Zentrale Bedeutung der eigenen Familiengeschichte

Sandra Kegel weist in der FAZ vom 29.08.2015 in ihrem Beitrag „Das Internet ist die DDR“ auf Franzens Abweichung von seiner gewohnten Roman-Familienkonstellation in Unschuld hin: „Immer kam dem Zuhause der Figuren eine besondere Bedeutung zu. Weil die Häuser stets mehr waren als bloß Staffage, vielmehr Ausdruck des vielschichtigen familiären Universums, ein Abbild dessen, wie Menschen sich buchstäblich einrichten in dieser Welt.“ Im sechsten und bislang letzten Roman von Jonathan Franzen, Crossroads, als Auftakt einer Trilogie angekündigt, lebt der Pastor Russ Hildebrandt mit seiner Frau Marion sowie den drei heranwachsenden Kindern Becky, Perry und Judson in einem (fiktiven) Vorort von Chicago, New Prospect. Der älteste Sohn Clem studiert bereits und lebt andernorts. Die gesellschaftlichen Umbrüche Anfang der 1970erJahre machen sich auch in der Familie bemerkbar.

Ob die Spaltung der Gesellschaft in Demokraten und Republikaner während der Bush-Administration nach dem 11. September 2001 in Freiheit, die totale Transparenz von Andreas Wolfs, Wikileaks nachempfundener Enthüllungsplattform in Unschuld oder die Hippiekultur in Crossroads, in der die Kirche an Bedeutung verliert: Allen Romanen Franzens gemeinsam ist, dass die Familie als Diagnosemedium für den jeweiligen Zeitgeist dient.

Beim Lesen seiner Texte kann man den Eindruck gewinnen: Jonathan Franzens eigene Familie beschäftigt ihn sehr, neben seinen beiden älteren Brüdern sind das vor allem seine Eltern. Dies wird in Interviews mit ihm und auch in seinen Essays deutlich, wenn er etwa über die Alzheimer-Erkrankung seines Vaters, den Hausverkauf nach dem Tod der Mutter oder die Kreuzfahrt zum Nordpol mit einem seiner beiden älteren Brüder schreibt. Bei der Schiffsreise erinnert er sich an seinen Onkel, dessen überraschendes Erbe die Kreuzfahrt ermöglicht hat. Auf jeden Fall lässt sich in der Familie eine Quelle für seine Motivation zum Schreiben erkennen. Im SPIEGEL-Interview vom 24.11.2014 geht Franzen darauf ein: „Ich komme aus einer Familie, in der es starke Spannungen gab. Ich war ein Nachzügler, alle mochten mich, ich sah es als meine Aufgabe, die Spannungen auszugleichen. Nur ich war in der Lage, mir beide Seiten anzuhören, nur ich konnte einen Mittelweg finden. Gegensatze wahrzunehmen, zu überbrücken, das ist tief in mir verankert.“

In Crossroads beschreibt Franzen den Wandel des Familienbildes vor dem Hintergrund gesellschaftlich-religiöser Veränderungen in den 1970er-Jahren. Die Transformation der in der Menschheitsgeschichte früh elementaren Konstellation Familie ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten weiter existenziell vorangeschritten, etwa im Hinblick auf „Patchwork“, durch deutlich höhere Scheidungsraten und Abrücken vom klassischen Familienbegriff Vater-Mutter-Kind. Diese Veränderungen kommen bisher im Werk von Jonathan Franzen nicht zentral vor, abgesehen von Unschuld, in dem die Protagonistin Pip ohne Vater aufwächst. Auf diese Entwicklungen könnte Jonathan Franzen möglicherweise in den beiden weiteren Romanen der mit Crossroads im Jahr 2021 begonnenen Trilogie eingehen.

Verfasst von: Thomas Steierer