Affinität zu deutschsprachiger Literatur und persönlicher Bezug zu Deutschland

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Jonathan Franzen hat ein besonderes Faible für deutschsprachige Literatur und einen speziellen persönlichen Bezug zu Deutschland. In sein literarisches Werk fließt diese Affinität mehrfach ein. Im Vorspann zu ihrem Interview mit Franzen schreibt Susanne Beyer im SPIEGEL vom 24.11.2014: „Jonathan Franzen ist zurzeit der bedeutendste US-amerikanische Autor. Er sagt, dass er das der deutschen Literatur verdanke.“ Zu dieser Verbundenheit führt Franzen in derselben Ausgabe des Magazins aus: „Ich war mal Germanistikstudent und durch die Lektüre deutschsprachiger Autoren konnte ich erst zu dem Schriftsteller werden, der ich bin.“ Vor allem beschäftigt sich Franzen bereits in jungen Jahren mit Autoren wie Rainer Maria Rilke, Alfred Döblin, Thomas Mann, Robert Walser, Karl Kraus und Franz Kafka. Letzteren würdigt Franzen in seinem Essay „Über autobiografische Literatur“ (in dem 2004 erschienen Sammelband Weiter Weg folgendermaßen: „Damit meine ich, dass es Kafkas Roman Der Proceß war, vermittelt vom besten Literaturprofessor, den ich je hatte, der mir die Augen für die Großartigkeit dessen, was Literatur vermag, geöffnet und mich dazu gebracht hat, meinerseits Literatur schreiben zu wollen.“

Franzen studiert zeitweise in München, im Jahr 1980, und in Berlin zwei Jahre später, 1982, im Rahmen eines Fulbright-Stipendiums. Auf seine Studienzeit in Berlin blickt Franzen im oben erwähnten SPIEGEL-Interview im Gegensatz zu München, wo er sich eher einsam fühlt und ihm die Trachtenbeschaulichkeit der Stadt eher unbehaglich ist, so zurück: „Berlin war okay. Es war die große Zeit der Punk-Ästhetik, von der ich mich angezogen fühlte. Und Berlin war amerikanischen Städten viel ähnlicher als München. München war wie Disneyland, die Hauser in Berlin aber befanden sich in einem schlechten Zustand, es gab diese leeren Flächen, ein bisschen wie im südlichen Chicago. Ich habe mich von der dunklen Seite Chicagos immer angezogen gefühlt, eben weil es so anders war als mein Zuhause, dieser Vorort von St. Louis. Ich dachte auch, es sei in Ordnung, an einem so sonderbaren Ort wie Berlin so sonderbar zu sein, wie ich es war.“

Im Rahmen von Das Kraus Projekt (erschienen 2013, auf Deutsch 2014) übersetzt Franzen mit Hilfe seines Schriftstellerfreunds Daniel Kehlmann und des Kraus-Experten Paul Reitter zwei ihm besonders wichtige Aufsätze des Autors und Verlegers der Literaturzeitschrift Die Fackel: „Heine und die Folgen“ sowie „Nestroy und die Nachwelt“. Auf Kraus ist Franzen im Studium in Berlin gestoßen und verbindet in ausführlichen Fußnoten eine Hommage an sein Idol mit autobiografischen Erinnerungen. Zum unerbittlichen Kritiker Kraus hat Franzen ein ambivalentes Verhältnis, wie er im Interview mit der ZEIT vom 11.12.2014 erwähnt: „Ich habe so viele Texte geschrieben, die keine Romane sind, dass ich voll in seinem Visier wäre – ich wäre sicher ein mögliches Ziel. Aber ich habe keine Albtraum-Fantasien, in denen Karl Kraus mich vernichtet. Als junger Mensch fürchtete ich mich zwar vor der Schärfe seines Urteils, aber zugleich fühlte ich mich zu ihm hingezogen wie zu einem viel Stärkeren. Mein Kalkül war: Ich musste ihm nur geistig nahe genug kommen, dann würden die wütenden Pfeile, die er in die Welt schleuderte, mich verfehlen.“

Verfasst von: Thomas Steierer