Entstehung und Vertiefung von Franzens Affinität für deutschsprachige Literatur

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Isolde Ohlbaum/Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv

Der Autor kommt durch ein Au-pair aus Österreich bereits früh mit der deutschen Sprache in Berührung und bald auch mit deutschsprachiger Literatur. Für kurze Zeit ist die Tochter eines österreichischen Geschäftspartners seines Vaters aus Wien bei Franzens Familie zu Gast. In seinem 2006 erschienen autobiografischen Erzählband Die Unruhezone – eine Geschichte von mir (auf Deutsch 2007) blickt der Schriftsteller zurück auf diese für ihn besondere Zeit:

„Ich wurde in die deutsche Sprache von einer jungen blonden Frau eingeführt, Elisabeth, für deren Beschreibung kein kleineres Wort als wollüstig genügt“. Franzen beschreibt, wie er als Zehnjähriger im Wintergarten seiner Eltern neben Elisabeth, die sich an ihn lehnt auf der Coach sitzt und einen deutschsprachigen Buch über das germanische Familienleben aus der Leihbücherei vorlesen soll und ihn dabei Elisabeth auf seine Fehler hinweist. Die Ausspracheschwierigkeiten sind für Jonathan seinerzeit jedoch wohl das geringere Problem: „Sie war neunzehn, und ihre Röcke waren sensationell kurz, ihre kleinen Tops waren sensationell eng, und die weltverfinsternde Nähe ihrer Brüste und die große südliche Ausdehnung ihrer nackten Beine waren mir unerträglich“. Franzen berichtet davon, dass er dabei Platzangst, Nervosität und ein Unwohlsein verspürt, das er mit dem Gefühl bei einem Zahnarztbesuch vergleicht.

Ein Entrinnen gibt es für den Zehnjährigen in manchen Momenten nicht: „Ich lehnte mich von ihr weg, doch sie lehnte sich immer weiter herüber, und ich rutschte Zentimeter für Zentimeter das Zweiersofa entlang, doch sie rutschte mir hinterher“. Elisabeth hat, so Franzen, nicht viel Geduld mit ihm bei seinen Vorleseversuchen, weshalb Franzen die gemeinsame Zeit für beide Seiten, Elisabeth und ihn, als äußerst unbefriedigend beschreibt: „Ich wusste nur, dass ich nicht mochte, was sie in mir auslöste, und dass das für sie enttäuschend war: Sie machte mich zum schlechten Schüler, ich sie zur schlechten Lehrerin.“ Nach Elisabeths Abreise gegen Ende des Sommers verfügt Franzen nach eigener Aussage weiter über keinerlei Deutschkenntnisse.

Der Bezug zur deutschen Sprache ist für Jonathan nach Elisabeths Zeit in der Familie Franzen dennoch hergestellt. Jonathan Franzen scheint sein Leben seinerzeit bereits als dysfunktional wahrgenommen zu haben, eine Empfindung, die Franzen als zentrales Thema immer wieder in seinen Romanen und Essay darstellt. Volker Weidermann schreibt im Hinblick auf Franzens erste Leseerfahrungen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in seinem Beitrag „Ein Romanautor mit Vogelproblem“ vom 29.4.2007 (anlässlich der Publikation des Buchs Die Unruhezone): „Es beschreibt das Aufwachsen eines durchschnittlichen Jugendlichen in einer mittelamerikanischen Stadt, der sein Leben durchaus nicht als durchschnittlich zu begreifen vermag, sondern als ein Leben voller Grauen und kleiner, alltäglicher lebensbedrohlicher Schrecken, und der sich, wie wohl die meisten Jugendlichen, als Außenseiter fühlt. Jonathan Franzen schreibt sich nie selbstmitleidig durch sein Leben, sondern immer radikal selbstentblößend, selbstironisch lachend. Aus seinem Lebensunglück riss ihn zunächst die manische Lektüre von Snoopy und Charlie Brown und später, viel später die deutsche Literatur, Goethes Faust, Rilkes Malte Laurids Brigge und Kafkas Prozess – ein großes Glück und eine neue Welterkenntnis …“

Verfasst von: Thomas Steierer