13. Kapitel

Nachdem Kidogo seinen Arm neu geschient und die Schulterwunde neu gereinigt, genäht und verbunden hatte, versank er in der schauerlichen Welt der Fieberträume. Tage und Nächte flossen wie kalte Schatten an ihm vorbei, die Stimme seines Meisters wechselte sich ab mit dem Lachen ranaischer Soldaten, der erwachte Riese Alateon schüttelte sich brüllend, namenlose, gesichtslose Gestalten baten um Heilung, zerlumpte Kinder warfen Münzen in einen Scheiterhaufen. Und immer wieder Aki. Akis kühlende Hand auf der Stirn, Akis weiche, unbewaffnete Stimme. Akis fremdartiger, unverwechselbarer Geruch – wie fruchtbare Erde, die einen Sumpf aus Eiter überdeckte.

Das Geräusch zerplatzender Regentropfen weckte ihn. Als Kidogo seine verklebten Lider auseinander zwang, blickte er in das strahlendste Weiß seines Lebens. Er blinzelte, drehte den Kopf. Eine zackige Linie trennte das Weiß von Grau – neben ihm erhob sich eine Felswand, deren Überhang gerade ausreichte, ihn vor dem Regen zu schützen. Unter ihm ein Lager aus kitzelnden Tannenzweigen. Auch sein Körper war mit Tannenzweigen bedeckt. Der Überhang bot nicht genügend Platz, um auch noch das Feuerchen zu schützen, das neben Kidogo knisterte. Zischend verschwanden Regentropfen in den Flammen. Keine Spur von Aki.

Kidogo versuchte, seinen Arm zu bewegen, es gelang. Der Knochen schien heilen zu wollen. Und wenn der Wundbrand in seiner Schulter sich ausgebreitet hätte, wäre er schon nicht mehr am Leben.

Neben seinem Lager standen zwei Schalen, eine mit Beeren, eine mit Wasser gefüllt. Für einen Augenblick war er verwirrt: Die Schalen gehörten seinem Meister. Doch dann erinnerte er sich; er hatte des Meisters Ranzen ja an sich genommen, nach dessen Tod. Wo war Aki? Stöhnend richtete er seinen Oberkörper auf – und starrte geradewegs die Dornenkrone des Riesen Alateon an. Er schloss die Augen, schüttelte den Kopf, sah wieder hin. Unerschütterlich ragten auf der anderen Seite der Schlucht die baumlangen, stählernen Dornen aus dem Fels. Von all den Fratzen, die das Fieber Kidogo vorgeführt hatte, hätte er von dieser am wenigsten erwartet, sie bei Licht zu sehen.

Im Gefolge seines Meisters hatte Kidogo die Sandwüsten des Südens erreicht, hatte im Osten die kargen Inseln der Styrkur und im Westen die wogenden Teppiche der Auen Orofars bestaunt. Doch nie hatte er etwas ähnlich Furchteinflößendes gesehen wie diesen gewaltigen Dornenkranz, der vor ihm aus der Felswand ragte. Wer hatte das gebaut? Wozu? Nur Tiratanga besaß den Reichtum und den Größenwahn zu solch einem aberwitzigen Unterfangen. Doch die Dornen passten genauso wenig zu Ranui wie zu irgendeinem anderen Baustil, den Kidogo kannte – ganz abgesehen davon, dass sich Ranui hunderte Meilen entfernt befand. Das Bauwerk musste von einem der versunkenen Völker stammen.

Die Sehnsucht nach der Weisheit seines Meisters traf Kidogo wie ein Tritt in den Magen. Es half nichts, alles Hoffen wäre vergebens. Nie wieder würde er sein Unwissen auf den Schultern Kumbukos abladen können. Er war allein, und vor ihm ragte ein unlösbares Rätsel aus dem Fels. Warum hatte man das Gebilde im Berg verborgen? Die Vorstellung, welch ein Aufwand hier betrieben worden war, ließ ihn schwindeln.

Um seinem Verstand Zeit zu geben, sich zu ordnen, nahm Kidogo die Wasserschale und trank. Der weiße Himmel versprach, dass es bei den vereinzelten Tropfen bleiben würde. Es war kühl, aber nicht mehr eisig, die Luft roch blütenschwanger und bereit für den Frühling. Kidogo ließ sich zurück auf sein Lager sinken. Er würde warten, bis Aki zurückkäme, und dann gemeinsam mit ihr das Weite suchen. Was ging das schaurige Bauwerk ihn an? Er war ein Mandrêb, allein dazu berufen, Menschen zu heilen, so hatte sein Meister es ihn gelehrt.

 

Leichte Schritte weckten ihn. Nein, die Tritte eines Tieres. Ein Knurren. Kidogo öffnete die Augen, es dunkelte bereits. Mehrere Schatten schlichen auf ihn zu. Auf einen Schlag war er hellwach. Wölfe. Er musste nicht raten, was sie wollten. Die struppigen, abgemagerten Leiber bezeugten, dass der Winter hart gewesen war. Im Mondlicht glänzten tief hängende Lefzen.

Mit dem gesunden Arm stemmte Kidogo sich hoch, knurrte zurück. Aber er machte sich keine Hoffnungen. Die Tiere waren halb verhungert und hatten ihn längst als einfache Beute gewittert. Hastig griff er nach einem Stein, warf ihn dem Rudelführer entgegen. Dieser war nur noch ein Dutzend Schritte entfernt, doch der Stein überwand kaum die Hälfte der Strecke.

Die Wölfe trotteten näher. Fast spielerisch, so sicher waren sie sich ihres Opfers. Kidogo, zu schwach aufzuspringen, schob sich mit den Füßen weg von ihnen, bis er die Felswand im Rücken spürte. Er zählte fünf Gegner. Das Feuer war erloschen, ein paar verkohlte Äste würden ihm nichts nützen. Als er erneut zu knurren versuchte, entwand sich seinem vertrockneten Schlund nur ein jämmerlicher Rülpser. Er bekam ein weiteres Steinchen zu fassen, warf es, traf nicht. Der Wolf, auf den er gezielt hatte, zuckte nicht einmal. Er war so nah heran, dass Kidogo das Gelb in seinen Augen erkennen konnte. Es wirkte ausgebleicht, krank. Ein dünner Speichelfaden hing ihm aus dem Maul.

»Verschwindet!« Aus dem Wald stürmte ein neues Wesen heran, fuchtelte mit einem Stecken, drang lärmend auf die Wölfe ein. »Schert euch davon! Macht, dass ihr wegkommt!« Die Fetzen, welche die Gestalt trug, waren kaum noch als Kleidung zu betrachten; das Gesicht war gerötet von Anstrengung und Zorn. Aki. Als wäre sie ein Dämon der alten Zeit, setzte sie den Wölfen zu. Die Wölfe trollten sich.

Mit einem letzten Schrei schleuderte Aki ihnen den Stecken hinterher. Dann eilte sie an Kidogo heran. Noch immer keuchend von dem Kampf, kniete sie sich zu ihm. »Du bist wach?«

Kidogo versuchte ein Lächeln. Ein heißer Schmerz blitzte durch seine Lippen. Er tastete nach ihnen, sie waren aufgeplatzt.

»Bist du verletzt?«

Er schüttelte den Kopf.

Im Gegensatz zu seinem eigenen Versuch gelang Akis Lächeln vollkommen. »Wie schön.«

Er deutete mühsam in die Richtung, in der die Wölfe verschwunden waren. »Danke.« Seine Stimme war das Krächzen eines Raben.

Aki hielt einen Lederbeutel aus dem Bestand des Meisters in der Hand, füllte verschiedene Früchte in die Beerenschale, deren früheren Inhalt Kidogo bereits geleert hatte. Staunend verfolgte er ihre Bewegungen. Die Frau wirkte größer, als er sie in Erinnerung hatte, gesünder.

»Wie lange?«

»Seit wir hier sind?« Sie schob sich eine Beere in den Mund. »Fünf Nächte.«

»Du bist wirklich die Tochter Haikas?«

Aki nickte.

Er räusperte sich.

»Was ist?«

»Ich hätte nicht gedacht, dass, naja ...« Er verstummte.

»... dass eine Kronprinzessin das Herz hätte, Wölfe in die Flucht zu schlagen?«

Kidogo spürte, wie das Blut in seine Wangen schoss. Er nickte.

»Soll ich dir was gestehen?«, fragte Aki. »Bis vor ein paar Wochen habe ich das selbst nicht gewusst.«
Verlegen wandte Kidogo den Blick ab, betrachtete die Schale zwischen ihnen. Neben Obst waren auch Nüsse und Wurzeln darin. Alles war essbar. »Woher kennst du dich so gut aus mit den hiesigen Früchten? Wird eine Satrapa in Pflanzenkunde geschult?«

»Bevor ich dich getroffen habe, war ich schon wochenlang auf der Flucht.« Sie hockte sich neben ihn, schürte das erloschene Feuer. »Immer, wenn ich etwas Neues entdecke, was essbar aussieht, nehme ich nur einen Happen. Wenn ich die Nacht gut überstehe, esse ich den Rest. Einen letzten Bissen lasse ich übrig, als Vergleich für künftige Funde.« Sie klopfte auf ein Täschchen an ihrem Gürtel. »Inzwischen habe ich eine ganz nette Sammlung.«

Nachdenklich betastete Kidogo das Handgelenk, das er sich bei seinem Sturz in die Schneespalte verstaucht hatte. »Als wir uns zuerst getroffen haben, wärst du beinahe verhungert – und du hattest dieses Täschchen die ganze Zeit bei dir?«

Aki beugte sich zur Feuerstelle, blies hinein. Bald leckten die ersten Flämmchen. »Dumm, nicht wahr?« Wieder das Lächeln, das so gar nicht zu den Lumpen passen wollte, in denen sie steckte. »Aber es war nicht das einzige Mal, dass mich der Hunger fast in die Knie gezwungen hätte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, wenn ich das Täschen anrührte, gäbe ich meine Hoffnung auf ein Morgen auf. Und was hätte mir ohne diese Hoffnung eine Handvoll Beeren genutzt.«

Ein Gedanke, wie ein Mandrêb ihn hätte aussprechen können. Kidogo spürte, wie seine Augen feucht wurden.

»Was ist los?«

»Nichts.« Rasch wischte er sich übers Gesicht. »Ich musste nur an meinen Meister denken.«

Aki legte ihm eine Hand auf den unverletzten Arm. »Es tut mir leid.«

»Nicht dir muss es leid tun.« Er seufzte. »Ich habe ihn umgebracht.«

»Was ist geschehen?«

Er erzählte es. Als er geendet hatte, starrten sie eine Weile stumm in das wiederentfachte Feuer.

Plötzlich begann Kidogo zu lachen.

Verstört sah Aki ihn an, doch Kidogo konnte nicht aufhören, bald rannen ihm die Tränen von den Wangen, er lachte weiter und weiter, bis das Echo von den Felswänden hallte. Erst als das Lachen ihn so schüttelte, dass der Schmerz in seiner Schulter nicht mehr zu verdrängen war, beruhigte er sich.

»Sagst du mir, was in dich gefahren ist?«

»Ja, warte, gleich«, er rang nach Luft. »Du hättest eigentlich Haika auf den Thron folgen sollen, oder?«

Sie nickte mit zusammengepressten Lippen.

»Die Kronprinzessin Tiratangas«, gluckste er.

»Kidogo ...«

»Du bist kleiner als ich!« Erneut wurde er von einem Lachanfall gepackt.

»Wie lustig.« Akis Blick sagte das Gegenteil.

»Verzeih mir«, Kidogo wurde ernst. »Ich wollte dich nicht verspotten. Glaub mir, ich würde dich nie aufgrund deiner Größe bewerten. Das ganze Weltbild der Mandrêbanim baut darauf auf, nicht zu unterscheiden zwischen Groß und Klein, Arm und Reich, Jung und Alt.«

»Warum hast du dann gelacht?«

»Weil Eure Göttin Atua-Kore das Gegenteil predigt. Alles bei euch ist in Klassen eingeteilt, eure Herkunft, euer Besitz, eure Ausbildung, alles bewertet ihr voller Inbrunst – und jeder Mensch, jeder Gegenstand wird abhängig davon behandelt, wie er sich in das Raster eurer Werte einfügt.«

»Meine Mutter war nicht größer als ich.« Sie klang beleidigt.

»Bitte, verzeih mir.« Er bemühte sich, seine unangemessen gute Laune zu verbergen. »Ich stelle nicht dich in Frage, sondern die Tradition Ranuis. Und nach Ranui wirst du nie zurückkehren können, richtig?«

»Vermutlich, ja ...«

»Weißt du was? Ich freue mich für dich. Gleich, welche Macht dir in Ranui versprochen wurde, du wärst immer eine Gefangene geblieben – immer beurteilt, immer gezwungen, selbst zu beurteilen. Jetzt bist du frei.«

Aki starrte in die Flammen. »Die Mandrêbanim bewerten Menschen nur nach ihren Taten?«

»Nicht mal danach. Unser Ziel ist, jedem Menschen gleichermaßen offen zu begegnen. Wir glauben, jedem Lebewesen sollte ermöglicht werden, Frieden mit sich selbst zu finden.«

»Und du, Kidogo«, sie sah ihn an, »gelingt dir das?«

»Das Leben ist ein Weg.«

»Das klingt wie ein Spruch deines Meisters ... Glaubst du daran?«

Er tastete nach seiner Schulter. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr das kurze Gespräch ihn erschöpft hatte. »Lass uns das Feuer hochschüren und schlafen. Vielleicht bin ich morgen erholt genug, dass wir reisen können.«

Als Aki nicht widersprach, ließ er sich auf sein Bett aus Tannennadeln sinken. Über ihnen leuchtete ein riesiger, kreisrunder Mond, im Wald heulten die Wölfe. Es würde eine kalte Nacht werden.

Kidogo befand sich bereits im Halbschlaf, als Aki unvermittelt sagte: »Wir sollten nicht reisen.«

»Was?« Er schlug die Augen wieder auf, sah, dass Aki in unveränderter Haltung am Feuer saß. »Die Soldaten werden wiederkommen«, warnte er sie. »Wir müssen hier weg.«

»Sie werden mir überallhin folgen, selbst zu den Styrkur.« Aki lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken.

»Wir müssen es versuchen«, beharrte Kidogo.

»Schau dir das an.« Sie hatte den Kopf gedreht, er folgte ihrem Blick zu den geheimnisvollen Riesendornen. Seit dem Angriff der Wölfe hatte er keinen Gedanken mehr auf sie verwendet. Vom Mondlicht beschienen, ragten sie noch schauerlicher als zuvor aus dem Fels. »Fragst du dich nicht, was es damit auf sich hat?«

»Doch«, gab er zu. »Aber was immer es ist, es kann unsere Lage nicht verbessern. Noch einmal werden sie uns die Geschichte mit dem göttlichen Eingriff Alateons nicht abkaufen. Wahrscheinlich schicken sie bereits eine weniger abergläubische Truppe.«

»Bestimmt«, pflichtete Aki ihm bei. »Aber noch wissen sie nicht, womit sie es zu tun haben. Noch können wir bluffen. Sobald wir fliehen, haben wir diesen Vorteil verwirkt.«

»Du willst sie hier erwarten?«

Aki verschränkte die Arme, den Blick nach wie vor auf die Dornen gerichtet. »Ich will das Ding erkunden.«

»Was?« Kidogo glaubte, sich verhört zu haben. »Und dann?«

»Vielleicht ist es tatsächlich der Tempel eines Gottes.«

»Selbst wenn – wer versichert dir, dass dieser vermeintliche Gott auf unserer Seite ist?«

»Je mehr wir über diesen Bau wissen, desto genauer wissen wir, wie wir ihn in unserem Sinne einsetzen können.«

»Du bist wahnsinnig.«

»Ich habe seit Wochen nur in Gestrüpp geschlafen und mich von Beeren und Wurzeln ernährt«, erklärte Aki mit erschreckender Schärfe, »ich will nicht, dass es den Rest meines Lebens so bleibt.«

»Wenn wir uns nicht bald davonmachen«, bemerkte Kidogo, »wird der Rest deines Lebens nicht besonders lange währen.«

»Tu, was du willst. Aber ich schau mir morgen dieses Ding genauer an.«