Einleitung

Im Jahr 2007 werde ich anlässlich der Veröffentlichung des autobiografischen Erzählbands Die Unruhezone – eine Geschichte von mir – auf Jonathan Franzen aufmerksam. Die in meiner Wahrnehmung außergewöhnlich ehrliche und tragikomische Auseinandersetzung mit seinen frühen Jahren spricht mich sofort an. In der Folge besorge ich mir über die Uni-Bibliothek der LMU und die Bayerische Staatsbibliothek Franzens bisherige Romane und Essaysammlungen und lese seitdem Jonathan Franzens Veröffentlichungen. Viele der in den letzten 15 Jahren erschienenen Beitrage über und Interviews mit Jonathan Franzen in deutschsprachigen Medien wie Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Zeit befinden sich in meinem Archiv. 

Jonathan Franzens Romane und Essays zu lesen, empfinde ich als zugleich zermürbend ob der expliziten Darstellungen des in gewisser Hinsicht trostlosen Zustands der Welt sowie menschlicher Abgründen und zugleich als tröstlich aufgrund der zu Optimismus, Liebe und Euphorie Anlass gebenden Aspekte – oftmals gegen Ende der Romane. Franzens Romanfiguren wirken auf mich besonders vielschichtig durch die Herangehensweise, die Hauptfiguren gegenseitig über Ihre unmittelbaren Mitmenschen und Verwandten erzählen und reflektieren und dabei das zeitgeschichtliche größere Ganze anhand von Figuren und der Handlung sichtbar werden zu lassen. Möglichst viele Perspektiven werden auch in Franzens Essays beleuchtet, durch empathisches und selbstkritisches Differenzieren und dabei unerbittliches Ausleuchten von unbequemen Wahrheiten in einer immer komplexer erscheinenden Gegenwart.

Einige besonders beeindruckende Leseerlebnisse in Bezug auf das Werk von Jonathan Franzen sind mir einige Jahre später noch deutlich präsent, nicht zuletzt in Bezug auf die Protagonistinnen und Protagonisten aus den Romanen: Etwa Chip, der mit seinem Drehbuchprojekt auf deprimierendste Art und Weise scheitert, oder sein Bruder Gary mit seinen zermürbenden Eheproblemen sowie dem so erschütternd wie slaptstickhaft geschilderte Verfall ihres Vaters Alfred durch Parkinson und Demenz in den Korrekturen. Die Versöhnung des Ehepaars Patty und Walter am Ende von Freiheit. In Unschuld die Aussprache der Protagonistin Pip mit ihrer klammernden Mutter sowie in Crossroads, als Marion gegen Ende des Romans dämmert, dass sie ihren Russ trotzdem erheblicher Verwerfungen zuvor immer noch liebt und in ihrer Familie am richtigen Ort ist. Auch in Jonathan Franzens zahlreichen Essays gibt es diverse Passagen, die bleiben und inspirieren. 

Als ich im Frühjahr 2023 vom Literaturportal Bayern den Auftrag für ein „Thema“ über Jonathan Franzen erhalte, sichte ich mein Archiv, gehe die gesammelten Medien-Beiträge über Franzen aus den vergangenen 15 Jahren durch und transkribiere Zitate. Vor dem Hintergrund einer per Brainstorming zurechtgelegten Zehn-Kapitel-Struktur lese ich alle Romane und Essayveröffentlichungen Franzens nochmal quer und exzerpiere Stellen. Dann schreibe bzw. kürze ich das Dossier ins Reine: Angesichts der Menge an Informationen und Texten kanalisiert in zehn Kapitel ist mir mehr denn je bewusst, wie umfangreich und vielschichtig das Werk und die Wirkungsgeschichte von Jonathan Franzen mittlerweile sind.

Verfasst von: Thomas Steierer