Möglichst viele Perspektiven

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In Zeiten stetig abnehmender Gewissheiten und immer unübersichtlicherer und rasanterer Veränderungen kann es kaum schaden, die eigene Position zu hinterfragen und zu versuchen, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen. Sowohl bei den Hauptfiguren in seinen Romanen als auch bei den Themen seiner Essays legt Jonathan Franzen größten Wert darauf, die verschiedenen Facetten von Menschen und Sachverhalten von möglichst vielen Seiten zu beleuchten – von innen wie von außen. Differenzierung ist für den Autor von zentraler Bedeutung. Für ihn gehören Widersprüche, Ambivalenzen, Zweifel und besonders Unangenehmes und Erschütterndes dazu, bzw. er begibt sich gezielt thematisch ebendahin, wo es sperrig wird und wehtut.

Jonathan Franzen will die verschiedenen Persönlichkeitsfacetten von Menschen jenseits von Gut und Böse zeigen, wie er im Interview mit der FAZ am 01.10.2021 darlegt: „Auch als Autor möchte ich niemanden für seine Fehler verurteilen. Ich versuche vielmehr, sie zu zeigen und zugleich in den Charakter einzubetten. Im wirklichen Leben ist es ja auch so: Wenn Sie mich am Montag fragen, ob ich ein guter Mensch bin, der gute Dinge tut, sage ich Ja. Fragen Sie mich zwölf Stunden später, sage ich: Nein, ich bin ein schrecklicher Mensch. So sehe ich die Welt, sie ist geprägt vom Zweifel. Und die Aufgabe von Literatur ist es, uns daran zu erinnern. Obwohl wir uns vielleicht als die Guten betrachten, sind wir es vielleicht nicht. Wir haben vielleicht alles falsch gemacht. Diese Unsicherheit birgt ein Abenteuer, eines der grundlegenden Abenteurer der Literatur“.

Die Hauptfiguren in Jonathan Franzens Romanen reflektieren ihr Verhältnis und ihre Haltung gegenüber Ihren engsten Familienmitgliedern und Bezugspersonen, man erfährt viel über zwischenmenschliche Verhältnisse. Dadurch entsteht ein besonders vielschichtiges Bild der Charaktere. Michael Maar stellt in der Süddeutschen Zeitung vom 17.9.2022 in seinem Beitrag „Der Kontrakt des Dichters“ dazu fest: „Franzen gibt uns keine Karikaturen, er gibt uns Vollplastiken. Man kann um die Figur herumgehen und findet immer neue Risse, Scharten und Seelenfältelungen. Enids und Alfreds Sohn Gary befindet sich in Die Korrekturen in einem besonderen Dilemma, als er im Keller das Gewehr seines Vaters findet: „Gary ging in die Werkstatt, da entdeckte er etwas, das ihn beinahe aus dem Gleis warf. Eine Schrotflinte in einer Segeltuchhülle lehnte am Labortisch … Eigentlich gehörte die Schrotflinte in den Geräteschuppen. Dass sie nun woanders war, machte Gary wahrlich zu schaffen. Soll ich zulassen, dass er sich erschießt? … Und dennoch, so fürchterlich der Schlamassel auch wäre – die Lebensqualität seiner Mutter würde daraufhin einen Quantensprung nach oben machen.“

Franzens Figuren stehen für mit dem Zeitgeist und der Zeitgeschichte verbundene Phänomene und Entwicklungen. Dazu äußert Adam Soboczynski im Artikel „Als die Hippies Gott verloren“ (Die Zeit vom 4.10.2021): „Aus den wechselnden Perspektiven der Familienmitglieder entfalten sich nicht nur die allzu typischen Familiendramen (mit erstem Sex, ersten Drogen, mit erstem Ehebruch und der amerikatypischen Dreieinigkeit von Schuld, Sühne und Rührseligkeit), sondern – wie nebenbei – das Gefühlspanorama einer ganzen Epoche … Hier aber bekommen wir die amerikanische Mentalitätsentwicklung als minutiös entfalteten Romanstoff dargeboten.“

Während die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Figuren in Franzens Romanen der Tiefe und Handlung zugutekommen, sorgen seine kontroversen Positionen in Essays und Interviews etwa im Hinblick auf seine Skepsis gegenüber dem Internet und technologischen Fortschritt sowie sein Plädoyer, den Umweltschutz gegenüber dem Klimaschutz angesichts bereits irreparabler Klimaschäden zu priorisieren, regelmäßig für Shitstorms und mitunter auch negative Reaktionen in den Medien. Felix Stephan fasst dies in der Süddeutschen Zeitung vom 18./19.5.2019 in seinem Beitrag „An der Deadline“ folgendermaßen zusammen: „Die Haltung (unbequeme Positionen öffentlich zu vertreten; Anmerkung Thomas Steierer) ist Jonathan Franzen schon einige Male zum Verhängnis geworden ... Bei verschiedenen Anlässen, etwa als Franzen seine „Zehn Regeln für den Romanautor“ veröffentlichte und dort unter anderem dazu riet, das Internet abzustellen, organisierte sich der Schwarm gegen ihn, machte sexistische Passagen in seinen Romanen ausfindig, verbreitete sie eifrig, stigmatisierte ihn als Millionär und weißen Mann, der sich seiner Privilegien nicht bewusst sei ... Die heftigsten Angriffe hatte Franzen auszustehen, nachdem er im „New Yorker“ einen Essay veröffentlicht hatte, in dem er sich an einer Unterscheidung zwischen Klimaschutz und Umweltschutz versuchte.“

Verfasst von: Thomas Steierer