Widersprüche

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbthemes/2024/klein/Widersprueche_500.jpg#joomlaImage://local-images/lpbthemes/2024/klein/Widersprueche_500.jpg?width=500&height=260

Zu Jonathan Franzens Persönlichkeit und seinem Leben gehören, gemessen an dem, was öffentlich über ihn bekannt ist, diverse Widersprüche und Brüche. Damit ist er gewissermaßen so wie seine vielschichtigen Romanfiguren und wie wir alle. Nach seinem Aufstieg vom seitens der Literaturkritik gewürdigten, aber kommerziell eher erfolglosen und unbekannten Autor zum Starschriftsteller folgt bei Jonathan Franzen bald ein Stück weit ein Abstieg: Vom Starschriftsteller zum Shitstorms und Verrisse provozierenden Hassobjekt. Durch seine eigenen kontroversen Aussagen, aber wohl auch aufgrund von mit seinem exponierten Status zusammenhängender Missgunst. Franzens Lebensgefährtin, die Autorin Kathryn Chetkovich, äußert in ihrem Essay „Neid“ (auf Deutsch erschienen 2020 in dem Autorinnen-Essaysammelband Schreibtisch mit Aussicht, herausgegeben von Ilka Piepgras) ihre ganz persönliche Sicht: „Mit dem Teil von mir, der seine Freundin war, nahm ich ihn in die Arme und sagte ihm, wie sehr ich mich für ihn freute, und mit dem anderen Teil, der unglücklichen Schriftstellerin im Inneren, ging ich auf Distanz.“ Seine immensen Buchverkaufszahlen, alleine Die Korrekturen verkaufte sich etwa drei Millionen Mal, die zahlreichen Preise und sein exponierter Status locken viele Neider und Gegner auf den Plan.

Jonathan Franzens Bild in der Öffentlichkeit ist ambivalent. Er versteht sich als Kontraktautor, der seine Leser als Freunde sieht. Regel eins in seinen „Zehn Regeln für den Romanautor“: „Der Leser ist ein Freund, kein Gegner, kein Zuschauer.“ Franzen fördert und lobt dem Mainstream eher unbekannte Autorinnen wie Nell Zink oder Joy Williams. Franzens Liebeserklärung an Alice Munro im Essay „Wie können Sie so sicher sein, dass nicht Sie selbst das Böse sind?“ aus dem Jahr 2004 ist erschienen in Weiter Weg. Dort schreibt er: „Wenn ich Alice Munro lese, stellt sich jener Zustand stiller Reflexion ein, in dem ich über mein eigenes Leben nachdenke, über die Entscheidungen, die ich getroffen, über die Dinge, die ich getan oder unterlassen habe, darüber, was für ein Mensch ich bin, über meinen Tod. Sie gehört zu den wenigen Schriftstellern – manche von ihnen leben noch, die meisten sind tot –, an die ich denke, wenn ich sage, dass die Literatur meine Religion ist.“

Verfasst von: Thomas Steierer