Jonathan Franzen als Übersetzer

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Frank Wedekind: "Frühlings Erwachen", Einband der Originalausgabe von 1891

Jonathan Franzens Texte sind inspiriert von deutschsprachiger Literatur. Als Übersetzer bringt er ausgewählte deutschsprachige Texte der englischsprachigen Leserschaft nahe. Neben den beiden Aufsätzen von Karl Kraus im Rahmen von Das Kraus-Projekt übersetzt Franzen zudem Frank Wedekinds Drama Frühlings Erwachen im Jahr 2007 und im Jahr 2022 Am kürzeren Ende der Sonnenallee von Thomas Brussig, mit dem er befreundet ist. Seine Motivation hierfür offenbart Franzen im SPIEGEL-Interview vom 23.11.2014: „Jeder, der schreibt, sollte auch übersetzen. Man muss sich über alle Wörter Rechenschaft ablegen. Etwas Schlechtes zu übersetzen ist grauenvoll, aber wenn man etwas Gutes vor sich hat, erkennt man: Dieses Wort steht da, weil es da stehen muss“.

In seinem Essay „Authentisch, aber schauerlich“ aus dem Jahr 2007 (auf Deutsch 2013 im Essayband Weiter Weg) würdigt Franzen Wedekind als Künstler und Autor von Frühlings Erwachen (1891): „Frank Wedekind hat sein Leben lang Gitarre gespielt. Hundert Jahre später wäre er mit ziemlicher Sicherheit ein Rockstar geworden; nur dass er in der Schweiz aufgewachsen ist, lässt daran einen kleinen Zweifel aufkommen. Ob man es für einen Segen oder einen Jammer hält, dass er stattdessen zum Autor von Frühlings Erwachen wurde, dem besten und beständigsten deutschen Theaterstück seiner Zeit, hängt sehr davon ab, was man an einem Kunstwerk schätzt. Die großen Stärken von Frühlings Erwachen – Komik, Charakterzeichnung, Sprache – sind für guten Rock weitgehend irrelevant. Andererseits aber verfügt das Stück, selbst wenn es kein Massenpublikum anzieht, über einige ureigene Stärken des Rock: jugendliche Energie, subversive Kraft, spürbare Authentizität.“

Gemeinsam mit Jenny Watson, Professorin für deutsche Geschichte und Literatur, widmet Franzen sich schließlich der Übersetzung von Brussigs tragikomischen Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee ins Englische. Im Zuge der Übersetzung legt der btb Verlag 2023 das deutsche Original neu auf. Franzens Vorwort zur amerikanischen Ausgabe ist dort in deutscher Übersetzung als Nachwort wiedergegeben. Thomas Brussig geht gemeinsam mit Jonathan Franzen im Jahr 2023 auf eine Lesereise durch die USA.

Alexander Demling erläutert in seinem Beitrag „Ost in Translation“ im SPIEGEL vom 22.4. 2023 die Hintergründe der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen den beiden Autoren. Der amerikanische Starautor Jonathan Franzen pflegt eine Vorliebe für Deutschland und Detailreichtum deutscher Sprache, er mag Thomas Mann, hat Karl Kraus und Frank Wedekind übersetzt und zwei Jahre lang in Deutschland studiert. Als Franzen vor rund zehn Jahren für seinen Roman Unschuld recherchierte, suchte er ein gossenhaftes deutsches Wort, mit dem sich ein Charakter, ein Julian-Assange-hafter Charakter Dissident mit düsterer DDR-Vorgeschichte, selbst beschreiben würde. Daniel Kehlmanns Frau Anne empfahl Franzen, Thomas Brussig zu lesen … Franzen wurde bei Brussig fündig. Seitdem sind die beiden befreundet und literarisch verbunden“.

Franzen würdigt in dem erwähnten Nachwort Brussigs Menschenkenntnis und Humor: „Und das ist das Wunder, das Thomas Brussig vollbringt. Wenn er in Am kürzeren Ende der Sonnenallee zurückblickt, so tut er es ohne Wut oder Bedauern. Was er sieht, ist weder eine Dystopie noch eine Utopie, sondern etwas Anrührendes. Er sieht Menschen, die sich wie Menschen benehmen, Menschen, wie sie immer gewesen sind und immer sein werden. Außerdem sieht er, wunderbarerweise, auch etwas Albernes“. Alexander Demling zitiert Franzen in dem oben bereits zitierten Beitrag für den SPIEGEL vom 22.4.2023 im Hinblick auf Brussigs schriftstellerisch-humoristische Qualitäten angesichts ernster Thematiken wie folgt: „Das ist praktisch Sketch-Comedy, sagt Franzen. Alles sei rund zwei Stufen absurder als die Realität, jedes Detail im Dienst der nächsten Pointe. Von Brussig, sagt er, habe er gelernt, wie man lustig über die DDR schreiben kann, dass man das überhaupt darf. Ein Amerikaner, der Humor von einem Deutschen lernt“. In der Berliner Zeitung lobt Thomas Brussig Jonathan Franzen seinerseits für seine Übersetzung im Rahmen des Beitrags von Cornelia Geißler „Thomas Brussig reist mit seiner Sonnenallee in die USA“ vom 8.4.2023: „Er kenne einige Übersetzungen seiner Bücher, doch was Franzen gemacht habe, sei besonders: „Endlich versteht jemand, was ich damit erzählen will“. Das war ein Unterschied wie zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.“ 

Verfasst von: Thomas Steierer