Teil 1 – Der Fund (1. Kapitel)
Der Preis für das Leben war der Tod.
So hatte Atua-Kore in ihrer Weisheit es beschlossen.
Ruhig breitete die Hohepriesterin Amokapua die Arme aus. Reglos stand sie da, während die Akolythinnen die schweren, goldenen Ringe über ihre Handgelenke streiften. Der Zeremonienmantel lag bleiern auf ihren Schultern, seine heiligen Zeichen spendeten keine Kraft. Es war das sechste Große Ritual, das Amokapua leiten würde, und wenn Atua-Kore es erlaubte, das letzte.
In den Feuerrinnen, die ringsum die Tempelwände entlangliefen, brannte das Öl zorniger als sonst. Draußen ertönten bereits die Trommeln. Sie verkündeten eine neue Zeit – und selbst die gewaltigen Felsblöcke, aus denen der Tempel errichtet war, konnten ihr Wummern nicht aufhalten.
Zügig, doch ohne Hast, eilte Sokai heran. Auf den marmornen Platten verursachten ihre nackten Füße keinen Laut. Sie kniete sich vor die Hohepriesterin, drückte die Stirn auf den Boden. »Alles ist vorbereitet.«
»Gut.«
Sokai erhob sich. Eine Akolythin reichte ihr den goldenen Reif, den Atua-Kore selbst geschmiedet hatte. Als die Welt noch jung gewesen war, war die Göttin in den glühenden Kern der Erde hinabgestiegen, und mit dem Reif war sie zurückgekehrt. Sie überließ ihn den Menschen als Versprechen – solange Sonne und Mond den Himmel durchwanderten, würde Atua-Kore ihren Kindern Halt sein und Ansporn.
Die Hohepriesterin neigte das Haupt, und die Akolythinnen begannen zu singen. Während der Gesang in die Höhe stieg, bettete Sokai den Reif auf Amokapuas schneeweißes Haar.
Es war Zeit.
Gefolgt von Sokai und den Akolythinnen, verließ Amokapua das Allerheiligste. Mit jedem Schritt dröhnten die Trommeln lauter. Als der Zug das äußere Portal erreichte, erzitterte unter Amokapuas dünnen Sohlen sogar der Boden im Rhythmus der Schläge. Auf einen Wink Sokais stemmten sich die acht Portaldiener gegen die gewaltigen Torflügel, drückten sie auf.
Ganz Ranui ließ sich von der Plattform dahinter überblicken. Zehn mit Öl gefüllte Schalen säumten die Plattform der Verkündigung, eine Brüstung gab es nicht. Rechts und links jedoch befanden sich noch zwei kleinere Plattformen, die nur dazu dienten, je einen mächtigen, nach unten geneigten Trichter zu tragen. Unter ihnen wogte, so weit das Auge reichte, ein Menschenmeer. Das Reich Tiratanga erstreckte sich von Ozean zu Ozean. Zur Krönung der neuen Königin waren Hunderttausende in die Hauptstadt gekommen.
Am Fuße des Tempels wirbelten die Trommler. Sie trugen nichts als einen Lendenschurz, die Köpfe hatte man ihnen kahl geschoren. Ihre schweißnassen Körper glänzten im Fackelschein.
Als Amokapua die Verkündigungsplattform betrat, wurde das Öl in den Schalen entzündet, taghell flammte es auf. Im selben Augenblick erstarben die Trommeln. Obwohl die Trommler die Plattform über sich nicht sehen konnten, brauchte es kein Zeichen – wer dazu bestimmt war, an einem Großen Ritual mitzuwirken, war sein Leben lang darauf vorbereitet worden.
Amokapua wartete die zehn vorgeschriebenen Herzschläge, dann hob sie die Arme. »Königin Haika ist tot.«
Sie wartete, während die Herolde an die Trichter traten und das Gesagte wiederholten. Wie ein Sturm donnerten die Worte über die Menge.
»Hundert Tage hat Tiratanga ihren Tod betrauert.« Amokapua selbst hatte nicht getrauert. Die Goldene Göttin Atua-Kore hatte Haika ein langes, qualvolles Sterben bestimmt. Amokapua war froh gewesen, als es vorbei war. »Es genügt.« Sie ließ ihren Blick über die Menge streifen. Während der Trauerzeit herrschten strenge Fastgebote; Haika war eine strenge Königin gewesen, mehr gefürchtet als geliebt. In den Augen, die zu Amokapua aufsahen, flackerte sicher nicht nur Ergriffenheit, sondern auch Hunger. »Heute Nacht werden wir eine neue Königin küren, und Atua-Kores Segen wird über ihr sein.«
Der Reif drückte der Hohepriesterin in die Stirn. War er immer schon so schwer gewesen? Auf ihre Worte musste sie sich nicht konzentrieren, jedes einzelne war vorgeschrieben. Bereits fünfmal hatte Amokapua sie gesprochen. Nur die Namen waren stets andere gewesen. »Torokaha, Tochter der Haika, tritt vor.«
Geleitet von zwei Akolythinnen, trat die Prinzessin aus dem Tempel heraus. Sie war bereits gewaschen worden, das lange Haar fiel ihr schwer auf die Schultern. Allen Schmuck hatte man ihr abgenommen. Abgesehen von einem Hemd, das ihr kaum bis zu den Knien reichte, war sie unbekleidet. Obwohl sie bereits zwanzig Sommer zählte, hatte sie die Züge eines Kindes. In ihren Händen hielt sie den goldenen Dolch, dessen Klinge mit dem Zeichen des göttlichen Dreiklangs versehen war. Ihr Gesicht glänzte bleich wie der runde Mond. Amokapua war voller Mitgefühl. Es war nicht leicht, was Atua-Kore von ihren Kindern verlangte.
»Bist du bereit«, fragte sie sanft, »Tiratanga zu dienen?«
»Ja«, murmelte die Prinzessin, kaum hörbar.
Doch aus den Trichtern der Herolde donnerte die Silbe hundertfach verstärkt. Die Prinzessin schrak zusammen, sah zu Boden.
Drei endlose Herzschläge lang war es so still, als habe sich der Letzte Tod über Ranui gesenkt. Die Hohepriesterin wurde eines Schweißtropfens gewahr, der die Seite ihrer Stirn herunterrann. Verstohlen räusperte sie sich.
Da endlich flüsterte Torokaha: »Weil es meine Pflicht ist.«
Auch diese Worte waren vorgeschrieben. Erleichtert atmete Amokapua auf. Sie hätte dem Mädchen gerne etwas Aufmunterndes gesagt, doch das Ritual erlaubte keine Abweichung.
»Gib mir den Dolch.«
»Nehmt ihn, Hohepriesterin.« Ihre Stimme war so leise, dass selbst Amokapua sie kaum verstand. Die Herolde ließen sich davon nicht verunsichern, sie waren mit den Formeln so vertraut wie die Trommler mit ihren Stöcken.
»Bist du bereit, zu sterben?«
»Ja.«
Wieder nur die Hälfte dessen, was zu sagen war. Wieder die qualvolle Pause, wieder wurde die Hohepriesterin sich der Schweißtropfen auf ihrer Stirn bewusst. Endlich hauchte die Prinzessin: »Damit Tiratanga leben kann.«
Vollbracht. Amokapua wurden die Beine schwach vor Erleichterung. Jedes Große Ritual war eine Herausforderung. Doch in ihrer Erinnerung erschien ihr keines der vergangenen so anstrengend wie dieses. Vielleicht war ihr Alter der Grund.
Der Tod war der Preis für das Leben. Aber wie war diejenige zu trösten, die ihn zahlen musste? Amokapua spürte die wartenden Blicke der Akolythinnen auf sich. »Mahuika, Tochter der Haika, tritt vor.«
Eine Königin Tiratangas war keine Herrscherin. Sie war die erste Dienerin ihres Landes, und die einzige, die ihr gesamtes Leben allein diesem Dienst zu widmen hatte. Eine Königin Tiratangas durfte nicht einem einzigen Menschen nahe sein – nur so war sie ihrem ganzen Volk verbunden. Nur indem sie tötete, was sie liebte, war sie frei, das größte Reich der Erde zu führen. So hatte Atua-Kore in ihrer Weisheit es bestimmt.
Es war ein harsches Gesetz, Amokapua schauderte bei dem Gedanken, sie selbst wäre in Mahuikas Lage. Aber wann immer Atua-Kores Weisungen nicht beachtet worden waren, hatten über kurz oder lang menschliche Leidenschaften die Königin von ihrer Aufgabe abgelenkt; ihre Nächsten stellten ihren Herrschaftsanspruch in Frage, gierten selbst nach dem Thron. Das vernachlässigte Reich war getaumelt – und im Kampf darum, wie es wieder aufzurichten sei, wurden Wunden geschlagen, die Ranuis Kanäle auf Jahre und Jahrzehnte hinaus rot gefärbt hatten. Mehrmals hatte allein Atua-Kores Gnade verhindert, dass es nicht gänzlich zerfallen war.
Eine Akolythin erschien im Portal, gehetzt, verängstigt. Ohne Prinzessin Mahuika. Ihr verzweifelter Blick fand die Hohepriesterin. Gerade noch unterdrückte Amokapua eine Frage – ein falsches Wort hätte das Ritual zerstört.
»Mahuika, Tochter der Haika, tritt vor«, wiederholte sie in eiserner Ruhe.
Da verlor die Akolythin den Rest ihrer Fassung. »Sie ist weg«, platzte es aus ihr heraus.
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Der Preis für das Leben war der Tod.
So hatte Atua-Kore in ihrer Weisheit es beschlossen.
Ruhig breitete die Hohepriesterin Amokapua die Arme aus. Reglos stand sie da, während die Akolythinnen die schweren, goldenen Ringe über ihre Handgelenke streiften. Der Zeremonienmantel lag bleiern auf ihren Schultern, seine heiligen Zeichen spendeten keine Kraft. Es war das sechste Große Ritual, das Amokapua leiten würde, und wenn Atua-Kore es erlaubte, das letzte.
In den Feuerrinnen, die ringsum die Tempelwände entlangliefen, brannte das Öl zorniger als sonst. Draußen ertönten bereits die Trommeln. Sie verkündeten eine neue Zeit – und selbst die gewaltigen Felsblöcke, aus denen der Tempel errichtet war, konnten ihr Wummern nicht aufhalten.
Zügig, doch ohne Hast, eilte Sokai heran. Auf den marmornen Platten verursachten ihre nackten Füße keinen Laut. Sie kniete sich vor die Hohepriesterin, drückte die Stirn auf den Boden. »Alles ist vorbereitet.«
»Gut.«
Sokai erhob sich. Eine Akolythin reichte ihr den goldenen Reif, den Atua-Kore selbst geschmiedet hatte. Als die Welt noch jung gewesen war, war die Göttin in den glühenden Kern der Erde hinabgestiegen, und mit dem Reif war sie zurückgekehrt. Sie überließ ihn den Menschen als Versprechen – solange Sonne und Mond den Himmel durchwanderten, würde Atua-Kore ihren Kindern Halt sein und Ansporn.
Die Hohepriesterin neigte das Haupt, und die Akolythinnen begannen zu singen. Während der Gesang in die Höhe stieg, bettete Sokai den Reif auf Amokapuas schneeweißes Haar.
Es war Zeit.
Gefolgt von Sokai und den Akolythinnen, verließ Amokapua das Allerheiligste. Mit jedem Schritt dröhnten die Trommeln lauter. Als der Zug das äußere Portal erreichte, erzitterte unter Amokapuas dünnen Sohlen sogar der Boden im Rhythmus der Schläge. Auf einen Wink Sokais stemmten sich die acht Portaldiener gegen die gewaltigen Torflügel, drückten sie auf.
Ganz Ranui ließ sich von der Plattform dahinter überblicken. Zehn mit Öl gefüllte Schalen säumten die Plattform der Verkündigung, eine Brüstung gab es nicht. Rechts und links jedoch befanden sich noch zwei kleinere Plattformen, die nur dazu dienten, je einen mächtigen, nach unten geneigten Trichter zu tragen. Unter ihnen wogte, so weit das Auge reichte, ein Menschenmeer. Das Reich Tiratanga erstreckte sich von Ozean zu Ozean. Zur Krönung der neuen Königin waren Hunderttausende in die Hauptstadt gekommen.
Am Fuße des Tempels wirbelten die Trommler. Sie trugen nichts als einen Lendenschurz, die Köpfe hatte man ihnen kahl geschoren. Ihre schweißnassen Körper glänzten im Fackelschein.
Als Amokapua die Verkündigungsplattform betrat, wurde das Öl in den Schalen entzündet, taghell flammte es auf. Im selben Augenblick erstarben die Trommeln. Obwohl die Trommler die Plattform über sich nicht sehen konnten, brauchte es kein Zeichen – wer dazu bestimmt war, an einem Großen Ritual mitzuwirken, war sein Leben lang darauf vorbereitet worden.
Amokapua wartete die zehn vorgeschriebenen Herzschläge, dann hob sie die Arme. »Königin Haika ist tot.«
Sie wartete, während die Herolde an die Trichter traten und das Gesagte wiederholten. Wie ein Sturm donnerten die Worte über die Menge.
»Hundert Tage hat Tiratanga ihren Tod betrauert.« Amokapua selbst hatte nicht getrauert. Die Goldene Göttin Atua-Kore hatte Haika ein langes, qualvolles Sterben bestimmt. Amokapua war froh gewesen, als es vorbei war. »Es genügt.« Sie ließ ihren Blick über die Menge streifen. Während der Trauerzeit herrschten strenge Fastgebote; Haika war eine strenge Königin gewesen, mehr gefürchtet als geliebt. In den Augen, die zu Amokapua aufsahen, flackerte sicher nicht nur Ergriffenheit, sondern auch Hunger. »Heute Nacht werden wir eine neue Königin küren, und Atua-Kores Segen wird über ihr sein.«
Der Reif drückte der Hohepriesterin in die Stirn. War er immer schon so schwer gewesen? Auf ihre Worte musste sie sich nicht konzentrieren, jedes einzelne war vorgeschrieben. Bereits fünfmal hatte Amokapua sie gesprochen. Nur die Namen waren stets andere gewesen. »Torokaha, Tochter der Haika, tritt vor.«
Geleitet von zwei Akolythinnen, trat die Prinzessin aus dem Tempel heraus. Sie war bereits gewaschen worden, das lange Haar fiel ihr schwer auf die Schultern. Allen Schmuck hatte man ihr abgenommen. Abgesehen von einem Hemd, das ihr kaum bis zu den Knien reichte, war sie unbekleidet. Obwohl sie bereits zwanzig Sommer zählte, hatte sie die Züge eines Kindes. In ihren Händen hielt sie den goldenen Dolch, dessen Klinge mit dem Zeichen des göttlichen Dreiklangs versehen war. Ihr Gesicht glänzte bleich wie der runde Mond. Amokapua war voller Mitgefühl. Es war nicht leicht, was Atua-Kore von ihren Kindern verlangte.
»Bist du bereit«, fragte sie sanft, »Tiratanga zu dienen?«
»Ja«, murmelte die Prinzessin, kaum hörbar.
Doch aus den Trichtern der Herolde donnerte die Silbe hundertfach verstärkt. Die Prinzessin schrak zusammen, sah zu Boden.
Drei endlose Herzschläge lang war es so still, als habe sich der Letzte Tod über Ranui gesenkt. Die Hohepriesterin wurde eines Schweißtropfens gewahr, der die Seite ihrer Stirn herunterrann. Verstohlen räusperte sie sich.
Da endlich flüsterte Torokaha: »Weil es meine Pflicht ist.«
Auch diese Worte waren vorgeschrieben. Erleichtert atmete Amokapua auf. Sie hätte dem Mädchen gerne etwas Aufmunterndes gesagt, doch das Ritual erlaubte keine Abweichung.
»Gib mir den Dolch.«
»Nehmt ihn, Hohepriesterin.« Ihre Stimme war so leise, dass selbst Amokapua sie kaum verstand. Die Herolde ließen sich davon nicht verunsichern, sie waren mit den Formeln so vertraut wie die Trommler mit ihren Stöcken.
»Bist du bereit, zu sterben?«
»Ja.«
Wieder nur die Hälfte dessen, was zu sagen war. Wieder die qualvolle Pause, wieder wurde die Hohepriesterin sich der Schweißtropfen auf ihrer Stirn bewusst. Endlich hauchte die Prinzessin: »Damit Tiratanga leben kann.«
Vollbracht. Amokapua wurden die Beine schwach vor Erleichterung. Jedes Große Ritual war eine Herausforderung. Doch in ihrer Erinnerung erschien ihr keines der vergangenen so anstrengend wie dieses. Vielleicht war ihr Alter der Grund.
Der Tod war der Preis für das Leben. Aber wie war diejenige zu trösten, die ihn zahlen musste? Amokapua spürte die wartenden Blicke der Akolythinnen auf sich. »Mahuika, Tochter der Haika, tritt vor.«
Eine Königin Tiratangas war keine Herrscherin. Sie war die erste Dienerin ihres Landes, und die einzige, die ihr gesamtes Leben allein diesem Dienst zu widmen hatte. Eine Königin Tiratangas durfte nicht einem einzigen Menschen nahe sein – nur so war sie ihrem ganzen Volk verbunden. Nur indem sie tötete, was sie liebte, war sie frei, das größte Reich der Erde zu führen. So hatte Atua-Kore in ihrer Weisheit es bestimmt.
Es war ein harsches Gesetz, Amokapua schauderte bei dem Gedanken, sie selbst wäre in Mahuikas Lage. Aber wann immer Atua-Kores Weisungen nicht beachtet worden waren, hatten über kurz oder lang menschliche Leidenschaften die Königin von ihrer Aufgabe abgelenkt; ihre Nächsten stellten ihren Herrschaftsanspruch in Frage, gierten selbst nach dem Thron. Das vernachlässigte Reich war getaumelt – und im Kampf darum, wie es wieder aufzurichten sei, wurden Wunden geschlagen, die Ranuis Kanäle auf Jahre und Jahrzehnte hinaus rot gefärbt hatten. Mehrmals hatte allein Atua-Kores Gnade verhindert, dass es nicht gänzlich zerfallen war.
Eine Akolythin erschien im Portal, gehetzt, verängstigt. Ohne Prinzessin Mahuika. Ihr verzweifelter Blick fand die Hohepriesterin. Gerade noch unterdrückte Amokapua eine Frage – ein falsches Wort hätte das Ritual zerstört.
»Mahuika, Tochter der Haika, tritt vor«, wiederholte sie in eiserner Ruhe.
Da verlor die Akolythin den Rest ihrer Fassung. »Sie ist weg«, platzte es aus ihr heraus.