8. Kapitel

Kidogo schwebte. Alles war warm und weich und leicht. Er hatte die Ruhe gefunden, von der sein Meister all die Jahre zu predigen nicht müde geworden war. Ein Grinsen schlich sich ihm auf die Lippen. Wenn der Alte ihn jetzt sehen könnte, was würde er für Augen machen.

»Wach auf.«

Der Befehl des Meisters schlug ihm kalt in den Nacken. Kidogo schreckte hoch, Wasser drang ihm in Mund und Nase, ein Hustanfall packte ihn und ließ ihn minutenlang nicht los.

»Ich muss mich um deinen Arm kümmern.«

Die Worte brachten Kidogo in seinen Körper zurück. Er hätte darauf verzichten können. Alles schmerzte. Er riss die Augen auf, sah sich um. Über ihm kniete der Meister, während er selbst nackt in einem Wasserbecken lag. Sie waren von verschneiten Berghängen umgeben, dennoch war das Wasser warm, fast unangenehm heiß. Kidogos Erinnerung kehrte zurück – die Quellen, von denen der Meister gesprochen hatte.

»Wo ist Aki?«

Der Meister wies mit dem Kinn zu einem zweiten Becken, ein paar Schritt entfernt. Eine Frau hockte daran, eine Schale in der Hand, den Blick aufmerksam auf Kidogo gerichtet. Er erkannte die zerlumpte Wollkleidung.

»Aki?«, rief er erleichtert. »Geht es dir gut?«

»Langsam«, sagte der Meister. »Zeig mir deinen Arm.«

Kidogo gehorchte, ohne den Blick von dem zweiten Becken zu nehmen. War das dieselbe Frau, die ihn aus der Schlucht gerettet hatte? Die Mähne war verschwunden, die zuvor aus ihrem Kopf gewachsen war wie Grasbüschel aus einer Erdscholle; stattdessen hatte sie ihr Haar zu einem Zopf geflochten. Auch ihr Gesicht sah anders aus. Kidogo brauchte einen Moment, bis er verstand: Die fingerdicke Dreckschicht fehlte. Mit der Hand schabte sie aus ihrer Schale einen Brei, der nur Nussmus sein konnte.

»Atme ein«, sagte der Meister und griff nach Ellenbogen und Handgelenk des gebrochenen Arms. Unterhalb des Ellenbogens hatte sich eine unappetitliche Beule gebildet. »Atme aus.« Und mit einer schnellen Bewegung zog er den Unterarm auseinander. Kidogo verglühte vor Schmerz. Er hörte sich noch schreien, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Nicht lange allerdings, denn der Schmerz blieb, riss ihn zurück ins Bewusstsein. Der Meister hatte noch nicht genug. Nachdem er eine Salbe auf die Bruchstelle geschmiert hatte, schiente er sie mit drei Tannenzweigen; zog die Binde, mit der er die Schiene umwickelte, gnadenlos fest.

»Du schnürst mir das Blut ab, Meister«, stöhnte Kidogo.

»Das kommt dir nur so vor. Du hättest den Bruch sofort richten sollen. Der andere.« Ehe Kidogo sich wehren konnte, hatte der Meister schon den anderen Arm aus dem Wasser gezogen; schmierte Salbe auf das geschwollene Handgelenk und verband es. »Nun erfährst du mal am eigenen Leib, was wir den Menschen antun.«

Kidogo atmete immer noch schwer, aber langsam wirkte die Salbe. »Danke«, murmelte er, ohne seinen Meister anzusehen.

Die ganze Zeit über hatte die Frau das Geschehen beobachtet, allerdings kein Wort gesagt. Jetzt öffnete sie den Mund. »Ihr seid Schamanen.«

»Ja.« Kidogo wollte sich aus dem Becken wälzen, besann sich jedoch rechtzeitig seiner Nacktheit. »Und du?«

»Niemand.«

»Wo kommst du her?«

»Aus dem Westen«

»Kaum.« Der Meister, der seinen Kräuterbeutel sortiert hatte, sah auf, brachte sich zum ersten Mal in das Gespräch ein. »Du stammst aus Ranui.«

Die Fremde stutzte kurz, dann schüttelte sie bestimmt den Kopf. »Ihr täuscht Euch.«

»Dein Ranuk verrät dich.«

»Ich war nie in Ranui.« Trotzig verschränkte sie die Arme.

Kidogo lächelte ihr aufmunternd zu. »Du kannst uns vertrauen.«

Sie sah ihn an, ohne sein Lächeln zu erwidern. Ihre Züge hatten etwas Furchtsames angenommen. Als er in der Kluft von ihr gefunden worden war, hatte sie gewirkt, als könne ihr nichts auf der Welt etwas anhaben. Gerade jedoch sah sie so verletzlich aus wie ein Kind. »Nein«, sagte sie leise und senkte den Blick.

»Du hast mir das Leben gerettet«, beharrte Kidogo.

Sie sah nicht auf.

»Behalte deine Geheimnisse«, erklärte der Meister schlicht.

»Bist du sicher?«, fragte ihn Kidogo überrascht. »Wenn wir zusammen reisen wollen, sollten wir doch ...«
»Wir werden nicht zusammen reisen.«

»Du willst sie sich selbst überlassen?« Kidogo war entsetzt. »Alleine wird sie nicht überleben.«

»Wir sind Mandrêbanim. Wir halten uns aus allen Händeln heraus.«

»Was für Händel denn?« Es war verhext, der Meister hatte ihn eben erst verbunden, und doch stieg der alte Groll wieder in ihm auf. »Nur weil sie einem Fremden nicht gleich ihre Geschichte schildern will?«

»Was bringt eine Satrapa so weit in den Norden, wenn nicht vergossenes Blut?«

Eine Satrapa? Entgeistert starrte Kidogo seinen Meister an, dann Aki, dann wieder seinen Meister.

»Die Fingernägel«, sagte dieser ruhig. »Ein paar Wochen Anstrengung tilgen nicht ein Leben des Müßigangs.«

»Aber das beweist doch nicht, dass sie Mitglied eines Hohen Hauses ist!«, rief er aufgebracht – gleichzeitig bemerkte er, wie Aki die Hände tiefer in ihren Achseln vergrub. Obwohl er noch immer im warmen Wasser lag, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Eine Satrapa Ranuis? Sollte es sich bei der misstrauischen, verlumpten Gestalt, die da vor ihm hockte, um eine der mächtigsten Frauen der Welt handeln?

»Dass sie uns ihre Geschichte nicht erzählen will, verrät genug.«

»Dann mach dich darauf gefasst«, rief Kidogo wütend, »dass du dir bald doch noch einen neuen Schüler suchen musst.«

Der Meister hatte inzwischen seine Wundmesser aus dem Ranzen geholt, begann sie zu waschen. »Du entscheidest, welchen Weg du gehen willst.«

Die Ruhe, mit der er es sagte, war kaum zu ertragen. Kidogos Muskeln spannten sich vor Zorn – und sofort bereute er es, denn der Schmerz in seinem Arm meldete sich eindrucksvoll zurück.

»Ihr vergesst etwas«, sagte plötzlich Aki. Und als Kidogo sich nach ihr umdrehte, funkelte in ihren Augen ein Hauch von dem Scherz, mit dem sie ihn in der Spalte begrüßt hatte. »Mich. Fragt Ihr Euch gar nicht, ob ich überhaupt mit Euch reisen will?«

»Etwa nicht?« Kidogo war sprachlos. Glaubte sie wirklich, sie käme alleine zurecht?

»Ich bin dir dankbar.« Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, zu kurz, um zu sagen, ob es spöttisch oder traurig war. »Aber ich teile die Meinung deines Meisters, Kidogo. Es ist besser, wenn wir getrennte Wege gehen.«

Einen Augenblick lang starrte er sie an. Schließlich murmelte er: »Für dich oder für uns?«

»Welchen Unterschied macht das?« Und nun war der Spott in ihrer Stimme nicht mehr zu verkennen.

»Warte zumindest bis morgen früh.«

»Es wird eine klare Nacht. Ich wandere gern des Nachts.« Sie bückte sich nach ihrem Bündel, wandte sich dem Meister zu. »Ist es wahr, dass Schamanen kein Geld nehmen?«

»So ist es.«

»Dann habe ich nichts von Wert als dieses Seil.«

Der Meister schüttelte den Kopf, reichte ihr seinerseits einen Beutel Nüsse. »Bitte. Folge dem Fluss. Wenn du Beeren findest, iss nur die blauen, und nie mehr als eine Handvoll auf einmal.«

»Danke.« Sie trat an Kidogos Becken heran, sah zu ihm herunter. »Es heißt, ihr Schamanen seid durch nichts aus der Ruhe zu bringen ...«

»Ja ... wieso?«

Wieder das spöttische Lächeln. »Nur so.«

 Sie ging. In der Schwere ihrer Schritte zeigte sich, dass sie beileibe nicht bei vollen Kräften war. Trotzdem wurde sie nicht langsamer, folgte dem Fluss, wie der Meister es geraten hatte. Kidogo sah ihr noch hinterher, als sich ihre Fußspuren bereits zwischen den schneebedeckten Felsen verloren.

 

Sie selbst brachen am nächsten Morgen auf, folgten wie Aki dem Fluss. Abgesehen von seinem gebrochenen Arm fühlte Kidogo sich leidlich erholt. Noch immer wurden seine Gedanken von der Fremden beherrscht, die sein Leben gerettet hatte. Ihre Spuren zeichneten sich vor ihnen im Schnee ab, kurze, beharrliche Schritte.

Während sie ins Tal hinabstiegen, versuchte er wiederholt, den Meister nach den Hohen Häusern Ranuis zu fragen – ihrer Anzahl, ihrer Struktur, ihrer Bedeutung. Doch der Meister zeigte sich so kurz angebunden, dass Kidogo bald aufgab. Er ahnte, was den Meister verdross – ein Mandrêb befasste sich nicht mit Politik.

Gegen Mittag kamen sie an eine flache Stelle, die von Felsen gesprenkelt war. Hier verlor sich die Spur, Aki musste auf die andere Seite des Flusses gewechselt sein. Unwillkürlich blieb Kidogo stehen.

Als er hinter sich das Räuspern des Meisters hörte, machte er sich auf eine strenge Zurechtweisung gefasst, doch der Alte sagte nur: »Du wählst deinen Weg selbst.«

Was es war, was ihn an Aki so anzog – er selbst hätte es nicht zu sagen vermocht. »Sie hat behauptet«, murmelte er, »sie will alleine reisen.«

»Ja.«

Er seufzte. Weder hatte er einen Grund, der Fremden nachzustellen, noch ein Recht. Wenn er nicht alleine wandern wollte, konnte er sich nur an seinen Meister halten. Und das Leben war zu groß, um es allein zu bestehen.

Die Tannen mehrten sich, und inzwischen wuchsen auch Sträucher aus dem Weiß. Am Nachmittag erreichten sie die Schneegrenze; und die Sonne war noch nicht hinter den Berggipfeln versunken, da gelangten sie ins Tal. Kidogo atmete auf. Trotz der Salbe des Meisters pochte sein Arm. Und auch sein Handgelenk schmerzte, immer wieder hatte er sich darauf abstützen müssen, weil das Gelände zu schwierig geworden war.

An einem Felsüberhang gebot der Meister Rast. Still aßen sie ihre letzten Nüsse und Wurzeln, ein erbärmliches und doch hoffnungsvolles Mahl. Sie hatten sich ein Feuer angezündet. Sie hatten Wasser. Der Boden war nicht mehr gefroren, die ersten Blumen trieben Knospen, Bäume schlugen aus. Morgen würden sie Beeren finden.

In ihr Schweigen hinein hallte Hufgetrappel. Während der Meister sich weiter dem Brei in seiner Schale widmete, sprang Kidogo auf. Gab es ein Dorf in der Nähe?

Aufgeregt trat er unter dem Felsen hervor und sah – kein Dorf, sondern einen Trupp ranaischer Soldaten. Die silbernen Brustpanzer bezeugten es genauso wie das Banner, das über ihren Köpfen wehte. Verblüfft blieb Kidogo stehen.

»Wilde!«, rief der vorderste, und sogleich zog der ganze Trupp seine Schwerter, hob die Schilde. Zwei begannen, ihre Kettenschleudern kreisen zu lassen.

Rasch hob Kidogo die Hände. »Wir sind Mandrêbanim, und wir bieten unsere ....«

»Ihr seid zu zweit?«, unterbrach ihn der Truppführer mit Blick auf den Meister, der sich nun ebenfalls erhoben hatte. Die anderen senkten ihre Waffen wieder. »Woher kommt ihr?« Er stellte die Frage, als verhöre er einen Gefangenen.

Kidogo zeigte hinter sich, den Flusslauf hinauf.

Der Truppführer öffnete eine Röhre, zog ein Papier heraus, rollte es auseinander. »Wir suchen eine Gefallene.«

»Eine Gefallene?« Obwohl Kidogo mit dem Begriff nichts anfangen konnte, stieg eine finstere Ahnung in ihm auf.

»Eine Satrapa, die ihr Haus in Schande gestürzt hat.« Der Soldat schnaubte ungeduldig. »Habt ihr sie gesehen?« Er drehte das Papier, und tatsächlich – die Skizze darauf zeigte Aki. Mit glatterem Haar und volleren Wangen, aber dennoch: Aki.

»Was wollt Ihr von ihr?«

Der Soldat öffnete den Kinnriemen seines Helms, zog ihn vom Kopf und warf ihn einem Kameraden zu. Mit einem bösen Grinsen trat er an Kidogo heran. »Das heißt, du hast sie gesehen?«

»Nein ... nein ...«, stammelte Kidogo, während ihm heiß der Schrecken in die Glieder kroch. Welch einen furchtbaren Fehler hatte er gerade begangen.

»Bist du dir sicher?« Der Ranu machte noch einen Schritt auf ihn zu. Keine Elle hätte mehr zwischen sie gepasst. »Weißt du, was es bedeutet, einen ranaischen Soldaten anzulügen?«

»Wirklich, ich habe keine Ahnung, wen Ihr sucht...«

»Wer einen Diener Atua-Kores belügt, der schmäht Atua-Kore selbst.«

»Ihr müsst mir glauben ...«

»Es gibt kein schlimmeres Vergehen.« Der Soldat griff nach dem Arm, den Kidogo in der Schlinge trug. Drückte ihn.

Vor Kidogos Augen tanzten Lichter. »Ja ... gut ... ich habe sie gesehen«, brachte er hervor. »Eine Frau zumindest, die ähnlich aussieht wie die auf dem Bild ... an der Seilbrücke ... sie wollte nach Westen.«

Der Truppführer neigte den Kopf zur Seite. »Es heißt, Schamanen lügen nicht.«

»Genau«, krächzte Kidogo, »nie ... niemals.«

»Das erklärt, warum du so schlecht darin bist.« Wieder drückte er den gebrochenen Arm, fester als zuvor. Wie ein hungriger Dämon verschlang der Schmerz Kidogos Arm.

»Das reicht.« In seinem verschwommenen Sichtfeld zeigte sich die Kontur des Meisters. »Lasst ihn los.«

»Was sagst du, alter Mann?« Doch tatsächlich löste der Soldat seinen Griff, wandte sich dem Meister zu. Entdeckte das Zeichen auf dessen Stirn. »Du stammst aus Orofar? Mein Großvater hat dort gekämpft.« So nah wie zuvor an Kidogo trat er an den Meister heran. »Ich habe gehört, die Orofari hätten sich gewehrt bis zum Tod. Und wir sind ihrem Wunsch nachgekommen.« Er spie dem Meister ins Gesicht. »Offenbar waren wir nicht gründlich genug.«

Der Meister wischte sich den Speichel von der Wange, als bedeute es nichts. »Wir haben die Frau getroffen, die ihr sucht.« Seine Stimme war ruhig. »Geht flussaufwärts. Nach zehn Meilen etwa kommt ihr an eine Untiefe. Dort hat sie den Fluss überquert. Wenn es nicht schneit, werdet Ihr ihre Spuren finden.«

»Nein«, rief Kidogo angsterfüllt. »Das war bloß ein Wildwechsel. Sie ist nach Westen.«

Der Soldat schlug ihm die Faust in den Bauch, dass es ihm alle Luft aus den Lungen trieb. Wie ein schief aufgestellter Weizensack kippte er zu Boden.

»Er ist dein Schüler?«, fragte der Soldat leichthin.

Kidogo krümmte sich im Dreck, hörte die Antwort des Meisters nicht.

»Hast du ihm keinen Respekt vor Ranui beigebracht? Vor den Erwählten Atua-Kores?«

Nun sprach der Meister. »Mandrêbanim achten alle Götter gleich. Doch wir dienen ihnen nicht. Wir dienen den Menschen.«

»Sieh an.« In den lockeren, beinahe heiteren Ton des Soldaten mischte sich eine bedrohliche Note. Trotz seiner Pein sah Kidogo auf. »Das ist also der berühmte Stolz der Orofari. Der Stolz, der ein ganzes Volk vernichtet hat.« Mit einer schnellen Bewegung zog der Truppführer einen Dolch von seinem Gürtel und rammte ihn dem Meister in die Brust.

Die Augen des Meisters wurden weit, sein Mund öffnete sich, doch kein Laut drang heraus, unwirklich langsam sank er auf die Knie, blutglänzend glitt der Dolch aus seiner Brust, seine Arme suchten einen Halt, den es nicht gab, sein Blick suchte Kidogos. Kidogo wollte etwas sagen, doch die Stimme gehorchte ihm nicht, eine tödliche Kälte breitete sich in ihm aus, eine Kälte, wie der Meister sie spüren musste.

»Wir marschieren flussaufwärts«, verkündete dessen Mörder und rollte das Papier mit Akis Bild zusammen. Sogleich setzte der Trupp sich in Bewegung.

Kidogo kroch zu seinem Meister. Mit zitternden Händen versuchte er, die Blutung zu stillen, und wusste doch, dass es nichts helfen würde.