Alisha

Meine Mutter war überzeugt, dass Bitterstoffe gesund sind. Sie hat uns zu jedem Essen Salat gemacht, dafür hatte sie Zeit, weil sie zumindest für einen Großteil meiner Kindheit vollberuflich Hausfrau und Mutter war. Die Bitterstoffe, für uns Kinder ein Alptraum. Aber die Geschmacksknospen wachsen und gewöhnen sich an das, was ihnen angeboten wird. Irgendwann mögen sie sogar Bier und Zigaretten. Meine Mutter war gerne und liebevoll Mutter, aber ich weiß, dass sie nichts mehr bereut, als keinen eigenen beruflichen Weg eingeschlagen zu haben. Ich frage mich, wie viel bitter meine Mutter selbst geschmeckt hat, bitter, das sie nie mit uns Kindern in Form von Kraut, Rucolablättern, Chicoree und vor allem viel Dill geteilt hat, sondern in sich gären hat lassen.

Tlusty: „Dass ich es als siebzehnjährige als feministischen Akt verstand, Sorgearbeit [meiner Mutter] uncool zu finden und bezahlte Arbeit irgendwie progressiv, illustriert in meinen Augen einen zentralen Irrtum des westlichen Feminismus.“

Für meine Mutter war es auch schön, zu Hause mit den Kindern bleiben zu können, obwohl sie einen Studienabschluss hatte. Als Jugendliche ohne anfängliche Deutschkenntnisse, hatte sie sich durchs deutsche Bildungssystem gekämpft, das ganz anders funktionierte als das in der Sowjetunion, sie hatte nur Familien erlebt, in denen beide Eltern weit von akademischer Bildung entfernt waren, von früh bis spät arbeiten mussten und keine Zeit für die Belange der Kinder hatten.

bell hooks schreibt über ihre Mutter: “Whenever I would speak harshly of my father, my mother would always speak positively, reminding me of how steady a provider he had been. In recent years she has become more critical of his acts of unkindness. And she has grown bitter.“ 
[Immer wenn ich kritisch über meinen Vater sprach, würde meine Mutter positiv über ihn sprechen, mich daran erinnern, was für ein zuverlässiger Ernährer er gewesen ist. In den letzten Jahren ist sie kritischer gegenüber seinen Gemeinheiten geworden. Und bitter.]

Nach fünfzig Jahren Ehe, in denen die Mutter den Vater trotz seiner Tyrannei unterstützt hat, beginnt sie zu hinterfragen, ob sie wirklich selbst daran schuld sei, wenn er ungerecht und brutal zu ihr ist. Die Einsicht, die Realisierung, dass sie sich das nicht hätte gefallen lassen müssen, bringt die bitteren Säfte in Arbeit, das Aufwachen aus dem Selbstbetrug, die Realisierung der Selbstsabotage und die Enttäuschung darüber, dass das Mitspielen und Vorspielen nicht dazu geführt hat, dass wirklich Harmonie eintritt.

Frauengold und andere Bitterliköre hatten seit den 50er-Jahren die Marketingstrategie, Frauen, die frustriert zu Hause waren, überarbeitet, überfordert, von ihrem Ehemann und Chef ungerecht behandelt, ruhig zu stellen, gefügig zu machen, „objektiv zu urteilen“ ergo den Männern in allem zuzustimmen und sich, falls doch einmal gewagt für sich einzutreten, unterwürfig zu entschuldigen oder am besten gleich den Mann verführen, ihm gefügig sein. Bitter als Verdauungsstütze des Patriarchats. Der bittere Geschmack der enthaltenen Kräuter, der viele Zucker, aber natürlich vor allem der Alkohol, halfen effektiv, der Frau die Qualen des Patriarchats verdaulicher zu machen und dabei schön mitzuspielen ohne „hysterisch“, „nervös“, „keifend“ und eben bitter zu werden.

Laut der Alkoholbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2022, wächst heute der Anteil der jungen Frauen, die einen ungesunden Alkoholkonsum haben. Als möglicher Grund wird vom Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie die wachsenden Freiheiten von als Frauen Sozialisierten durch die Emanzipation genannt. Nicht genannt werden die hohen Erwartungen an als Frauen Sozialisierte, Mutterschaft und Karriere unter einen Hut zu bekommen, eine gute Partnerschaft und den Großteil der Haus- und Sorgearbeit zu führen, gegebenenfalls mit anderen Diskriminierungsformen, die die Beziehung und das Leben beeinflusst klarzukommen, die Unterdrückungsmechanismen einfach wegzustecken. Und was ist eigentlich mit all den kinderlosen / beziehungslosen oder in Polybeziehungen oder anderen Gemeinschaften lebenden / joblosen FLINTA*[7]? Fallen sie einfach durch Statistiken? Welche Druckmechanismen wirken auf sie? 

In einer Episode der US-amerikanischen Sitcom Seinfeld[8] sitzt Elaine mit ihrer Freundin (beide in ihren Dreißigern) in einem Café. Die Freundin sagt von sich selber, sie sei bitter, da sie keinen Mann findet, der ihren Ansprüchen genügt. Dann sagt sie: “I wouldn't really mind so much, but I feel badly for my mother, I mean if my mother weren’t around, it wouldn't be so bad. But I'm telling you, if I'm not married by the time I'm fourty I'm gonna have to kill her”. [Mir würde es eigentlich nicht so viel ausmachen, aber ich fühle mich schlecht für meine Mutter, ich meine, wenn meine Mutter nicht da wäre, wäre es nicht so schlimm. Aber ich sag dir, wenn ich, bis ich vierzig bin, nicht verheiratet bin, werde ich sie umbringen müssen.] 

Die Mutter, die einerseits die Erwartungen des Mann-Findens generational weitergibt, obwohl sie selbst vielleicht gar nicht durch ihre Ehe glücklich geworden ist. Die Illusion und Verführung der Romantik, das Versprechen der (heterosexuellen) großen Liebe als Bedingung für ein erfülltes Erwachsenenleben, wird an die Tochter weitergegeben, ohne es zu schaffen, es wirklich auf den Prüfstand zu stellen.

Dabei sind singuläre Frauen im Schnitt glücklicher als Frauen in heterosexuellen Partnerschaften. Sagt die Statistik. Und die Sehnsucht nach der großen, romantischen Liebe bleibt, fließt grundlegend in unseren Venen. 

„Ich weiß nicht wie ich mit meinen zwiespältigen Gefühlen umgehen soll, obwohl ich keine einzige glückliche Ehe kenne. Es ist wie eine Blase auf der Zunge, die man ständig betastet“, schreibt Maria Sveland in Bitterfotze, einem Roman, in dem die Protagonistin alle Häkchen eines erfüllten Lebens machen kann und trotzdem unglücklich und bitter ist, in der Zweierbeziehung, als Mutter, weil sich die Diskriminierung als Frau auch in diesen intimen Sphären immer stärker in ihr Leben drängt.

Dinçer Güçyeter: Obwohl diese Wünsche jeden Tag wie tausend Scherben eines heruntergefallenen Glases auf dem Boden herumlagen, wurde diesen Wünschen nie der Rücken gekehrt.

 

[7] FLINTA steht für Frauen, Lesben, Inter Menschen, Nichtbinäre Menschen, Trans Menschen und Agender Menschen. Die Abkürzung existiert in verschiedenen Varianten. Vgl.: https://queer-lexikon.net/2020/05/30/flint/ 

[8] SEINFELD ist eine US-amerikanische Sitcom, kreiert von Jerry Seinfeld und Larry David, die von 1989 bis 1998 auf NBC lief.

Verfasst von: Alisha Gamisch und Sara Gómez