Eine Lektion für alle

In den Fußnoten zu seiner Übersetzung von Nestroy und die Nachwelt blickt Franzen zurück auf den damals bereits angespannten Wohnungsmarkt in Berlin. Er landet zunächst im „trostlosen Reineckendorf“, um dann als Untermieter zu einem kanadischen Bekannten in die Karl-Marx-Straße in Neukölln zu ziehen. Er schreibt über die amourösen Verstrickungen mit seiner Verlobten „V.“ in den USA, von der seine Mutter, die die junge Frau ablehnt, nichts wissen darf. Auch eine Bekannte und „Beinahe-Affäre“ aus den USA namens „X“, die in München auftaucht, findet Erwähnung.

Nach einem wenig ergiebigen Seminar über Hugo von Hofmannsthal besucht Franzen ein Seminar zu Karl Kraus und dessen Drama Die letzten Tage der Menschheit, wie er in Das Kraus-Projekt schreibt: „Nach der Hälfte des Semesters ging ich nicht mehr hin. Ich hatte mich schon für ein Referat am letzten Tag des Seminars gemeldet, und daran konnte ich auch zu Hause arbeiten.“ Franzen gibt sich laut eigener Aussage Mühe mit dem Referat und hat Erfolg: „Als ich dann mit der U-Bahn zur letzten Seminarstunde im Semester fuhr, hatte ich eine schlimme Erkältung und einen Dickens’schen Husten … Als ich fertig war, hatte ich den stolzesten Moment meiner zwei Jahre in Deutschland – ja einen der stolzesten Momente meines Lebens. Hindemith lächelte mich an, blickte sich in dem raucherfüllten Raum um und sagte: Das ist eine Lektion für uns alle: Da musste erst ein Amerikaner kommen, um uns zu erklären, was wir ein ganzes Semester lang zu verstehen versucht haben.

Wie in seinen Romanen auf Dysfunktionalität am Ende oft eine Art Erlösung folgt, so könnte man sagen, dass nach dem ambivalenten Jahr in München für Franzen in Berlin eine „Erlösung“ folgt. Auf jeden Fall sieht Franzen nach seiner Rückkehr in die USA seine Zukunft etwas klarer: Im Interview mit der ZEIT vom 4. August 2005 wird Franzen gefragt, was er aus den deutschen Studienjahren in die USA mitgebracht habe: Franzen antwortet grinsend: „Zigarettenabhängigkeit, gewachsene Alkoholtoleranz, Skepsis über Amerika, Gewissheit, dass ich lieber in Amerika als in Europa leben möchte. Ich kam nach Hause, geheilt von meiner Sehnsucht, in der Alten Welt zu leben. Ich kam zurück mit einem sehr deutschen Konzept von Literatur, was nicht schlecht ist, aber dieses Spielerische, auch Unsinnige, Amerikanische, das fehlte mir. Ich kam zurück und nahm mit geschärften Sinnen das Witzige wahr ... Ich heiratete und zog nach Boston.“

Verfasst von: Thomas Steierer