Jonathan Franzen und die deutschsprachige Literatur
„Jonathan Franzen ist zurzeit der bedeutendste US-amerikanische Autor. Er sagt, dass er das der deutschen Literatur verdanke“. Dies schreibt Susanne Beyer im Vorspann ihres SPIEGEL-Gesprächs mit Jonathan Franzen (23.11.2014) – und dies ist wohl im Jahr 2024 weiterhin zutreffend. Beyer würdigt in ebenjenem Beitrag Franzens „Leidenschaft für die deutschsprachige Literatur der Moderne. Er schätzt auch Johann Wolfgang von Goethe und Gotthold Ephraim Lessing, aber vor allem eben Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Alfred Döblin, Thomas Mann, Robert Walser und Karl Kraus. Jonathan Franzen, 55 Jahre alt, aufgewachsen in einem Vorort im Mittleren Westen der USA, versteht sich als Literat deutscher Prägung. Man könnte auch sagen: Franzen ist der weltweit bekannteste Schriftsteller deutscher Literaturtradition“.
Jonathan Franzen und die deutschsprachige Literatur. Dass dies ein Kapitel für sich ist und Franzen ohne die deutschsprachige Literatur nicht der geworden wäre, der er ist, konstatiert er im Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT (11.12.2014): „Ich kam über die deutsche Literatur zum Schreiben. Deutsche Literatur war sättigend. Man war nicht zwei Stunden später wieder hungrig, wenn man ein Stück deutscher Literatur verschlungen hatte. Man konnte den ganzen Tag arbeiten, man hatte genug zu verdauen. Das Wort „Dichtung“ sagt schon alles: Die Idee, die Dinge zu verdichten im Prozess des Schreibens – das wurde meine Definition von Literatur“.
In einem früheren Interview mit der ZEIT (4.8.2005) führt Franzen seine besondere Verbindung zur deutschsprachigen Literatur auf seine Vorbilder zurück: „Kafka die Nummer eins, dann Karl Kraus, Goethe, Thomas Mann. Sie alle waren mir ungemein wichtig. Einiges in Die 27ste Stadt (Franzens erster Roman aus dem Jahr 1988; Anm. des Autors), auch einiges in den satirischen Passagen von Schweres Beben (Franzens zweiter Roman aus dem Jahr 1992; Anm. des Autors) ist von Karl Kraus gestohlen. Thomas Manns feine Ironie gefiel mir immer sehr gut. So habe ich mich lange als eine Art deutscher Schriftsteller betrachtet.“
Franz Kafka beeinflusst Franzen nachhaltig, wie er in seinem Essay „Über autobiografische Literatur“ (auf Deutsch erschienen in Weiter Weg, 2013) schreibt: „Kafkas brillant zweideutige Darstellung Josef K.s, der ein sympathischer und zu Unrecht verfolgter Jedermann und ein selbstmitleidiger und seine Schuld leugnender Krimineller ist, war mein Tor zu den Möglichkeiten von Literatur als Mittel der Selbsterforschung: als Methode, mich mit den Schwierigkeiten und Paradoxien meines eigenen Lebens zu beschäftigen.“
Franzen legt in seinem Essay „Über autobiografische Literatur“ dar, was er besonders an Kafkas Werk schätzt und für das eigene Schreiben verinnerlicht hat: „Kafka lehrt uns, sich auch dann selbst zu lieben, wenn man gnadenlos gegen sich ist, und angesichts schlimmster Wahrheiten über sich doch menschlich zu bleiben. Es reicht nicht, die eigenen Figuren zu lieben, und es reicht nicht, mit den eigenen Figuren hart ins Gericht zu gehen: Man muss immer beides zugleich versuchen.“
„Thomas Mann in locker“
Jonathan Franzens eigenes literarisches Werk ist stark geprägt von seiner Affinität für deutschsprachige Literatur, wie Felix Stephan in seinem Beitrag „Heilige und Verkommene“ in der Süddeutschen Zeitung vom 8.10.2021 konstatiert: „Eine der Konstanten in Jonathan Franzens umfangreichen Werk sind die Bezüge zur deutschen Kultur: In Die Korrekturen ist eine der Hauptfiguren geradezu besessen von dem Pessimismus der Schriften Arthur Schopenhauers. In Purity (zu Deutsch Unschuld, 2015; Anm. des Autors) geht es ausführlich um das Erbe der DDR. Und sein neuer Roman Crossroads spielt gleich ganz unter den Deutschstämmigen in den USA, einer der großen Bevölkerungsgruppen des Landes. Im Zentrum steht die Pfarrersfamilie Hildebrandt, die in einem Vorort von Chicago lebt; der Vorgesetzte des Vaters heißt Haefle, die Nachbarn heißen Fritz und Susanna Niedermayer.“
In der SZ-Magazin-Rubrik „Sagen Sie jetzt nichts“ wird Jonathan Franzens Status unter Bezugnahme auf eines seiner wichtigsten literarischen Vorbilder folgendermaßen beschrieben: „Thomas Mann in locker“ (SZ-Magazin 43 vom 29.10.2010). Die Familiendarstellung in Jonathan Franzens bislang erfolgreichstem Roman Die Korrekturen aus dem Jahr 2001 vergleicht Michael Maar in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Thomas-Mann-Preises an Jonathan Franzen in Lübeck im Jahr 2022, die auch in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Der Kontrakt des Dichters“ erschienen ist, mit Thomas Manns Buddenbrooks: „Um mit einer Qualität zu beginnen, die mir bei Franzen etwas unterbewertet scheint: Wie Thomas Mann ist er ein Meister der versteckten Komik. Es ist eine sehr sublime, wie Mann gesagt haben würde: unterteufte Komik, nichts offen zutage Liegendes.“
Dieses Dossier widmet sich der Entstehung und Vertiefung von Jonathan Franzens Affinität für deutschsprachige Literatur, seinen Studienaufenthalten in München (im Jahr 1980) und Berlin (im Jahr 1982), die Franzen in Essays und Interviews verarbeitet und erwähnt, dem Kraus-Projekt (auf Deutsch 2014), in der er mit zwei Mitstreitern zwei Aufsätze von Kraus übersetzt und mit sehr ausführlichen Fußnoten auf unsere Zeit und seinen eigenen Lebenslauf bezieht, Franzens Roman Unschuld aus dem Jahr 2015, der teilweise in der damaligen DDR spielt, Franzen als Übersetzer deutschsprachiger Literatur ins Englische. Neben Karl Kraus in Das Kraus-Projekt übersetzt Franzen 2007 auch Frank Wedekinds Dramaklassiker Frühlings Erwachen aus dem Jahr 1891. Im Jahr 2022 überträgt er den Roman seines Freundes Thomas Brussig aus dem Jahr 1999 Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Schließlich geht es um Franzens besonderen Blick auf Deutschland.
Weitere Kapitel:
„Jonathan Franzen ist zurzeit der bedeutendste US-amerikanische Autor. Er sagt, dass er das der deutschen Literatur verdanke“. Dies schreibt Susanne Beyer im Vorspann ihres SPIEGEL-Gesprächs mit Jonathan Franzen (23.11.2014) – und dies ist wohl im Jahr 2024 weiterhin zutreffend. Beyer würdigt in ebenjenem Beitrag Franzens „Leidenschaft für die deutschsprachige Literatur der Moderne. Er schätzt auch Johann Wolfgang von Goethe und Gotthold Ephraim Lessing, aber vor allem eben Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Alfred Döblin, Thomas Mann, Robert Walser und Karl Kraus. Jonathan Franzen, 55 Jahre alt, aufgewachsen in einem Vorort im Mittleren Westen der USA, versteht sich als Literat deutscher Prägung. Man könnte auch sagen: Franzen ist der weltweit bekannteste Schriftsteller deutscher Literaturtradition“.
Jonathan Franzen und die deutschsprachige Literatur. Dass dies ein Kapitel für sich ist und Franzen ohne die deutschsprachige Literatur nicht der geworden wäre, der er ist, konstatiert er im Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT (11.12.2014): „Ich kam über die deutsche Literatur zum Schreiben. Deutsche Literatur war sättigend. Man war nicht zwei Stunden später wieder hungrig, wenn man ein Stück deutscher Literatur verschlungen hatte. Man konnte den ganzen Tag arbeiten, man hatte genug zu verdauen. Das Wort „Dichtung“ sagt schon alles: Die Idee, die Dinge zu verdichten im Prozess des Schreibens – das wurde meine Definition von Literatur“.
In einem früheren Interview mit der ZEIT (4.8.2005) führt Franzen seine besondere Verbindung zur deutschsprachigen Literatur auf seine Vorbilder zurück: „Kafka die Nummer eins, dann Karl Kraus, Goethe, Thomas Mann. Sie alle waren mir ungemein wichtig. Einiges in Die 27ste Stadt (Franzens erster Roman aus dem Jahr 1988; Anm. des Autors), auch einiges in den satirischen Passagen von Schweres Beben (Franzens zweiter Roman aus dem Jahr 1992; Anm. des Autors) ist von Karl Kraus gestohlen. Thomas Manns feine Ironie gefiel mir immer sehr gut. So habe ich mich lange als eine Art deutscher Schriftsteller betrachtet.“
Franz Kafka beeinflusst Franzen nachhaltig, wie er in seinem Essay „Über autobiografische Literatur“ (auf Deutsch erschienen in Weiter Weg, 2013) schreibt: „Kafkas brillant zweideutige Darstellung Josef K.s, der ein sympathischer und zu Unrecht verfolgter Jedermann und ein selbstmitleidiger und seine Schuld leugnender Krimineller ist, war mein Tor zu den Möglichkeiten von Literatur als Mittel der Selbsterforschung: als Methode, mich mit den Schwierigkeiten und Paradoxien meines eigenen Lebens zu beschäftigen.“
Franzen legt in seinem Essay „Über autobiografische Literatur“ dar, was er besonders an Kafkas Werk schätzt und für das eigene Schreiben verinnerlicht hat: „Kafka lehrt uns, sich auch dann selbst zu lieben, wenn man gnadenlos gegen sich ist, und angesichts schlimmster Wahrheiten über sich doch menschlich zu bleiben. Es reicht nicht, die eigenen Figuren zu lieben, und es reicht nicht, mit den eigenen Figuren hart ins Gericht zu gehen: Man muss immer beides zugleich versuchen.“
„Thomas Mann in locker“
Jonathan Franzens eigenes literarisches Werk ist stark geprägt von seiner Affinität für deutschsprachige Literatur, wie Felix Stephan in seinem Beitrag „Heilige und Verkommene“ in der Süddeutschen Zeitung vom 8.10.2021 konstatiert: „Eine der Konstanten in Jonathan Franzens umfangreichen Werk sind die Bezüge zur deutschen Kultur: In Die Korrekturen ist eine der Hauptfiguren geradezu besessen von dem Pessimismus der Schriften Arthur Schopenhauers. In Purity (zu Deutsch Unschuld, 2015; Anm. des Autors) geht es ausführlich um das Erbe der DDR. Und sein neuer Roman Crossroads spielt gleich ganz unter den Deutschstämmigen in den USA, einer der großen Bevölkerungsgruppen des Landes. Im Zentrum steht die Pfarrersfamilie Hildebrandt, die in einem Vorort von Chicago lebt; der Vorgesetzte des Vaters heißt Haefle, die Nachbarn heißen Fritz und Susanna Niedermayer.“
In der SZ-Magazin-Rubrik „Sagen Sie jetzt nichts“ wird Jonathan Franzens Status unter Bezugnahme auf eines seiner wichtigsten literarischen Vorbilder folgendermaßen beschrieben: „Thomas Mann in locker“ (SZ-Magazin 43 vom 29.10.2010). Die Familiendarstellung in Jonathan Franzens bislang erfolgreichstem Roman Die Korrekturen aus dem Jahr 2001 vergleicht Michael Maar in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Thomas-Mann-Preises an Jonathan Franzen in Lübeck im Jahr 2022, die auch in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Der Kontrakt des Dichters“ erschienen ist, mit Thomas Manns Buddenbrooks: „Um mit einer Qualität zu beginnen, die mir bei Franzen etwas unterbewertet scheint: Wie Thomas Mann ist er ein Meister der versteckten Komik. Es ist eine sehr sublime, wie Mann gesagt haben würde: unterteufte Komik, nichts offen zutage Liegendes.“
Dieses Dossier widmet sich der Entstehung und Vertiefung von Jonathan Franzens Affinität für deutschsprachige Literatur, seinen Studienaufenthalten in München (im Jahr 1980) und Berlin (im Jahr 1982), die Franzen in Essays und Interviews verarbeitet und erwähnt, dem Kraus-Projekt (auf Deutsch 2014), in der er mit zwei Mitstreitern zwei Aufsätze von Kraus übersetzt und mit sehr ausführlichen Fußnoten auf unsere Zeit und seinen eigenen Lebenslauf bezieht, Franzens Roman Unschuld aus dem Jahr 2015, der teilweise in der damaligen DDR spielt, Franzen als Übersetzer deutschsprachiger Literatur ins Englische. Neben Karl Kraus in Das Kraus-Projekt übersetzt Franzen 2007 auch Frank Wedekinds Dramaklassiker Frühlings Erwachen aus dem Jahr 1891. Im Jahr 2022 überträgt er den Roman seines Freundes Thomas Brussig aus dem Jahr 1999 Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Schließlich geht es um Franzens besonderen Blick auf Deutschland.