Zorn als eine Lebensform war mir fremd
Für Jonathan Franzen ist Kraus zu seiner Zeit so visionär wie polarisierend, wie er im Interview mit dem SZ-Magazin vom 5.12.2014 erläutert: „Er hat vor hundert Jahren einige Gedanken über die Moderne vorweggenommen, die Kritiker wie Evgeny Morozov oder Jaron Lanier unabhängig von ihm neu formuliert haben. Außerdem ist Kraus mitunter unglaublich lustig ... Er war der einzige Autor in Europa, der von der ersten Minute an gegen den Ersten Weltkrieg geredet hat. Sein Beispiel ermutigt noch heute, unpopuläre Wahrheiten auszusprechen ...“ Im SPIEGEL-Interview vom 23.11.2014 weist Susanne Beyer in einer Frage auf folgende Unterschiede zwischen Franzen und Kraus hin: Franzen ist im Gegensatz zu Kraus Romanautor, während Kraus kaum offen für andere Perspektiven gewesen sei, differenziere Franzen empathisch und zeige Widersprüche.
Franzen verweist daraufhin auf Parallelen zwischen Kraus und ihm. Er habe sich außerdem weiterentwickelt: „Als ich jung war, war ich Kraus viel ähnlicher, als ich es heute bin. Ich habe harsch über andere geurteilt, habe die Welt schwarz und weiß gesehen. Richtig, inzwischen habe ich eine Distanz zu Kraus und zu mir selbst als jungem Mann entwickelt. Ein Autor von Romanen kann sich nicht in harschen Urteilen ergehen.“
Seine Verfasstheit während der Studienzeit in Berlin beschreibt Franzen in Das Kraus-Projekt so: „Ich stand auf einem verwaisten Bahnsteig in Hannover. Aus München kommend, wartete ich auf einen Zug nach Berlin, es war ein dunkler, grauer deutscher Tag, und ich nahm eine Handvoll deutscher Münzen aus meiner Hosentasche und begann, sie auf den Bahnsteig zu werfen … Ich war so zornig auf die Welt wie nie zuvor. Die unmittelbare Ursache dafür war, dass es zwischen mir und einem unglaublich hübschen Mädchen in München nicht zum Sex gekommen war … Dann stieg ich in einen Zug und fuhr nach Berlin und schrieb mich in einen Kurs über Karl Kraus ein.“
Angst – hypothetisch, falls Kraus und er Zeitgenossen gewesen wären – hätte Jonathan Franzen vor dem berühmt-berüchtigten Kritiker nicht gehabt, wie er im bereits erwähnten Interview mit der ZEIT erläutert: „Ich habe so viele Texte geschrieben, die keine Romane sind, dass ich voll in seinem Visier wäre – ich wäre sicher ein mögliches Ziel. Aber ich habe keine Albtraum-Fantasien, in denen Karl Kraus mich vernichtet. Als junger Mensch fürchtete ich mich zwar vor der Schärfe seines Urteils, aber zugleich fühlte ich mich zu ihm hingezogen wie zu einem viel Stärkeren. Mein Kalkül war: Ich musste ihm nur geistig nahe genug kommen, dann würden die wütenden Pfeile, die er in die Welt schleuderte, mich verfehlen.“
In seinen jungen Jahren nimmt Franzen sich Kraus‘ Schreiben zum Vorbild für die eigene Prosa. So heißt es im Kraus-Projekt: „Ich wollte Amerikas Widersprüchlichkeiten so entlarven, wie er die Österreichischen entlarvt hatte, und ich wollte es mittels des Romans tun, jenes populären Genres, das er verachtete, ich hingegen nicht. Außerdem hoffte ich weiterhin, mein Kraus-Projekt zu vollenden, wenn mein Roman mich erst reich und berühmt gemacht hätte … Vielleicht das Eindrucksvollste an Kraus als Denker ist für mich, wie frühzeitig und klar er das Auseinanderdriften von technologischem und moralischem, geistig-seelischem Fortschritt erkannt hat.“
Die hypothetische Frage, wer oder was heute wohl Ziel von Kraus‘ Kritik wäre, beantwortet Franzen im nämlichen Interview mit der ZEIT: „Die Internetfans glauben ja, als Blogger sei man sein eigener Herausgeber. Aber das stimmt nicht. Kraus war wirklich sein eigener Herausgeber: Er hat Die Fackel veröffentlicht, die kleine Zeitschrift, die sich der Wiener Mainstream-Presse widersetzte. Er war unabhängig und unbestechlich ... Ich glaube, Kraus wäre heute in einem wirklichen Dilemma. Er würde diese Technologie genau durchschauen, andererseits ist der Netz-Diskurs wie für ihn geschaffen: Seine Texte waren wie Blogger-Texte: eigene Sätze und Zitate, es fehlen nur die Hyperlinks.“
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Für Jonathan Franzen ist Kraus zu seiner Zeit so visionär wie polarisierend, wie er im Interview mit dem SZ-Magazin vom 5.12.2014 erläutert: „Er hat vor hundert Jahren einige Gedanken über die Moderne vorweggenommen, die Kritiker wie Evgeny Morozov oder Jaron Lanier unabhängig von ihm neu formuliert haben. Außerdem ist Kraus mitunter unglaublich lustig ... Er war der einzige Autor in Europa, der von der ersten Minute an gegen den Ersten Weltkrieg geredet hat. Sein Beispiel ermutigt noch heute, unpopuläre Wahrheiten auszusprechen ...“ Im SPIEGEL-Interview vom 23.11.2014 weist Susanne Beyer in einer Frage auf folgende Unterschiede zwischen Franzen und Kraus hin: Franzen ist im Gegensatz zu Kraus Romanautor, während Kraus kaum offen für andere Perspektiven gewesen sei, differenziere Franzen empathisch und zeige Widersprüche.
Franzen verweist daraufhin auf Parallelen zwischen Kraus und ihm. Er habe sich außerdem weiterentwickelt: „Als ich jung war, war ich Kraus viel ähnlicher, als ich es heute bin. Ich habe harsch über andere geurteilt, habe die Welt schwarz und weiß gesehen. Richtig, inzwischen habe ich eine Distanz zu Kraus und zu mir selbst als jungem Mann entwickelt. Ein Autor von Romanen kann sich nicht in harschen Urteilen ergehen.“
Seine Verfasstheit während der Studienzeit in Berlin beschreibt Franzen in Das Kraus-Projekt so: „Ich stand auf einem verwaisten Bahnsteig in Hannover. Aus München kommend, wartete ich auf einen Zug nach Berlin, es war ein dunkler, grauer deutscher Tag, und ich nahm eine Handvoll deutscher Münzen aus meiner Hosentasche und begann, sie auf den Bahnsteig zu werfen … Ich war so zornig auf die Welt wie nie zuvor. Die unmittelbare Ursache dafür war, dass es zwischen mir und einem unglaublich hübschen Mädchen in München nicht zum Sex gekommen war … Dann stieg ich in einen Zug und fuhr nach Berlin und schrieb mich in einen Kurs über Karl Kraus ein.“
Angst – hypothetisch, falls Kraus und er Zeitgenossen gewesen wären – hätte Jonathan Franzen vor dem berühmt-berüchtigten Kritiker nicht gehabt, wie er im bereits erwähnten Interview mit der ZEIT erläutert: „Ich habe so viele Texte geschrieben, die keine Romane sind, dass ich voll in seinem Visier wäre – ich wäre sicher ein mögliches Ziel. Aber ich habe keine Albtraum-Fantasien, in denen Karl Kraus mich vernichtet. Als junger Mensch fürchtete ich mich zwar vor der Schärfe seines Urteils, aber zugleich fühlte ich mich zu ihm hingezogen wie zu einem viel Stärkeren. Mein Kalkül war: Ich musste ihm nur geistig nahe genug kommen, dann würden die wütenden Pfeile, die er in die Welt schleuderte, mich verfehlen.“
In seinen jungen Jahren nimmt Franzen sich Kraus‘ Schreiben zum Vorbild für die eigene Prosa. So heißt es im Kraus-Projekt: „Ich wollte Amerikas Widersprüchlichkeiten so entlarven, wie er die Österreichischen entlarvt hatte, und ich wollte es mittels des Romans tun, jenes populären Genres, das er verachtete, ich hingegen nicht. Außerdem hoffte ich weiterhin, mein Kraus-Projekt zu vollenden, wenn mein Roman mich erst reich und berühmt gemacht hätte … Vielleicht das Eindrucksvollste an Kraus als Denker ist für mich, wie frühzeitig und klar er das Auseinanderdriften von technologischem und moralischem, geistig-seelischem Fortschritt erkannt hat.“
Die hypothetische Frage, wer oder was heute wohl Ziel von Kraus‘ Kritik wäre, beantwortet Franzen im nämlichen Interview mit der ZEIT: „Die Internetfans glauben ja, als Blogger sei man sein eigener Herausgeber. Aber das stimmt nicht. Kraus war wirklich sein eigener Herausgeber: Er hat Die Fackel veröffentlicht, die kleine Zeitschrift, die sich der Wiener Mainstream-Presse widersetzte. Er war unabhängig und unbestechlich ... Ich glaube, Kraus wäre heute in einem wirklichen Dilemma. Er würde diese Technologie genau durchschauen, andererseits ist der Netz-Diskurs wie für ihn geschaffen: Seine Texte waren wie Blogger-Texte: eigene Sätze und Zitate, es fehlen nur die Hyperlinks.“