Prolog

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Bild von Mystic_Lynx von Pixabay

Brennendes Fleisch roch anders als Holz. Der Wind trug den beißenden Gestank den Hang herauf, bevor Kumbuko den Ursprung des Feuers ausmachen konnte. Mit vor Erschöpfung zitternden Beinen erreichte er den Bergsattel, ließ sich in den Schnee sinken. Nachdem er die Handschuhe abgestreift hatte, griff er zur Hüfte und lockerte den Riemen, an dem er seinen Schlitten hinter sich hergezogen hatte. Der Schlitten wog nicht mehr viel, die Vorräte waren aufgebraucht – und trotzdem bildete Kumbuko sich ein, durch alle Felle hindurch schnitte ihm der Riemen in den Bauch. Er stöhnte. Schon einen Knoten zu öffnen, wurde zur Qual, wenn einem die Finger zu Eis gefroren waren.

Nachdem er sich den verkrusteten Schnee aus den Brauen gewischt hatte, wagte er endlich, den Blick zu heben.

Das Tal, das sich vor ihm öffnete, zeigte sich in verwaschenem Grau. Hilflos wie ein blindes Auge starrte die Sonne aus dem wolkenverhangenen Himmel. Dennoch glaubte Kumbuko, einen See zu erkennen, gesäumt von kleinen, kräftigen Tannen. Wo es einen See gab, konnte es auch Menschen geben. Vergeblich spähte er nach einer Rauchsäule. Hatten seine Sinne ihn getäuscht?

Er zog seinen Schlitten heran, stemmte sich an ihm hoch. Nachdem er die Kräuterbeutel zur Seite gebunden hatte, setzte er sich rittlings auf den freigewordenen Platz, nahm seine Füße auf die Kufen und brauste in die Tiefe.

Wenige Augenblicke später durchbrach er den Hochnebel, gerade noch rechtzeitig, bevor er die Baumgrenze erreichte. Den Schlitten mit beiden Füßen bremsend, lenkte er ihn zwischen den Tannen hindurch. Der Schwung genügte, um ihn bis zum Rand des Sees zu bringen.

Bohrlöcher im Eis.

Also gab es Menschen. Auf einmal war auch der scharfe Geruch wieder da. Kumbuko kletterte von seinem Schlitten. Keine Fußspuren – doch das musste nichts bedeuten, den ganzen Morgen hatte es geschneit. Mit neuer Kraft lehnte er sich in den pfeifenden Wind und stapfte los, das Ufer entlang.

Das Erste, was er von der Siedlung sah, war das Banner. Unvermittelt sprang es ihm ins Auge, ein rotes Blinken zwischen den dunkel brütenden Tannen. Bei keinem der Stämme, denen Kumbuko so weit im Norden begegnet war, hatte er ein Banner gesehen. Beunruhigt pirschte er näher, er glaubte, das Schnauben eines Pferdes zu hören. Hier oben gab es keine Pferde. In dunkler Ahnung spähte er das Wappen aus. Auf dem roten Hintergrund prangten drei goldene Schwerter, und darüber ein goldener Kreis.

Ranu.

Gab es keinen Flecken Erde mehr, den die Krieger Tiratangas nicht ihrer blutrünstigen Göttin unterwerfen wollten? Die düstere Frage wurde Kumbuko bald beantwortet, denn die Tannen traten zurück, gaben die Sicht frei auf ein kleines Zeltdorf. Die Öffnungen der Zelte waren auf eine gemeinsame Mitte ausgerichtet, von welcher Rauch aufstieg. Was genau dort geschah, war nicht zu erkennen, denn zwei Dutzend in schwere Fellmäntel gehüllte Gestalten standen im Kreis, versperrten ihm die Sicht. Die Schnüre, mit denen sie ihre Pelzstiefel bis über die Knie gebunden hatten, deuteten darauf hin, dass es sich um einheimische Naalu handelte. Die Standarte mit der ranaischen Fahne steckte zwischen zwei Zelten im Schnee.

Kumbuko kam bis auf wenige Schritt heran, und dennoch wurde niemand seiner gewahr. »Heda«, rief er zögerlich.

Jetzt, endlich, bemerkten sie ihn. Gewöhnlich wurde er, wenn er auf eine Siedlung traf, mit Staunen und Ehrfurcht empfangen. Die Erwachsenen fielen vor ihm auf die Knie, die Kinder lärmten erst und verstummten dann scheu, die Alten reckten hoffnungsvoll die Hälse. Hier jedoch drehte man nur flüchtig den Kopf, blickte ihn mit hohlen Augen an und wandte sich wieder ab.

Aus einem der Zelte neben der Standarte drang Stöhnen.

»Ich bin Kumbuko«, murmelte Kumbuko verlegen, »und biete meine Hilfe an.« Er sagte es auf Naaluk, der Sprache des Gebirges.

»Was soll die Unruhe?«, drang es barsch aus der Mitte des Kreises, auf Ranuk. Kurz darauf wiederholte eine zweite Stimme die Frage, diesmal in brüchigem Naaluk.

Der Kreis öffnete sich und erlaubte Kumbuko den Blick auf die Mitte des Platzes. Eine Hand ranaischer Krieger stand dort, vollständig gerüstet mit Brustpanzer, Helm und Beinschienen. Obwohl sie die Schwerter gezückt hielten, wirkten sie ruhig, abgeklärt. Auch wenn sie sich in Unterzahl befanden, hatten sie wenig zu befürchten. Ein einzelner Krieger Tiratangas war so viel wert wie eine ganze Armee, behauptete man in Ranui, und wer sie im Kampf erlebt hatte, zweifelte nicht daran. Den Blick nach außen, umringten sie einen verkohlten Holzstoß. Neben dem Holzstoß kniete eine Naalu und drückte sich einen kleinen Jungen an die Brust. Kumbuko hatte genug Erfahrungen mit den Ranu gemacht, um sich die Geschichte zusammenreimen zu können – die Krieger Tiratangas waren vermutlich auf Tributreise gewesen; unter den hiesigen Naalu war jemand dumm oder verzweifelt genug gewesen, Widerstand zu leisten, also hatte man ihn verbrannt. Nur dass sie soweit im Norden unterwegs waren, war neu.

Der Krieger, dessen Stimme schon zuvor zu hören gewesen war, blaffte: »Was willst du?«

Bevor der Dolmetscher übersetzen konnte, ein klappriger Greis ohne Rüstung, kam Kumbuko ihm zuvor: »Ich bin Kumbuko«, wiederholte er, diesmal auf Ranuk. Mit einem Mal hoben die Ranu ihre Schwerter, beäugten ihn misstrauisch.

»Woher beherrschst du die Sprache des Reichs?«

Ein jähes Schluchzen schüttelte die Frau.

»... Und biete meine Hilfe an«, beendete Kumbuko den traditionellen Gruß.

Die Anspannung der Krieger ließ nach, die Schwerter senkten sich. »Du bist ein Schamane?« Der raue Ton war Neugier gewichen. »Ein Wundenbrenner?«

Kein Mandrêb reinigte Wunden mit Hitze, es gab schonendere Methoden. »Ich bin ein Heiler, ja.«

»Sieh an ... wenn das mal nicht was ist.« Der Krieger wandte sich seinen Kameraden zu. »Atua-Kore ist uns gnädig.«

Das Wimmern der Frau erstarb. Kumbuko spürte ihren Blick auf sich. Wider Willen sah er zu ihr hin, in ihren Augen flackerte der Verlust einer Welt. Und ein Flehen um Hilfe. Rasch wandte er sich ab.

»Hast du Mitleid?«, fragte der Krieger scharf. »Diese Wilden haben unseren Bannerführer vergiftet. Damit haben sie Atua-Kore selbst geschmäht – sie können dankbar sein, dass wir nicht ihre ganze Sippe opfern.«

Kumbuko schwieg.

Der Krieger trat an Kumbuko heran, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Eine schamlose Geste – einen Heiler von sich aus zu berühren, war nur zum Dank gestattet. »Es heißt, ihr Schamanen mischt euch in keine Händel ein, ist das wahr?«

»So halten wir es seit Jahr und Tag, ja.«

»Und bietet jedem eure Hilfe an?«

»Jedem, der uns nicht ausdrücklich zurückweist, ja.«

»Dann geh«, der Krieger zeigte auf das Zelt, aus dem das Stöhnen gedrungen war, »und rette unseren Bannerführer.«

Der Dolmetscher hatte den Austausch nicht übersetzt. Doch die Geste des Kriegers zeigte für alle verständlich, dass er das Gespräch für beendet erachtete. »Herr«, schluchzte die Frau mit dem Jungen, »wir sollen die Hälfte unseres Fangs abgeben. Wir werden den Winter nicht überleben.« Händeringend sah sie zu ihm hoch. »Es heißt, kein Herz ist milder als das eines Schamanen.«

Traurig schüttelte Kumbuko den Kopf. »Ich kann nichts für euch tun.«

Ihre Stimme brach vor Verzweiflung. »Seid barmherzig.«

»Wer hat der Ratte erlaubt, zu sprechen?« Der Krieger gab ihr einen Tritt. Seinem hageren Dolmetscher befahl er: »Sag der Bande, sie soll neues Holz heranschaffen. Wir verbrennen die Frau genauso wie ihren Freund, dann haben wir hoffentlich Ruhe.«

Als Kumbuko das Zelt aufsuchte, wichen die Naaluk in schweigendem Schrecken vor ihm zurück.

 

Der Bannerführer der Ranu wälzte sich unter Krämpfen. Kumbuko ahnte, welches Kraut man jenem in den Trank gemischt hatte; hier oben wuchs wenig – und noch weniger, was ernsthafte Vergiftungen verursachen konnte. Die Verfärbungen unter den Augen waren kein gutes Zeichen. Nachdem er sich sicher war, um welches Gift es sich handelte, holte er den Kräuterbeutel von seinem Schlitten. Auf Schritt und Tritt folgte ihm einer der Krieger. Während Kumbuko in der Hütte ein Gegengift vorbereitete, bäumte sich neben ihm der Bannerführer, und von draußen schrillten die Schreie der brennenden Frau.

Die halbe Nacht arbeitete Kumbuko an seinem Trank. Die Frau war bald verstummt, doch der Bannerführer zuckte und schrie, schlug nach unsichtbaren Monstern, überzog die eigene Verwandtschaft mit Flüchen. Endlich war der Trank fertig. Kumbuko flößte ihn dem Fiebernden ein, worauf dessen Toben nachließ. Schließlich kam der Kranke ganz zur Ruhe und schlief.

Ob er wieder erwachen würde, lag nicht mehr in Kumbukos Hand. Den Rest der Nacht saß er am Lager des Kranken und wartete. Er versagte sich jeden Gedanken an jene lange vergangene Zeit, bevor er zum Mandrêb geworden war. Er war ein anderer jetzt. Die Gefühle, die ihn einst geleitet hatten, hätten ihn fast zerstört. Er würde sie nicht wieder in sein Leben lassen. Im Rücken spürte er den Blick des Ranu, der den Zelteingang bewachte.

In der kalten Stunde des grauenden Morgens schreckte Kumbuko hoch. Der Bannerführer war erwacht, hatte sich bereits auf die Ellenbogen gestützt, sein gehetzter Blick erkundete den Raum. Ein einzelnes Talglicht hatte Kumbuko brennen lassen; holzschnitthaft kantig wirkten die ausgezehrten Züge des Kranken.

»Ihr seid in Sicherheit, Herr«, sagte der Krieger am Zelteingang, ein anderer als zuvor.

Doch der Angesprochene beachtete ihn nicht, musterte stattdessen Kumbuko. Sein Blick war klar, er würde leben. »Ein Knochenbrecher«, krächzte er heiser.

»Ich bin ein Heiler, ja.«

»Das Zeichen auf deiner Stirn ...« Der Bannerführer versuchte, in die Richtung zu deuten, doch seine Muskeln gehorchten noch nicht. »Du stammst aus Orofar.«

»Das ist lange her.«

»Und du hasst uns nicht?«

Orofar war ein blühendes Reich gewesen – bis die Ranu ihre gierigen Finger nach seinen Reichtümern ausgestreckt hatten.

»Ich bin ein Heiler.« Kumbuko packte das Wenige zusammen, das er mit ins Zelt gebracht hatte. Er hatte seine Pflicht erfüllt, und von den Naalu konnte er keine Gastfreundschaft mehr erwarten. Die Nacht im Zelt hatte ihm etwas Wärme geschenkt. Es war nicht ausgeschlossen, dass er es ins Tal schaffte, bevor ihn seine Kräfte verließen.

Als er nach draußen trat, war niemand zu sehen außer einem Wache haltenden Ranu. Kumbuko war erleichtert. Auch sein Schlitten stand noch da – der Besitz eines Mandrêb war unantastbar, das galt offenbar selbst hier. Während er den Neuschnee von der Ladefläche wischte und seine Beutel verschnürte, entdeckte er den Jungen, den er vorher in den Armen der Knienden gesehen hatte. Der Junge saß reglos vor dem Aschehaufen, auf dem am Abend zuvor seine Eltern gebrannt hatten. Seine Lippen hatten sich blau verfärbt, er musste die ganze Nacht dort ausgeharrt haben.

»Heiler!«, rief der Bannerführer hinter ihm.

Kumbuko unterdrückte ein Seufzen, blieb stehen.

»Komm zurück.«

Er gehorchte, duckte sich zurück ins Zelt.

Gestützt von seinem Soldaten, war der Bannerführer bereits auf die Beine gekommen. »Letzte Nacht habe ich Atua-Kores Tempel gesehen. Er war dunkler als auf den Bildern.« Nachdem Kumbuko nichts erwiderte, fuhr er fort: »Ohne deine Hilfe wäre ich gestorben, nicht wahr?«

Kumbuko schwieg.

»Nimm das als Dank.« Der Bannerführer streckte ihm eine Hand entgegen. Zwischen den Fingern hielt er ein ranaisches Goldstück.

»Ich danke Euch für Eure Güte«, murmelte Kumbuko. »Doch ein Heiler nimmt kein Geld.«

Einen Augenblick lang starrte der Bannerführer ihn ungläubig an. Ein Goldstück aus Ranui war mehr wert als der Getreidespeicher einer Kleinstadt. »Bist du dir sicher?« Hilfesuchend sah er sich nach seinem Gefährten um, dann zurück auf seine Münze, drehte sie ratlos zwischen den Fingern. »Ich werde immer in deiner Schuld stehen.«

Ohne dass er im Nachhinein hätte sagen können, woher die Worte gekommen waren, entgegnete Kumbuko: »Gebt mir den Jungen.«