4. Kapitel

Auf den Ästen der Tannen lag schwer der weiße Tod, drückte sie dem Boden entgegen. Seit Tagen fiel der Schnee so dicht, als leerte der Himmel seine gesamten Vorräte aus. Immer tiefer ins Nebelgebirge waren sie vorgedrungen, die letzte Siedlung lag viele Meilen zurück. Mehrmals hatte Kidogo den Meister zur Rede gestellt, was sie an diesem verlassenen Flecken Erde wollten. Jener jedoch hatte bloß den alten Spruch bemüht, ein Mandrêb habe kein anderes Ziel als die Wanderschaft.

»Woher kommt der Name – Berge des Zorns?«

»Sie sind nicht gnädig gegenüber denen, die ihre Ruhe stören.«

»Großartig.« Obwohl sie Schneeschuhe geflochten hatten, sank Kidogo bis zu den Knöcheln ein. »Und was meinte Tuark damit, dass der Riese erwacht ist?«

»Aberglaube.«

Sie hatten einen Schlitten gebaut, der Riemen drückte Kidogo in die Schulter. Erschöpft machte er Halt, ließ sich auf die Sitzfläche des Schlittens fallen. Vor ihm stapfte der Meister ungerührt durch den Sturm. Entweder er hatte Kidogos Rast nicht bemerkt, oder sie war ihm gleichgültig.

»Meister!«, brüllte Kidogo in den Wind, vergebens. Er nahm eine Handvoll Schnee, presste sie zu einem Ball und warf sie dem Meister hinterher. Die Tannen schüttelten sich überrascht. Der Meister, am Rücken getroffen, wandte sich um.

Erschrocken hob Kidogo die Hände, was für ein Missgeschick, nie hätte er absichtlich auf den Meister gezielt. Der Getroffene kam zurück.

»Verzeih, bitte«, rief Kidogo hastig, doch als der Meister vor ihm stand, wandelte seine Scham sich in Wut. »Was wollen wir hier? Wir haben keine Vorräte mehr, unsere Felle sind verklebt, die Sohlen unserer Stiefel lösen sich. Wir werden die Nacht nicht überleben.« Er verstummte, wartete auf die Entgegnung des Meisters.

Doch der schwieg. Wie glimmende Späne in einem niedergebrannten Feuer funkelten seine Augen aus dem Schal hervor, den er sich um den Kopf gewickelt hatte.

Kidogo hatte seinen Meister offen in Frage gestellt, was hatte er noch zu verlieren. »Nenn mir dein Ziel, oder ich folge dir keinen Schritt weiter.« Unter ihm knirschten die Kufen des Schlittens, während sie tiefer in den Schnee sanken. Die Demut der Mandrêbanim war sprichwörtlich. Doch Kidogo würde nicht sterben, ohne zu wissen, wofür. »Rede.«

Verborgen hinter den Schals, blieben die Gedanken des Meisters dessen Geheimnis. »Gut«, sagte er nur. »Wir kehren um.«

 

Am nächsten Vormittag gelangten sie ins Tal. Es war ein anderes als das, durch welches sie hergereist waren, war östlicher gelegen. Der Meister schien das Meer erreichen zu wollen. Der Sturm hatte nicht nachgelassen, woher nahm der Alte nur seine Kraft?

Gegen Abend stießen sie auf eine Spalte, die so tief war, dass man tatsächlich auf den Gedanken kommen konnte, ein Riese habe sie geschlagen. An ihren schmalsten Stellen war sie noch immer ein Dutzend Schritt breit. Von ihren Vorsprüngen hingen zahllose, baumlange Eiszapfen in die Tiefe.

 Für mehrere Meilen wanderten sie am Rande des Abgrunds entlang, dann wies der Meister in die Ferne. Kidogo folgte der Bewegung, erkannte eine Brücke. Endlich, Menschen. Unwillkürlich ging er schneller. Ein Herd, ein Dach, etwas zu essen.

Die Brücke bestand aus vier über die Spalte gespannten Seilen. Die unteren beiden waren mit Brettern verbunden, die oberen dienten als Geländer. Allein beim Anblick wurde Kidogo der Magen weich. Auf der anderen Seite erhob sich ein steinerner Wachturm mit einem Torraum, in welchen die Brücke mündete.

Der Meister hatte bereits die ersten Bretter betreten, in den Seilen knackte es beängstigend. Notgedrungen band Kidogo sich die leicht gewordenen Vorratstaschen vor die Brust, den Schlitten auf den Rücken und tappte hinterher. Alles war rutschig vom Schnee, alles schwankte. Starr blickte er nach vorn.

»Halt.«

Der Meister hatte gerade die Mitte des tödlichen Weges erreicht.

»Im Namen Atua-Kores, nennt Euer Ziel.« Kein Sprecher war zu erkennen, der Stimme nach musste er sich hinter einer der oberen Schießscharten verborgen halten.

»Wir sind Mandrêbanim«, erklärte der Meister auf Naaluk, »und bieten unsere Hilfe an.«

»Ha«, lachte der Mann auf Ranuk. »Quacksalber, hier? Was treibt Ihr in den Bergen?«

»Wenige Orte sind zu schlecht, um einem Menschen Unterschlupf zu bieten«, zitierte der Meister einen seiner Lehrsprüche.

»Was auch immer. Jedenfalls seht ihr nicht wie Naalu aus.« Obwohl er das Wort abschätzig ausgespien hatte, verriet sein Akzent, dass er selbst aus den Bergen stammte. »Ihr dürft passieren. Zwei Kupfermünzen pro Person und eine für den Schlitten.«

Kidogo traute seinen Ohren nicht, und sogar der Meister schien überrascht. »Wir sind Mandrêbanim. Wir nutzen kein Geld.«

»Rückständige Scharlatane«, tönte eine andere Stimme im Turm, ebenfalls mit starkem naalaischen Akzent.

»Na gut«, ergriff die erste Stimme wieder das Wort. »Was habt Ihr sonst, was Ihr uns geben könnt?«

»Wir handeln nicht«, beharrte der Meister.

»Wisst Ihr was«, verkündete der Mann spöttisch, »gebt uns Euren Schlitten, das soll reichen.«

»Wir sind Mandrêbanim, und wir ...«

»Das ist mir ganz egal, wer Ihr seid.« In den Spott mischte sich Zorn. »Wir erfüllen unsere Pflicht gegenüber Königin Haika, der Erwählten der Goldenen Göttin. Entweder Ihr zahlt, oder Ihr schert Euch davon.«

Nun wurde Kidogo selbst vom Zorn gepackt. »Glaubt Ihr ...«

»Schweig«, zischte der Meister über die Schulter. Und in Richtung des Turmes: »So sei es. Verzeiht, dass wir Euch behelligt haben. Mögen Eure Kinder zahlreich sein und Eure Nächte warm.« Auf der wackeligen Brücke drehte er sich zu Kidogo um und wies ihn an, es ihm gleich zu tun. Mit mahlenden Kiefern gehorchte dieser dem Meister. In seiner Wut vergaß er sogar den schwindelerregenden Abgrund unter seinen Füßen.

 

In der ausgehöhlten Böschung eines Bachs fanden sie einen Unterschlupf für die Nacht. Während das Schnarchen des Meisters keine Minute auf sich warten ließ, lag Kidogo wach, starrte düster in den aufgeklarten Sternenhimmel. Es war ein gutes Gefühl, jemandem helfen zu können; auch das Wandern hatte ihm wenig ausgemacht. Sogar die strenge, wortkarge Art seines Meisters hatte er ertragen können. Doch die Demütigungen waren zu viel. Er hatte sich damit abgefunden, ein Heiler zu sein. Aber was blieb von den Traditionen der Mandrêbanim, wenn es niemanden mehr gab, der sie zu würdigen gewillt war? Schwach vor Kälte und Hunger, kauernd am Rande der Welt, wurde Kidogo bewusst, wie klein der Schritt vom geachteten Heiler zum verlumpten Landstreicher war.

Bevor der Morgen graute, regte sich der Meister. Ohne sich aufzuhalten, nahm er den Mörser vom Schlitten und begann, Nüsse zu mahlen. Vorbereitungen für einen Brei, den Kidogo schon die letzten Tage kaum noch hinuntergebracht hatte. Die kleinen, süßen Früchte, die Tuark ihnen mitgegeben hatte, waren schon lange aufgezehrt.

»Warum lassen wir uns das gefallen?«

Der Meister zeigte sich wenig überrascht von der unvermittelten Frage, schien sie sogleich auf das Erlebte am Zollturm zu beziehen. »Wir heilen Körper«, antwortete er, während er sich ans Ufer hockte und das Nussmus mit Wasser vermengte. »Aber unsere eigentliche Aufgabe ist es, der Seele Frieden zu geben.«

»Heißt das, wir müssen uns verspotten lassen?«

»Wir müssen lernen, die menschlichen Unzulänglichkeiten zu ertragen. Die Fehler anderer genau so wie unsere eigenen. Wie sollen wir eine fremde Seele beruhigen, wenn unsere eigene in Aufruhr ist?«

»Ich pfeife auf die Ruhe meiner Seele, wenn die Verbohrtheit meiner Mitmenschen mich verhungern lässt.«

Der Meister verzichtete auf die Mühe einer weiteren Entgegnung, hielt Kidogo stumm die Schale mit dem kärglichen Frühstück entgegen.

Kidogo schlug sie zur Seite, heftiger als beabsichtigt. Die Schale flog aus der Hand des Meisters, klatschte im Wasser auf, wurde vom Strom davongetragen.

Bebend sprang Kidogo auf. »Ich habe keine Lust mehr. Auf diesen Fraß. Auf deine ewigen Belehrungen. Auf Dörfer, die uns als Halunken empfangen.«

Aus stillen Augen sah der Meister zu ihm hoch.

»Und am schlimmsten von allen: Atua-Kore, diese pissgelbe Göttin, und ihr pissgelbes Reich.« Die verschneiten Tannen, denen er seine Wut entgegenschrie, beäugten ihn stumm.

Erst, als das Echo des Schreis verklungen war, ergriff der Meister bedächtig das Wort. »Ich kann dir nur meinen eigenen Weg zeigen, Kidogo. Ob du ihn gehen willst, entscheidest du selbst.«

»Ich habe eine Wahl?« Ungläubig lachte er auf. »Mein ganzes Leben hast du jeden meiner Schritte überwacht, und jetzt sagst du mir, ich habe eine Wahl?«

Der Meister schwieg.

»Gut«, rief Kidogo, »ich wähle.« Eine betäubende Leichtigkeit ergriff ihn. »Ich wähle meinen eigenen Weg.« Fiebrig packte er seinen Ranzen, setzte ihn auf.

»Warte.«

Ein heiseres Lachen brach ihm aus der Kehle. »Also willst du mir doch befehlen?«

»Kein Befehl, eine Bitte. Ich verstehe deinen Zorn. Lass mich dir helfen. Hinter dem nächsten Bergsattel sollten sich heiße Quellen finden. Da können wir unsere Kräfte sammeln. Wenn wir dem Fluss folgen, der dort entspringt, gelangen wir innerhalb einer Tagesreise aus dem Gebirge und innerhalb einer Woche ans Meer. Ich versichere dir, sobald wir wieder Gras unter unseren Sohlen haben, wird deine Laune sich bessern.«

Kidogo schnaubte abfällig. Hatte der Alte wirklich gar nichts verstanden? »Es geht nicht um das bisschen Schnee. Es geht um mein Leben. Ich weiß nicht, wer ich bin, und an deiner Seite werde ich es nicht herausfinden.« Er zog die Gurte seines Ranzens fest.

»Ich werde dir sagen, woher du stammst.«

Kidogo sah auf.

»Sobald wir das Gebirge verlassen haben.«

Nein. Kidogo hatte genug von den halbgaren Versprechen, mit denen er sein Leben lang hingehalten worden war. Ohne dem Alten noch einen Blick zuzugestehen, stapfte er davon.