Alisha
Ambiguitätstoleranz. Ein wichtiges Wort, das mir aber nicht so leicht über die Lippen geht in einer Zeit, in der ich das Gefühl habe: Ich muss mich ganz klar und deutlich positionieren, ich muss immer richtig handeln, damit nicht alles den Bach runtergeht.
Dabei vergesse ich, dass ich zwar viel tun kann, das anderen hilft, aber ich werde nicht immer das richtige tun und oft auch eher schaden als helfen.
Zwei Situationen, in denen ich nicht weiß, ob ich richtig gehandelt habe: Die eine saß weinend mir gegenüber in der U-Bahn, sie weinte, war nach vorne übergebeugt, rotzte, ihre Haare ein schützendes Blätterwerk, das über ihr Gesicht hing. Durch das Haar leuchteten blaue Flecken an ihrem Hals. Sie wirkte auf mich wie ein kleines Mädchen, niemals war sie über zwanzig. Als ich mich neben sie setzte (mit einer anderen Frau gemeinsam) erzählte sie uns, dass ihr Freund sie mit einem anderen Mann zusammen verprügelt hätte, gewürgt und als Schlampe beschimpft hätte. Die Hilflosigkeit, die Unsicherheit, ob man paternalisierend ist, sie zu bitten, zur Polizei zu gehen. Ich speichere die Nummer des Frauenhilfstelefons in ihr Handy, wir bieten an, sie zur Polizei zu begleiten. Sie möchte nicht, sie sagt, eine Freundin holt sie ab und ist überrascht, als wir ihr versichern, dass die Polizei ihr helfen kann. Ganz sicher sind wir uns aber nicht.
Die zweite begegnete mir am Bahnhof, sie stand vor dem ICE, mit dem ich nach München fahren wollte, und rauchte. Ich dachte, wow, was für eine Coolness. Dann drehte sie sich um und ich sah ihr Auge, das von einem dunkelbraunen Fleck umrandet war, der an den Rändern lila wurde. Sie war auf dem Weg zu ihrem Ex-Freund, der ihr genau dieses blaue Auge beschert hatte, sie sagte, Entschuldigung, kann ich dich was fragen: sieht man es doll? Sie habe kein anderes Zuhause, sie vermisse ihn so. Ich versuchte vorsichtig, ihr zu sagen, dass sie Alternativen hatte. Aber ganz sicher war ich mir nicht.
In keiner der beiden Situationen fühlte ich mich fähig, angemessen zu reagieren. Vielleicht auch, weil ich selber weiß, was es heißt, sich in gewaltvollen Dynamiken wiederzufinden, es nicht zu schaffen, die eigenen Grenzen zu setzen, einer Macht, stärker als man selbst, ausgeliefert zu sein.
„Die Frau war draußen auf der Straße sicherer, nackt, mitten in der Nacht. Sicherer als in ihrem eigenen Bett“, schreibt Heidi Furre in ihrem Roman Macht.
Lidija Dimkovska
Bei der Hochzeit bewarfen
die Gäste die Braut mit so viel Konfetti
und Reis, dass man sie von der Kirche
direkt auf die Intensivstation bringen musste.
Die Bitterkeit darüber, nicht immer helfen zu können. Die Bitterkeit beim Schreiben: Wann reproduziere ich, wann interveniere ich? Die Bitterkeit, gewisse tief eingegrabene Angsterfahrungen nicht ausreichend vom Bewusstsein in Text gießen zu können. Die Bitterkeit darüber, dass es für mich als FLINTA* potentiell tödlich sein kann, meine Sexualität, Liebe und Körperlichkeit frei auszuleben.
Weitere Kapitel:
Ambiguitätstoleranz. Ein wichtiges Wort, das mir aber nicht so leicht über die Lippen geht in einer Zeit, in der ich das Gefühl habe: Ich muss mich ganz klar und deutlich positionieren, ich muss immer richtig handeln, damit nicht alles den Bach runtergeht.
Dabei vergesse ich, dass ich zwar viel tun kann, das anderen hilft, aber ich werde nicht immer das richtige tun und oft auch eher schaden als helfen.
Zwei Situationen, in denen ich nicht weiß, ob ich richtig gehandelt habe: Die eine saß weinend mir gegenüber in der U-Bahn, sie weinte, war nach vorne übergebeugt, rotzte, ihre Haare ein schützendes Blätterwerk, das über ihr Gesicht hing. Durch das Haar leuchteten blaue Flecken an ihrem Hals. Sie wirkte auf mich wie ein kleines Mädchen, niemals war sie über zwanzig. Als ich mich neben sie setzte (mit einer anderen Frau gemeinsam) erzählte sie uns, dass ihr Freund sie mit einem anderen Mann zusammen verprügelt hätte, gewürgt und als Schlampe beschimpft hätte. Die Hilflosigkeit, die Unsicherheit, ob man paternalisierend ist, sie zu bitten, zur Polizei zu gehen. Ich speichere die Nummer des Frauenhilfstelefons in ihr Handy, wir bieten an, sie zur Polizei zu begleiten. Sie möchte nicht, sie sagt, eine Freundin holt sie ab und ist überrascht, als wir ihr versichern, dass die Polizei ihr helfen kann. Ganz sicher sind wir uns aber nicht.
Die zweite begegnete mir am Bahnhof, sie stand vor dem ICE, mit dem ich nach München fahren wollte, und rauchte. Ich dachte, wow, was für eine Coolness. Dann drehte sie sich um und ich sah ihr Auge, das von einem dunkelbraunen Fleck umrandet war, der an den Rändern lila wurde. Sie war auf dem Weg zu ihrem Ex-Freund, der ihr genau dieses blaue Auge beschert hatte, sie sagte, Entschuldigung, kann ich dich was fragen: sieht man es doll? Sie habe kein anderes Zuhause, sie vermisse ihn so. Ich versuchte vorsichtig, ihr zu sagen, dass sie Alternativen hatte. Aber ganz sicher war ich mir nicht.
In keiner der beiden Situationen fühlte ich mich fähig, angemessen zu reagieren. Vielleicht auch, weil ich selber weiß, was es heißt, sich in gewaltvollen Dynamiken wiederzufinden, es nicht zu schaffen, die eigenen Grenzen zu setzen, einer Macht, stärker als man selbst, ausgeliefert zu sein.
„Die Frau war draußen auf der Straße sicherer, nackt, mitten in der Nacht. Sicherer als in ihrem eigenen Bett“, schreibt Heidi Furre in ihrem Roman Macht.
Lidija Dimkovska
Bei der Hochzeit bewarfen
die Gäste die Braut mit so viel Konfetti
und Reis, dass man sie von der Kirche
direkt auf die Intensivstation bringen musste.
Die Bitterkeit darüber, nicht immer helfen zu können. Die Bitterkeit beim Schreiben: Wann reproduziere ich, wann interveniere ich? Die Bitterkeit, gewisse tief eingegrabene Angsterfahrungen nicht ausreichend vom Bewusstsein in Text gießen zu können. Die Bitterkeit darüber, dass es für mich als FLINTA* potentiell tödlich sein kann, meine Sexualität, Liebe und Körperlichkeit frei auszuleben.