sprecherin. Wünscht Ihr, dass ich mich vorher noch ankleide?«
Bereits auf dem Weg zur Tür, winkte die Sprecherin Zustimmung.
Unter dem inneren Kreis erstreckte sich ein Netz miteinander verbundener Gewölbe. Die Keller dienten nicht nur als kühle Lager für verderbliche Waren wie Bier, Fleisch und Gemüse, sondern erlaubten den Mitgliedern der Hohen Häuser, unbemerkt von einem Anwesen zum anderen zu gelangen. Mehrere Kriege hatten den Nutzen des Systems bewiesen. In Friedenszeiten half es den Satrapanim vor allem, Liebschaften zu pflegen, die nicht den Ansprüchen des Protokolls genügten.
Kohatu machte sich nichts aus der Lebensweise der Erhabenen. Sie selbst nutzte die unterirdischen Gänge einzig dafür, zügig den Ort zu wechseln. Außerdem diente dasjenige Gewölbe, das dem Keller der Hauptwache am nächsten gelegen war, als Verlies.
Gemeinsam mit der Sprecherin ging sie die wenigen Schritte bis zur entsprechenden Schutztür, die von zwei Wachposten gesäumt wurde. Nachdem man ihnen geöffnet hatte, betraten sie einen kleinen, unverputzten Raum, in dem ein weiterer Soldat gegen sich selbst den Würfelbecher schwang. Als er des hohen Besuchs gewahr wurde, sprang er erschrocken auf.
»Erhabene Sprecherin, ich danke Atua-Kore für Euren ...«
»Die Schlüssel.«
Der Mann sah überrascht zu Kohatu, doch als diese keinen anderslautenden Befehl gab, reichte er der Sprecherin einen schweren Schlüsselbund.
»Du kannst gehen.«
Ein weiterer verblüffter Blick des Soldaten zu seiner Hauptfrau, dann machte er sich davon.
Während die Schutztür hinter ihnen wieder ins Schloss fiel, sah die Sprecherin sich mit einer Neugier in dem Raum um, als wäre sie ein Kind in einer Kuchenbäckerei. An einer tönernen Schüssel, in der ein Blechmesser lag, blieb ihr Blick hängen. Sie reichte Kohatu mit spitzen Fingern den Schlüsselbund und nahm selbst das Messer an sich. »Dann mal los.«
Obwohl Kohatu Deris nicht selbst hierhergebracht hatte, handelte es sich um keine große Suche. Das Verlies bestand aus einem einzigen Gang, an dessen Seiten grobe Höhlen aus dem Fels gehauen worden waren. Anschließend hatte man die Öffnungen mit Eisenstangen verschlossen. Ein knappes Dutzend Zellen befand sich hier, und die meisten davon standen leer. Alle Delikte außerhalb des ersten Rings fielen den Blauen Türmen zu, die über eigene Kerker verfügten – und wer im inneren Kreis straffällig wurde, musste gewöhnlich nicht lange verwahrt werden. Auch Deris’ Männer hatte man bereits gehängt.
Den Bannerführer fand Kohatu in der dritten Zelle.
»Öffnen«, befahl die Sprecherin.
Kohatu hängte die Öllaterne, die sie aus dem Vorraum mitgenommen hatte, in die dafür vorgesehene Wandhalterung und sperrte die Gittertür der Zelle auf.
»Widerlich«, bemerkte die Sprecherin und hielt sich die Nase zu. Kohatu konnte es ihr nicht verdenken, es roch wie im dritten Ring.
»Hauptfrau, seid Ihr es?«, grunzte es aus der hintersten Ecke des Lochs.
Die Sprecherin wandte sich an die Angesprochene. »Töte ihn.«
»Verzeiht?«
»Die Königin befiehlt es.« Sie neigte ihre Lippen Kohatus Ohr entgegen. »Jetzt kannst du zeigen, wem deine Treue gilt.«
»Es wäre Aufgabe des Richters ...«
»Hauptfrau, bitte!«, rief Deris, der sich aufzurappeln begann. »Ich habe nur Euren Befehl ausgeführt.«
»War der Befehl nicht«, noch immer waren die Lippen der Sprecherin unnötig nahe an Kohatus Ohr, »die Gefallene nach Ranui zu bringen?«
Deris war inzwischen vollends auf die Beine gekommen. »Der Dämon ...«
»Halt den Mund.« Mit einem schnellen Schritt trat die Sprecherin in die Zelle. Bevor Kohatu es verhindern konnte, warf sie dem gefallenen Bannerführer das Messer hin. »Hier.«
»Töte ihn, Hauptfrau«, sagte sie, während sie gleichgültig beobachtete, wie Deris nach dem Messer grabschte. »Oder willst du das Leben einer Satrapa in Gefahr bringen?«
Das Blechmesserchen mochte weder besonders lang noch besonders scharf sein. Doch Deris war Bannerführer der Palastwache gewesen, hatte dieselbe gnadenlose Ausbildung durchlaufen wie Kohatu selbst. In seiner Hand war das Messer eine tödliche Waffe, daran konnte auch die eine Nacht im Kerker nichts ändern.
»Es ist nicht der Wunsch der Königin«, murmelte Kohatu, »sondern Eurer.« Eine reguläre Hinrichtung wäre anders verlaufen. Sie ballte die Faust um den Schlüssel, spürte, wie der Stoffstreifen spannte, den sie um ihrer verwundete Hand gewickelt hatte. »Warum?«
»Glaub mir, die Königin ...«
Im selben Augenblick schnellte Deris nach vorn, das Messer blitzte, mit der freien Hand packte er die Sprecherin, diese schrie auf. Er schlang den Arm um ihren Hals, riss sie herum, wollte sie zwischen sich und Kohatu bringen. Aber schon war Kohatu da, packte ihrerseits Deris’ Handgelenk, drehte es, das Messer fiel, ein Knacken, nun war es Deris, der aufschrie. Ein Tritt gegen den Brustkorb schleuderte ihn gegen die Rückwand der Zelle, er fiel, fing seinen Sturz auf einem Knie ab, wollte wieder angreifen. Kohatu kam ihm zuvor, hieb ihm den Schlüsselbund ins Gesicht, noch ein Tritt. Wieder ging Deris zu Boden, und diesmal blieb er liegen.
Kohatu fuhr zur Sprecherin herum. »Was zur Finsternis sollte das?«
Das Antlitz der Angesprochenen schimmert bleich im Licht der Laterne. Doch ihre Haltung war so gerade wie eh und je. »Ganz so aufregend habe ich mir das nicht vorgestellt.« Leichthin hingeworfene Worte – allein das Zittern in der Stimme verriet, dass die Sprecherin nicht aus Stein gemeißelt war.
»Erklärt Euch.«
»Töte ihn.«
Ein Röcheln aus Deris’ Richtung. Kohatu beachtete ihn nicht, er war keine Gefahr mehr. »Nein«, sagte sie. »Ich werde meiner Königin berichten, was hier geschehen ist.«
»Ihr wagt es, den Willen der Sprecherin des Hohen Rates zu schmähen?«
Ohne sich noch die Mühe einer Antwort zu machen, verließ Kohatu die Zelle. Als sie nach der Laterne griff, spürte sie die Bewegung hinter sich. Sie wirbelte herum – zu spät. Die Sprecherin hatte sich bereits nach dem Messer gebückt, drang auf Deris ein, stach zu. Vor dem dritten Stich war Kohatu heran, entwand der Wahnsinnigen das Messer. Überall war Blut. Die Sprecherin hatte auf Deris’ Hals gezielt, und sie hatte gut getroffen. Aus einer doppelten Wunde quoll das Leben des Bannerführers in schwächer werdendem Puls.
Schwer atmend stand die Mörderin über dem Sterbenden, starrte mit entrücktem Blick auf ihr Werk.
»Atua-Kore, steh mir bei«, flüsterte Kohatu.
Endlich sah die Sprecherin auf, wandte sich Kohatu zu.
»Jetzt zu uns.« Sie wischte sich eine Strähne aus der Stirn, ihre blutgetränkten Finger zogen eine schmierig dunkle Spur. »Es gibt zwei Möglichkeiten, wie diese Geschichte ausgeht. Entweder die Königin erfährt, dass die Hauptfrau der Palastwache im Beisein der Sprecherin des Hohen Rates Bannerführer Deris ermordert hat.« Wieder deutete sie ihr höhnisches Lächeln an; in Verbindung mit der blutbesudelten Stirn bot sich ein schauerliches Bild. »Gegen den Willen der Königin, wie wir beide wissen.«
»Und wozu?«, fragte Kohatu benommen, kaum fähig, das Geschehene zu verarbeiten. Eine solche Darstellung würde ihren Tod bedeuten. Wenn Aussage gegen Aussage stand, urteilte die ranaische Rechtssprechung grundsätzlich zu Gunsten der höhergestellten Beteiligten.
»Wer weiß? Vielleicht willst du Mahuika schützen? Zürnst ihm, weil er sie verraten hat.«
»Das ist lächerlich«, entfuhr es Kohatu. »Ich bin es gewesen, die ihn überhaupt ausgeschickt hat.«
»Lächerlich? Nun, wer will versuchen, die verqueren Gedanken einer Soldatin nachzuvollziehen?« Die Sprecherin machte einen Schritt weg von Deris’ Leiche, um nicht von der Blutlache erreicht zu werden, die sich zu ihren Füßen ausbreitete. »Wenn die Königin erst erfährt, wie aufopferungsvoll du dich um die eine Schwester kümmerst – es dürfte sie nicht wundern, wenn du auch Gefühle für die andere hegst.«
»Torokaha hat nichts mit Mahuika gemein ...«
»Still. Wie gesagt, die Geschichte kann auch anders ausgehen.«
»Ich begehe tatsächlich einen Mord. An einer Satrapa«, knurrte Kohatu.
»Und behauptest, es sei Deris gewesen, den du anschließend überwältigt hättest. Nicht schlecht.« Die Sprecherin deutete ein anerkennendes Nicken an. »Für dein Versagen, mich zu schützen, würdest du dennoch gekreuzigt werden. Und ich habe Vorkehrungen getroffen. Es gibt einige üble Gestalten, die gerne wissen würden, wo Torokaha sich aufhält. Wenn mir etwas zustößt, würden sie es erfahren. Du würdest deinen Schwur verraten.«
Ungläubig starrte Kohatu in die schimmernde Blutlache. »Als ob Ihr Euch einen Mitesser um die Gnade Atua-Kores schert.«
»Na und? Du tust es.«
Kohatu schwieg.
»Es gibt einen dritten Weg. Du hast deine Satrapa gerettet, als Deris sie angegriffen hat. Niemand wird von deiner fortgeführten Beziehung zu Torokaha erfahren ...«
»Und der Preis?« Ihre Kehle war trocken.
»Du suchst dir ein Banner deiner Leute und reist nach Norden. Finde Mahuika. Töte sie. Lass es für deine Leute wie einen Unfall aussehen.«
»Aber weshalb ... was habt Ihr davon?«
»Ob du es glaubst oder nicht, das Schicksal der Königin liegt mir nicht weniger am Herzen als dir. Wenn die Gefallene nach Ranui zurückkehrte, würde das eine Unruhe erzeugen, die dem Gedeihen unseres Reichs nicht dienlich wäre.« In falscher Unschuld legte sie den Kopf schief. »Findest du nicht?«
»Warum ich?«
»Meine Mutter wurde vergiftet, und noch immer sind die Verantwortlichen nicht gefunden. Mein Haus ist in Bedrängnis; ich weiß nicht, wem ich trauen kann.« Wieder das harmlose Lächeln, ein Lächeln, wie es niemandem hätte gehören sollen, der gerade einen Menschen ermordet hatte. »Liegt es da nicht nahe, dass ich mich an die einzige redliche Frau wende, die im inneren Kreis zu finden ist?«