11. Kapitel

Aus dem Dunkel des Waldes rief ein Uhu, ansonsten war es still. Lang lag Kidogo auf dem erdigen Boden; regte sich nicht von der Stelle, an der er gefällt worden war. Der Schwerthieb war ihm in die Schulter des gebrochenen Armes gefahren, aber nicht tief, die Felle hatten einen Großteil der Wucht aufgefangen. Er war überzeugt gewesen, dass man ihn töten würde. Mit dem unerwarteten Korb Leben, den man ihm stehen gelassen hatte, wusste er nichts anzufangen. Es waren der Körper und dessen Wunden, die ihn dazu brachten, sich aufzuraffen. Über ihm ragte eine Eiche auf; er kroch zu ihr, lehnte sich an ihren Stamm, starrte in den Himmel. Der Meister war tot. Und schlimmer als das – alles, woran jener geglaubt hatte, war mit ihm gestorben. Halte dich aus allen Händeln heraus, lautete die erste Regel der Mandrêbanim. Kidogo war es gewesen, der die Regel gebrochen hatte, der versucht hatte, Aki zu schützen. Doch den Preis dafür bezahlt hatte der Meister. Suche die Ruhe deiner Seele, lehrten die Mandrêbanim. Kidogo hatte unbedacht gehandelt vor den Ranu, hatte sich stammelnd verraten, bezwungen von seinen Gefühlen. Doch der Meister hatte bezahlt.

Der ranaische Soldat hatte recht: Das Zeitalter der Mandrêbanim war vorüber. Von Ozean zu Ozean herrschte die Goldene Göttin, und wer sein Haupt nicht senken wollte, dem schlug sie es ab.

Über ihm ächzte die Eiche im Wind.

Kidogo dämmerte vor sich hin, ohne auf den Tag zu warten. Der Tag kam trotzdem. Und das Licht vertrieb die betäubende Gleichgültigkeit aus seinen Gliedern. Was, wenn die Soldaten tatsächlich von den Beeren gegessen hatten? Oder – und der Gedanke schnitt ihm durch die Brust – hatten sie zuerst Aki welche geben, um die Verträglichkeit zu testen? Als er in der Nacht ans Lager herangeschlichen war, hatte er Aki am Feuer liegen sehen, am Leben. Zu spät, um seinen Plan noch zu ändern. Seine Schuld war es gewesen, dass sie gefangen worden war. Hatte er sie umgebracht? Wenn sie noch am Leben war, musste er ihr helfen. Ein Ziel, mehr brauchte es bisweilen nicht, hatte der Meister zu sagen gepflegt.

Zuerst allerdings müsste er sich auf Kräutersuche machen. Und nach einem Dorn, den er als Nadel verwenden könnte; außerdem nach einer geeigneten Pflanzenfaser als Faden. Wenn er die Wunde nicht reinigte und nähte, würde er spätestens in einer Woche seinem Meister folgen. Ob der Knochenbruch je wieder heilen würde, war eine andere Frage.

Er hatte sich gerade hochgewuchtet, als er Schritte hörte – aus der Richtung, in welcher die Soldaten abgezogen waren. Schnell huschte er von der Lichtung weg, duckte sich hinter ein Dickicht. Die Schritte kamen näher, verrieten eine einzelne Person. Jemand Leichtes, der keine schwere Rüstung trug.

Aki. Sie hatte den Ranzen des Meisters auf dem Rücken, außerdem einen Wasserschlauch an der Seite. Ihre Lippe war blutverkrustet, der Kiefer dunkelblau angelaufen. Offen schritt sie auf die Lichtung, sah sich um. Wurde sie etwa nicht verfolgt?

Kidogo trat aus seinem Versteck hervor.

Aki zuckte, dann entspannte sie sich. »Du lebst.«

»Du auch.« Die Erleichterung überschwemmte ihn. Er wollte irgendetwas sagen, seine Gefühle ausdrücken, doch zu keinem Wort war er fähig.

»Die Soldaten ... du hast sie vergiftet.«

»Ja.«

»Sie hätten dich töten können.«

»Ja.«

Still sah Aki ihn an. Kidogo senkte den Blick. Der Uhu hatte sich schlafen gelegt, an seiner statt klopfte ein Specht.

»Dein Meister meinte, die blauen Beeren sind ungefährlich.«

»Sind sie«, nickte Kidogo. »Ich habe Samen eines Kreuzbaums hineingedrückt.«

Die Sonne hob sich über die Wipfel des Waldes. Es würde ein warmer Tag werden. Aki war nicht näher gekommen, stand noch immer auf der Mitte der Lichtung. »Was machen wir jetzt?«

Schüchtern wagte Kidogo einen Schritt auf sie zu, streckte den Arm aus. »Darf ich den Ranzen?«

Sie reichte ihn ihm. Er fand sowohl Nadel und Faden als auch die richtigen Kräuter. Als er begann, seine Wunde zu versorgen, setzte sie sich zu ihm, ging ihm zur Hand.

»Wir müssen weg von hier«, bemerkte er zwischen zwei Stichen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Die Soldaten – sind sie nicht ...?«

»Tot? Du hast sie nicht erstochen?«

Mit zusammengepressten Lippen schüttelte Aki den Kopf.

»Wenn sie die Beeren gleichmäßig aufgeteilt haben, überleben sie wohl. Und sie sind nicht die einzigen, oder?«

Jetzt war es Aki, die zu Boden sah. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.

»Warum suchen sie dich?«

»Ich bin die Tochter Haikas.«

Kidogo verstach sich. Glühendes Eisen in seiner Schulter. Als er wieder atmen konnte, keuchte er: »Königin Haika? Die Herrscherin über Tiratanga?«

»Meine Mutter. Sie ist gestorben. Ich hätte ihr Erbe antreten sollen. Stattdessen bin ich abgehauen.«

Sprachlos starrte er sie an.

»Klingt komisch, sicher«, murmelte Aki. »Aber es ist wahr.«

»Sie werden dich suchen von Ozean zu Ozean.«

Aki schwieg.

»Wir müssen dich aus dem Reich herausschaffen.«

»Warum willst du mir helfen?«

Kidogo zuckte die unverletzte Schulter.

»Du wirst sterben.«

»Wir machen uns zu viele Gedanken über den Tod«, gab Kidogo einen Spruch seines Meisters wieder, »und zu wenige darüber, wie wir leben wollen.«

»Du hast es gerade gesagt – sie werden mich jagen von Ozean zu Ozean. Du wählst ein Leben auf der Flucht.«

»Wie du. Lass uns nach Süden, und dann zur Küste.«

»Und dann?«

»Versuchen wir, ein Schiff zu finden, dass uns nach Styrkur Dok mitnimmt.« Das Inselkönigreich war das einzige Land diesseits der Wüste, das sich dem Einfluss Ranuis bisher entzogen hatte.

Aki riss die Augen auf. »Zu den Wilden?«

»Der Mensch urteilt schnell über das, was er nicht kennt.« Ein weiterer Spruch des Meisters.

»Aber die Styrkur? Es heißt, das sind Menschenfresser.«

»Es heißt, in Ranui töten Königinnen ihre Kinder.« Kaum hatte er es gesagt, bereute er es.

In Akis Augen glänzte Verletzung.

»Es tut mir leid.«

»Schon gut«, flüsterte sie. »Du hast ja recht.«

Stumm sah sie ihm zu, wie er den Faden verknotete. Die Naht war ihm gut gelungen, unter normalen Umständen wäre er zuversichtlich gewesen, was die Heilung betraf. »Also«, fragte er, während er scharfes Öl auf die Wunde träufelte, »was tun wir?«

»Du willst mich wirklich begleiten?«

»Wenn es dir recht ist.«

»Dann auf zur Küste.« Sie half ihm, seine Kleidung zu richten. »Eigentlich heiße ich Mahuika.«

 

Sie verließen gerade die Lichtung, da stoben Krähen aus den Wipfeln hinter ihnen auf. Einen Wimpernschlag später leuchtete es gold und rot zwischen den Bäumen hervor.

Gleichzeitig mit Kidogo hatte Aki die Gefahr bemerkt. Zu spät, schon wurden Befehle gebrüllt – sie waren entdeckt. Ohne ein Wort zu verlieren, rannten sie los. Kidogos Arm brannte, dann auch seine Beine, seine Lunge. Er hatte keine Wahl, noch einmal würden die Ranu ihn nicht davonkommen lassen. Neben ihm Akis keuchender Atem. Hinter ihnen das Gebrüll der Verfolger, das Trappeln ihrer Pferde. Ein Meer aus Farnen schlug ihnen gegen die Unterschenkel; Aki war schneller als er, wandte sich nach Westen, ein Bächlein entlang. Den Berghang hinauf, wollte Kidogo rufen, doch er hatte keinen Atem mehr. So sehr sie kämpften, sie waren verwundet und ermattet. Am Bach hatten die Pferde mehr Raum – Kidogo hörte die klatschenden Gerten ihrer Reiter. Der Boden wurde steiniger, das Bächlein hatte sie in eine Klamm geführt. Rechts und links unerklimmbare Hänge. Tiefer in die Klamm. Die Wände rückten näher zusammen, der Weg brachte sie geradewegs in eine Sackgasse. Aki merkte es auch, sah sich im Rennen um, doch nirgendwo war ein Aufgang zu erkennen. Weiter. Der Schmerz in Kidogos Brust stach den in seinem Arm aus. Aki stolperte, behielt mit Mühe das Gleichgewicht. Der Boden war flach, bot kein Hindernis. Sie musste am Ende ihrer Kräfte sein. Gleich ist es vorbei, dachte Kidogo, und stolperte selbst, krachte auf den Fels.

Aki blieb stehen, sah sich nach ihm um. Das Haar klebte ihr schweißnass an den Wangen. Kidogo drehte den Kopf zurück, die Verfolger waren nur noch fünfzig Schritt entfernt. Hau ab, wollte er ihr zurufen, da lief ein Zittern durch den Boden. Ein Zittern, wie er es erst vor ein paar Tagen erlebt hatte. Er war nicht aus Erschöpfung gestolpert – der zornige Riese war erwacht. Würde er genauso um sich schlagen wie das letzte Mal?

Stöhnend vor Anstrengung richtete Kidogo sich auf. Aki war bei ihm geblieben, nahm einen Stein vom Boden, holte zum Wurf aus.

Rasch hob Kidogo den Arm. »Warte!«

Den Stein bereits über ihrem Kopf, hielt sie inne. »Was?«, keuchte sie zurück.

Kidogo antwortete nicht, richtete alle Aufmerksamkeit auf die Verfolger. Es waren sechs, nein, sieben, und selbst wenn sie so zerrüttet waren, wie sie aussahen, würde mit Gewalt nicht gegen sie zu bestehen sein. Der vorderste von ihnen war der Bannerführer, der bereits auf zwanzig Schritt herangekommen war.

»Zurück!«, schleuderte Kidogo ihm entgegen. »Ihr habt verloren.«

Der Ranu wurde langsamer – was ein gutes Zeichen gewesen wäre, hätte er nicht gleichzeitig sein Schwert gezogen. »Du hast es nicht anders gewollt.«

»Einen Schritt weiter, und die Rache Alateons wird über Euch kommen.«

»Die Todesangst vernebelt ihm den Geist«, erklärte ein Soldat, der zum Bannerführer aufgeschlossen war.

»Atua-Kore hat hier keine Macht«, schrie Kidogo, »Alateon hat Mahuika als seine Prophetin erwählt. Kommt näher und erfahrt seinen Zorn!«

»Was tust du?«, zischte Aki ihm zu, er winkte ihr bloß, sich zurückzuhalten. Eine gute Antwort hätte er ihr sowieso nicht zu geben vermocht.

Mit erhobenem Schwert kam der Bannerführer auf ihn zu, unbeeindruckt von dem Stein, den Aki noch immer wurfbereit hielt. »Und wer soll das sein, dieser Alateon, in dessen Namen du die Goldene schmähst?«

»Der eisige Rächer«, rief Kidogo verzweifelt, während er zurückwich, »der zornige Alte, der Sammler der Seelen.« Unter seinen Sohlen lag der Fels in der Ruhe der Jahrtausende. Hatte er sich das Beben nur eingebildet? Zu einer erneuten Flucht war es endgültig zu spät.

Für den Moment schien der Bannerführer tatsächlich durcheinandergebracht. Er drehte sich zu seinen Männern um. »Habt ihr je von dem gehört?«

»Wir befinden uns im Gebirge des Zorns«, bemerkte einer.

»Soll hier nicht irgendwo ein Riese begraben liegen?«, fügte ein zweiter hinzu.

»Ein Grund mehr«, knurrte der Bannerführer, »diesem Wicht den Garaus zu machen.« Er streckte sein Schwert in die Höhe. »Atua-Kore sei Ruhm.«

»Wartet«, schrie Kidogo, »oder werdet vernichtet!«

Aki warf ihren Stein, der Bannerführer duckte sich mühelos zur Seite. Der Fels unter Kidogos Füßen so reglos, wie Fels nur sein konnte. Weiter wich er zurück, blieb irgendwo hängen, stürzte, kroch rücklings weiter. Sah, wie Aki sich erneut nach einem Stein bücken wollte. Eine Kette sauste durch die Luft, wickelte sich um sie, warf sie nieder. Über ihm selbst baute sich der Bannerführer auf, holte aus zum mörderischen Hieb. In seinem Blick loderte die Mordlust. Kidogo hob den Arm zum Schutz; es war eine ohnmächtige, sinnlose Geste. Es war vorbei.

»Seht!«, rief einer der Soldaten.

Der Bannerführer hielt inne, tödlich hing über Kidogo das Schwert. Kidogo blinzelte unter seinem Arm hervor. Die Soldaten hatten sich dem Steilhang zu seiner Linken zugewandt; ein Felsbrocken hatte sich gelöst, polterte in die Klamm herab.

Verächtlich schnaubend drehte der Bannerführer sich wieder Kidogo zu. »Wenn das die Macht deines Gottes ist, dann findet Atua-Kore bestimmt einen Platz für ihn in Rakators Steinbrüchen.«

Die Soldaten lachten.

In der Steilwand knackte es. Die Soldaten verstummten.

Ein dumpfes Dröhnen rollte durch die Klamm.

Von beiden Hängen rumpelten Felsen herunter.

Die Soldaten sahen unsicher zu ihrem Bannerführer, doch der erteilte keine Befehle.

In der Steilwand, die zuvor geknackt hatte, bildete sich ein Riss. Ein Geräusch wie platzende Früchte im Feuer. Und dann – endlich – bebte die Erde. Über eine Strecke von hundert Schritt hatte sich der Hang gelöst, wie von Geisterhand; rutschte brausend in die Klamm, riss ausgewachsene Tannen mit sich und hausgroße Felsbrocken.

Obwohl sich bereits abzeichnete, dass die Gerölllawine sie nicht erreichen würde, schlugen die Soldaten Schutzzeichen um Schutzzeichen. Im Angesicht des Bannerführers rappelte Kidogo sich auf. »Verschwindet«, rief er, »oder Alateon wird Euch vernichten!«

Der Bannerführer sah noch immer zu dem aufgebrochenen Fels hinüber. Seine Augen waren groß geworden.

»Der zornige Alte wird Euch richten«, setzte Kidogo nach, aber der Bannerführer reagierte nicht. Ein großes Grauen hatte sich in sein Gesicht gelegt. Kidogo folgte seinem Blick, und da erfasste das Grauen ihn selbst.

Aus der Böschung des Hangs ragte ein Dutzend Dornen, lang wie Baumstämme. Sie waren angeordnet, als lägen sie auf einer zur Seite geneigten Scheibe, aus deren tiefer im Berg befindlichen Mittelpunkt sie entsprangen. Manche waren kürzer, manche länger; manche neigten sich nach oben, andere nach unten. Allesamt waren sie glatt wie Glas, glänzten in silbriger Kälte. So spitz liefen sie zu, dass ihre Enden schmal wurden wie Nadeln. Es war, als ragte aus dem Fels die Krone eines grausamen Gottes.

»Was zur ...«, brachte der Bannerführer hervor.

»Flieht«, sagte Kidogo ruhig. Und war es nicht. Um sein eigenes Herz hatte sich eine eisige Hand gelegt. »Flieht, bevor es zu spät ist.«