Erlösung und Versöhnung

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Während ich dieses Dossier schreibe, erscheint am 8.4.2023 die SPIEGEL-Titelgeschichte „Die Kunst des Verzeihens“. Darin wird das im Corona-Kontext bekannte Zitat des damaligen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn zitiert: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“ Der Glaube an das Gute bleibt am Ende von Franzens Romanen trotz des vorher mit allen erzählerischen Mitteln heraufbeschworenen gewaltigen negativen Panoramas mit diversen Widrigkeiten und erheblicher Dysfunktionalität dennoch erhalten durch ein oftmals von Erlösung, Versöhnung und neu gewonnener Zufriedenheit geprägtes Finale. Deshalb kann man die Romane von Jonathan Franzen nach dem Auslesen mit einem mit der Welt und dem eigenen Leben versöhnten Gefühl beiseitelegen. Dazu äußert sich auch Tobias Rüther in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 3.10.2021 in dem Beitrag „Innen ohne außen“: „Franzens Romane handeln alle davon, wie es ist, sich zu Höherem geboren zu fühlen und dann zurückstecken zu müssen, Frieden schließen zu müssen damit, dass sich nicht alle Versprechen einlösen, auch wenn das Gefühl nicht vergeht, dass man Anspruch darauf hat. Die biographiehaften Motive der amerikanischen Geschichte hat Franzen als Romanstoff erkannt und daraus mitreißende Geschichten geformt.“

In Franzens erstem Roman Die 27ste Stadt gibt es wenig Tröstliches. Als halbwegs positiv kann man lediglich die Wendung erachten, dass die Bösewichtin des Romans, Susan Jammu, mit ihren Umsturzplänen in St. Louis, obwohl sie eine Schneise der äußeren und inneren Verwüstung verursacht, letztendlich nicht durchkommt und Selbstmord begeht. In Schweres Beben kommen die Protagonisten von Franzens zweitem Roman, Louis und Renee, am Ende wieder zusammen. Enids großer Wunsch in Die Korrekturen, dass die ganze Familie noch einmal zum Weihnachtsfest mit ihrem sterbenskranken Mann Alfred zusammenkommt, geht in Erfüllung (wenn das Fest auch anders verläuft als erhofft). In der Folge werden Alfred und auch seine Frau durch Alfreds Tod gewissermaßen erlöst: „Und doch, als er gestorben war, als sie ihm ihre Lippen auf die Stirn gedrückt hatte und mit Denise und Gary in die warme Frühlingsnacht hinausging, da spürte sie, dass es nun nichts mehr gab, was ihre Hoffnung zunichtemachen konnte, nichts. Sie war fünfundsiebzig Jahre alt, und sie würde einiges in ihrem Leben ändern.“ Patty und Walter, die in Freiheit in einer problematischen Ménage-à-trois mit Walters Freund Richard Katz über viele Jahre feststecken, versöhnen sich am Ende, das zwischenzeitlich schwierige Verhältnis zu ihren Kindern Joey und Jessica entspannt sich.

Auch in Franzens fünftem Roman Unschuld lösen sich am Ende viele Irritationen und Probleme, die die drei Hauptfiguren über Jahrzehnte mit sich herumschleppen, mehr oder weniger in Wohlgefallen auf. Es gibt eine Aussprache von Pip mit ihrer Mutter Anabel, die einen Teil ihres immensen, vorher geheim gehaltenen Erbes für die Begleichung von Pips Schulden aus dem Studium verwendet. Pip kommt mit Jason zusammen, mit dem sie zu Beginn des Romans ein misslungenes Date hat. Außerdem erfährt Pip im Finale von Unschuld endlich, wer ihr Vater ist: der amerikanische Journalist Tom Aberant. Er findet Erlösung, wenn auch um den größtmöglichen Preis, er bekennt sich zu einem Mord vor Jahrzehnten und begeht anschließend Selbstmord.

In Crossroads findet am Ende eine zwischenzeitlich äußert schwer vorstellbare Versöhnung von Russ und Marion statt. Ihr ältester Sohn Clem ist nun doch nicht als Soldat im Vietnamkrieg und zu Ostern wieder zurück zuhause. Als Cliffhanger für die geplanten weiteren beiden Romane der mit Crossroads begonnenen Trilogie dient die ungeklärte Frage, ob es eine Versöhnung von Russ und Marion mit ihrer Tochter Becky geben wird, unter anderem nach einem Konflikt wegen des Erbes von Becks Tante Shirley. 

In Die Unruhezone – eine Geschichte von mir erzählt Jonathan Franzen von seiner ganz persönlichen Erlösung in seiner christlichen Jugendgruppe, er weiß also, wovon er in Crossroads schreibt, über seinen Traum als Zehntklässler, in den Betreuerrat gewählt zu werden: „doch noch waren zwei Kerzen nicht verteilt, und eine kam nun auf mich zu, und diese Kerze schwebte nicht an mir vorbei, sondern wurde mir in die Hände gesteckt, und als ich nach vorn schritt, um mich zu dem neuen Rat zu stellen und mit ihm zusammen die Gemeinschaft, die uns gewählt hatte, anzulächeln, war das Einzige, woran ich denken konnte, dass ich glücklich war.“

Verfasst von: Thomas Steierer