10. Kapitel
Der Boden bebte unter dem Rhythmus der Trommeln. Kühl lag der Stein unter Sokais nackten Sohlen, kühl lag der Dolch in ihrer Hand. Mit angemessenem Abstand folgte sie ihrer Mutter auf die Verkündigungsplattform, zur Krönung der neuen Königin.
Obwohl sie vorläufig gescheitert war, entwickelten sich die Dinge besser als erwartet. Der Hohe Rat hatte Hua aus dem Hause Turepo zur Königin bestimmt – ein Entschluss, den Sokai maßgeblich gesteuert hatte. Hua war jung und leicht zu beeinflussen, vor allem aber war sie weniger launenhaft als Torokaha.
Angespannt beobachtete Sokai ihre Mutter, wie sie an den Rand der Plattform trat und die Arme hob. »Königin Haika ist tot. Hundert Tage hat Tiratanga ihren Tod betrauert.«
Natürlich war inzwischen viel mehr Zeit vergangen, aber was kümmerte den Tempel schon die Wirklichkeit. Die Worte waren vorgeschrieben. Jede Blähung schrieb Atua-Kore ihren Dienerinnen vor, dachte Sokai höhnisch. Dabei achtete sie peinlich auf eine regungslose Miene – Akolythinnen umringten sie. Es würde schnell die Runde machen, wenn sie im Angesicht eines Großen Rituals den angemessenen Ernst vermissen ließe. Darüber hinaus war es in Sokais eigenem Interesse, dass das Ritual nicht gestört wurde. Prinzessin Mahuika war ihr Leben lang darauf vorbereitet worden, ihre Schwester zu opfern, und war gescheitert. Für Hua lag es nur zehn Tage zurück, dass sie von ihrem Schicksal ereilt worden war. Und zu ihrem Unglück hatte sie erst im vergangenen Mond eine Tochter geboren.
»Heute Nacht werden wir eine neue Königin küren, und Atua-Kores Segen wird über ihr sein«, verkündete die Hohepriesterin, und einen Augenblick später wiederholten die Trichter auf den Nebenplattformen es dröhnend. »Kona, Tochter der Hua, tritt vor.«
Aus dem Portal trat eine Priesterin, das Neugeborene im Arm. Sokai strich ihre Robe glatt und folgte. Wenn das Opfer zu jung oder zu gebrechlich war, um den goldenen Dolch selbst zu tragen, oblag es der Sprecherin des Hohen Rates, ihn der Hohepriesterin zu überbringen.
»Bist du bereit, Tiratanga zu dienen?«
»Ja«, entgegnete Sokai in Vertretung des Neugeborenen. »Weil es meine Pflicht ist.«
»Gib mir den Dolch.«
Sokai reichte ihn ihrer Mutter. Diese stand aufrecht, ergriff den Dolch mit vornehmer Geste. Es war unglaublich, wie rasch sie das Gift verkraftet hatte. Jemand, der sie weniger gut kannte, hätte sie für so rüstig gehalten wie eh und je. Aber Sokai konnte nicht entgehen, dass Amokapuas Blick an Schärfe verloren hatte, dass die Fältchen um ihre Mundwinkel tiefer geworden waren. Allein, ob es an den Nachwirkungen des Giftes lag oder an der Bürde ihres Amtes, war nicht zu bestimmen.
»Hua, Tochter der Rauriki, tritt vor.«
Zwei Akolythinnen führten die Bezeichnete herbei. Als Hua in den Armen der Priesterin ihre greinende Tochter sah, schluchzte sie auf. Wäre wohl gestolpert, hätten die Akolythinnen sie nicht gestützt. Während Sokai sich von der Plattform zurückzog, warf sie der zukünftigen Königin einen Blick zu. Ein Gesicht formgewordener Verzweiflung. Es war schon merkwürdig: Wie schwer konnten manche Menschen sich von dem losreißen, was sie davon abhielt, über sich hinauszureichen. Die Kleine musste nur die heutige Nacht überstehen, und sie würde die mächtigste Frau der bekannten Welt sein. Ohne ihre Verachtung zu zeigen, stellte sich Sokai an ihren Platz zwischen den anderen Vertreterinnen des Hohen Rates. Sie spürte die Anspannung der anderen. Was, wenn Hua ihr Los nicht annehmen wollte? Nach der gescheiterten Krönung Mahuikas und der Vergiftung der Hohepriesterin während des Frühjahrsgebets brauchte Ranui dringend ein Zeichen, dass Atua-Kore ihre Kinder nicht vergessen hatte. In der tausendjährigen Geschichte des Reiches war es vor Mahuika nur zweimal vorgekommen, dass eine Erwählte Atua-Kores das Opfer nicht hatte bringen wollen. Beide Male war es eine Mutter gewesen, die den eigenen Tod und die Zerstörung ihres Hauses auf sich genommen hatte, um ihr Kind zu retten. In beiden Fällen waren die Kinder zu jung gewesen, um an die Stelle ihrer Mutter zu treten. Der Hohe Rat hatte sie zu Besitzlosen erklärt und eine neue Königin bestimmt. Was aus den Kindern geworden war, verschwiegen die Geschichtsbücher. Sokai bezweifelte, dass sie lange überlebt hatten. Das Volk liebte Atua-Kore. Und wer sich den Weisungen der Göttin entzog, konnte nicht mit der Gnade ihrer Getreuen rechnen. Schon gar nicht, wenn es sich um eine Gefallene handelte.
Doch heute Nacht waren alle Sorgen überflüssig. Hua aus dem Hause Rauriki tat, wie ihr geheißen. Kaum schallte aus den Trichtern die Botschaft, erdröhnten die Trommeln, und die Stadt erzitterte unter dem donnernden Jubel des Volkes.
Tiratanga hatte eine neue Königin.
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Der Boden bebte unter dem Rhythmus der Trommeln. Kühl lag der Stein unter Sokais nackten Sohlen, kühl lag der Dolch in ihrer Hand. Mit angemessenem Abstand folgte sie ihrer Mutter auf die Verkündigungsplattform, zur Krönung der neuen Königin.
Obwohl sie vorläufig gescheitert war, entwickelten sich die Dinge besser als erwartet. Der Hohe Rat hatte Hua aus dem Hause Turepo zur Königin bestimmt – ein Entschluss, den Sokai maßgeblich gesteuert hatte. Hua war jung und leicht zu beeinflussen, vor allem aber war sie weniger launenhaft als Torokaha.
Angespannt beobachtete Sokai ihre Mutter, wie sie an den Rand der Plattform trat und die Arme hob. »Königin Haika ist tot. Hundert Tage hat Tiratanga ihren Tod betrauert.«
Natürlich war inzwischen viel mehr Zeit vergangen, aber was kümmerte den Tempel schon die Wirklichkeit. Die Worte waren vorgeschrieben. Jede Blähung schrieb Atua-Kore ihren Dienerinnen vor, dachte Sokai höhnisch. Dabei achtete sie peinlich auf eine regungslose Miene – Akolythinnen umringten sie. Es würde schnell die Runde machen, wenn sie im Angesicht eines Großen Rituals den angemessenen Ernst vermissen ließe. Darüber hinaus war es in Sokais eigenem Interesse, dass das Ritual nicht gestört wurde. Prinzessin Mahuika war ihr Leben lang darauf vorbereitet worden, ihre Schwester zu opfern, und war gescheitert. Für Hua lag es nur zehn Tage zurück, dass sie von ihrem Schicksal ereilt worden war. Und zu ihrem Unglück hatte sie erst im vergangenen Mond eine Tochter geboren.
»Heute Nacht werden wir eine neue Königin küren, und Atua-Kores Segen wird über ihr sein«, verkündete die Hohepriesterin, und einen Augenblick später wiederholten die Trichter auf den Nebenplattformen es dröhnend. »Kona, Tochter der Hua, tritt vor.«
Aus dem Portal trat eine Priesterin, das Neugeborene im Arm. Sokai strich ihre Robe glatt und folgte. Wenn das Opfer zu jung oder zu gebrechlich war, um den goldenen Dolch selbst zu tragen, oblag es der Sprecherin des Hohen Rates, ihn der Hohepriesterin zu überbringen.
»Bist du bereit, Tiratanga zu dienen?«
»Ja«, entgegnete Sokai in Vertretung des Neugeborenen. »Weil es meine Pflicht ist.«
»Gib mir den Dolch.«
Sokai reichte ihn ihrer Mutter. Diese stand aufrecht, ergriff den Dolch mit vornehmer Geste. Es war unglaublich, wie rasch sie das Gift verkraftet hatte. Jemand, der sie weniger gut kannte, hätte sie für so rüstig gehalten wie eh und je. Aber Sokai konnte nicht entgehen, dass Amokapuas Blick an Schärfe verloren hatte, dass die Fältchen um ihre Mundwinkel tiefer geworden waren. Allein, ob es an den Nachwirkungen des Giftes lag oder an der Bürde ihres Amtes, war nicht zu bestimmen.
»Hua, Tochter der Rauriki, tritt vor.«
Zwei Akolythinnen führten die Bezeichnete herbei. Als Hua in den Armen der Priesterin ihre greinende Tochter sah, schluchzte sie auf. Wäre wohl gestolpert, hätten die Akolythinnen sie nicht gestützt. Während Sokai sich von der Plattform zurückzog, warf sie der zukünftigen Königin einen Blick zu. Ein Gesicht formgewordener Verzweiflung. Es war schon merkwürdig: Wie schwer konnten manche Menschen sich von dem losreißen, was sie davon abhielt, über sich hinauszureichen. Die Kleine musste nur die heutige Nacht überstehen, und sie würde die mächtigste Frau der bekannten Welt sein. Ohne ihre Verachtung zu zeigen, stellte sich Sokai an ihren Platz zwischen den anderen Vertreterinnen des Hohen Rates. Sie spürte die Anspannung der anderen. Was, wenn Hua ihr Los nicht annehmen wollte? Nach der gescheiterten Krönung Mahuikas und der Vergiftung der Hohepriesterin während des Frühjahrsgebets brauchte Ranui dringend ein Zeichen, dass Atua-Kore ihre Kinder nicht vergessen hatte. In der tausendjährigen Geschichte des Reiches war es vor Mahuika nur zweimal vorgekommen, dass eine Erwählte Atua-Kores das Opfer nicht hatte bringen wollen. Beide Male war es eine Mutter gewesen, die den eigenen Tod und die Zerstörung ihres Hauses auf sich genommen hatte, um ihr Kind zu retten. In beiden Fällen waren die Kinder zu jung gewesen, um an die Stelle ihrer Mutter zu treten. Der Hohe Rat hatte sie zu Besitzlosen erklärt und eine neue Königin bestimmt. Was aus den Kindern geworden war, verschwiegen die Geschichtsbücher. Sokai bezweifelte, dass sie lange überlebt hatten. Das Volk liebte Atua-Kore. Und wer sich den Weisungen der Göttin entzog, konnte nicht mit der Gnade ihrer Getreuen rechnen. Schon gar nicht, wenn es sich um eine Gefallene handelte.
Doch heute Nacht waren alle Sorgen überflüssig. Hua aus dem Hause Rauriki tat, wie ihr geheißen. Kaum schallte aus den Trichtern die Botschaft, erdröhnten die Trommeln, und die Stadt erzitterte unter dem donnernden Jubel des Volkes.
Tiratanga hatte eine neue Königin.