Internetskepsis

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Jonathan Franzen hegt seit langem eine besondere Skepsis gegenüber dem Internet im Allgemeinen und Social Media sowie Tech-Konzernen, etwa Amazon und Google, im Besonderen. In Essays und Interviews übt er teils heftige Kritik. Im Gespräch mit dem SPIEGEL vom 25.5.2019 führt Franzen aus, was ihm am Internet stört: „Es gibt schon ein paar Dinge, die das Leben leichter machen. Aber das sind meistens bloß Lösungen für Konsumentenprobleme, kleine Optimierungen des Alltags. Die wirklich großen Probleme packt das Silicon Valley gar nicht erst an … Der Klimawandel, die Umweltzerstörung, das Energieproblem. Da kommt nichts. Und viele Probleme, die wir heute haben, hat die Digitalindustrie überhaupt erst hervorgebracht: den Untergang der Nachrichtenmedien, das Ende der Fakten, den Kollaps des Diskurses.“ Der Onlinehandelskonzern Amazon ist Franzen ein besonderer Dorn im Auge, wie er im oben genannten SPIEGEL-Interview ausführt: „Der Aufstieg von Amazon beleidigt mich als Schriftsteller auch persönlich, weil Jeff Bezos, um sein Handelsimperium aufzubauen, sich ursprünglich das Buch als Rohstoff ausgewählt hat, und zwar nur deshalb, weil Bücher unverderbliche Ware sind und sich im Lagerhaus leicht stapeln lassen … Ich wünsche mir, dass die Aufsichtsbehörden Amazon in zwölf Teile zerschlagen, die dann miteinander konkurrieren. Dann wäre das Problem gelöst.“

In Unschuld setzt der Autor das Internet mit der DDR gleich, eine der Hauptfiguren des Romans, der Julian Assange ähnliche Aufklärungsguru Andreas Wolf, kommt darin nicht allzu gut weg: „Andreas‘ Gabe, vielleicht seine größte, war es, in totalitären Systemen singuläre Nischen zu finden. Der beste Freund, den er je gehabt hatte, war die Stasi – bis er das Internet kennenlernte. Er hatte einen Weg gefunden, beide zu benutzen und zugleich auf Distanz zu ihnen zu bleiben".“

Diese Analogie von DDR und Internet in Unschuld trägt Franzen in den insgesamt wohlwollenden bis bewundernden Rezensionen zu diesem Roman auch kritische Anmerkungen ein. So schreibt Adam Soboczynski, der Franzen in seiner Besprechung „Wir sind alle Besudelte“ (Die Zeit vom 3.9. 2015): „Man misstraut dieser im Roman entfalteten Analogie doch sehr. Schon deshalb, weil die Diktatur über ein Gewaltmonopol verfügt, von der ein Netzaktivist nur träumen kann: Sie hat die Möglichkeit zur physischen Gewalt und zum Zugriff auf den Körper. Gewiss sind auch die Internetkonzerne und Netzwerke mit ihrem Datendurst vom Drang beseelt, „unsere Existenz zu definieren“, wie es in Purity heißt. In welcher Weise und in welchem Ausmaß sie agieren können, regelt aber noch immer der demokratische Rechtsstaat.“

Der positive Grundtenor in den Besprechungen zu Franzen fünftem Roman überwiegt zumindest hierzulande jedoch deutlich, so auch in Volker Weidermanns Beitrag „Die Diktaturen“ im SPIEGEL vom 29.8.2015: „Jonathan Franzens Unschuld ist eine Art Geschwisterbuch zu Dave Eggers’ Roman Der Circle, doch anders als die kühle, stets um Eindeutigkeit bemühte Versuchsanordnung von Eggers’ Zukunftswelt eröffnet Jonathan Franzen den Kampf gegen den Totalitarismus unserer Zeit mit literarischeren Mitteln. Als Leser schwankt man stets zwischen Verwunderung, Staunen und Widerwillen gegen das Pathos der Eindeutigkeit auf der einen Seite und Bewunderung für die Entschlossenheit, den Mut, mit großem Hallo durch die Türen dieser überraschenden Analogien hindurchzustürmen, auf der anderen. Diese Ambivalenz ist nicht der schlechteste Eindruck, den ein Roman beim Leser hinterlassen kann. Es ist eine literarische Qualität.“

Verfasst von: Thomas Steierer