Sara

Das Klischee, dass sich Frauen mehr, konsequenter und schneller um ihre Körper kümmern und auch umgekehrt: viel mehr Aggressionen an sich selbst ausagieren, beispielsweise beim Ritzen[6]  – es geht noch immer auf. Der Umgang mit dem so genannten „weiblichen Zyklus“ und entsprechenden Hormonen sah in meiner Generation meist so aus: „Geh zur Gynäkologin, wenn du deine Periode bekommst / Sex haben und / oder die Pille verschrieben haben willst“ – aber er findet noch immer kein Pendant im Aufwachsen männlich Sozialisierter. Es heißt nicht: „ab jetzt wächst dir ein Bart / bist du im Stimmbruch, du willst Sex haben und lernen, wie man ein Kondom überstreift – ab jetzt gehst du einmal im Jahr zum Urologen“. Sollte es aber! Und es ist bitter, dass es noch immer anders ist. Ich bin überzeugt: Weniger Männer würden an Krebs und anderen Krankheiten sterben, die, rechtzeitig festgestellt, mittlerweile gut behandelbar sind. Und sie würden weniger oft sexualisierte Gewalt verüben, wenn sie von klein auf lernten, sich mit ihrem Körper und seinen Vorgängen zu beschäftigen, sich darüber mit anderen auszutauschen, eine Sprache und Selbstliebe zu finden – auch und gerade außerhalb von Umkleidekabinen oder Sex/-ualität.

Seit der ersten Lektüre von Judith Butler treibt mich die Frage nach dem Körper um. Die sie veranlasste ihrem Gender Trouble den Körper von Gewicht nachzureichen. Der entscheidende, der vergessene Körper. Der Körper mit den drei Öffnungen. Das im falschen Körper geboren sein. Das von außen Diktierte auf den Körper. Unterschiedliche Erfahrungen in unterschiedlichen Körpern. Die Trennlinie, die von manchen aufgemacht wird anhand der Körper – um auszuschließen, auszugrenzen, auf die zum Anderen gemachten zu deuten. Besonders bitter, wenn der Ausschluss ausgerechnet innerhalb von Gruppen geschieht, die allesamt schmerzvolle Erfahrungen eben innerhalb ihrer Körper gemacht haben (ich denke hier etwa an den Ausschluss von trans*Frauen durch sich selbst radikal nennende Feministinnen).

Und immer wieder kommt er selbst dabei zu kurz. Es wird nur über seinen Kopf hinweg verhandelt, aber einbezogen wird er in den seltensten Fällen. Auch weil er sich selbst immer wieder entzieht bzw. weit über sich hinaus verweist. „I began to consider that perhaps this resistance to fixing the subject was essential to the matter at hand“ [Ich begann darüber nachzudenken, dass dieser Widerstand gegen die Festlegung des Themas vielleicht ein wesentlicher Bestandteil des Themas war], konstatiert denn auch Butler im Vorwort zu Bodies that matter.

Rezepte, um den Körper (von Bitterstoffen) zu befreien? „Hunderte Heilkräuter kommen in den Büchern Hildegard von Bingens vor, darunter auch zwei ihrer Lieblingsgewürze: Bertram und Galgant. Beide kamen nahezu täglich auf den Tisch, Bertram wegen seiner positiven Wirkung auf die Verdauung, Galgant wegen seiner durchblutungsfördernden Funktion und seiner Hilfe bei Magenleiden und Verstopfung.“ Ich bin grundsätzlich skeptisch, wenn es darum geht, sich für sein Leben ausgerechnet am Mittelalter zu orientieren, aber „Hildegard war für viele Menschen schon zu Lebzeiten eine Heilige – auch aufgrund ihrer medizinischen Kenntnisse. 2012 wurde sie von der katholischen Kirche offiziell in den Heiligenkalender aufgenommen.“ Ihr Glück, dass sie nicht nur als eine der ganz wenigen Frauen ihrer Zeit in Mitteleuropa schreiben konnte und Pergament besaß, sondern auch ein paar hundert Jahre vor Veröffentlichung des Hexenhammers lebte – andernfalls wäre sie anstatt zur Heiligen zur Hexe gekürt und wie die über 50.000 europäischen Frauen von der Kirche ermordet anstatt verehrt worden. Und als Sahnehäubchen patriarchaler Deformierung durch Kirchen: Es würde sich auch niemand mehr an sie erinnern. So aber: „Ihr Schaffen ist dennoch als wichtige Leistung zu betrachten, gibt es doch einen umfassenden Eindruck der damaligen Kräutermedizin. In ihrem Hauptwerk, der Physica, beschreibt sie neben lustfördernden auch abortiv-wirksame Rezepte. Nicht verwunderlich, denn das Zölibat wurde erst 1139 von Papst Innozenz dem 2. aufgestellt.“ Eine Heilige, die wusste und benannte, wie Frauen, insbesondere Nonnen, abtreiben können – Halleluja!

Der Körper als Tempel des Geistes, eine beliebte Metapher, nicht nur unter Esoteriker*innen. „Dem Apollontempel von Delphi wurde täglich eine nasse, ängstliche Ziege geopfert. Die einzige Frau, die ihn betreten durfte, war … die weissagende Phytia … Ob die Orakelsprüche durch ständig anwesende Mittler interpretiert werden mussten, bleibt umstritten. Als sicher gilt aber, dass ein Großteil der überlieferten Weissagungen fiktionale Texte sind, welche wiederum große Werke früher Dichtkunst hervorgebracht haben. Das Orakel ist zu Literatur geworden.“ Mir gefällt, wie hier in der 2023 neu gegründeten Literaturzeitschrift DELFI die Verbindung von Politik und Kunst, von Körper und Literatur aufgezeigt wird. Was Feminist*innen mühsam ins Tageslicht zurückziehen mussten: Dass das, scheinbar, Private (insbesondere der Körper) politisch ist – auch oder gerade, wenn er zum Objekt Herrschender gemacht wird.

Nach Hildegard von Bingen wird bis heute Bitterstern hergestellt. Gut für (übersäuerten) Magen und Darm. Es gilt: Bitter ist gesund.

Das bitterste Ereignis, das meine Existenz prägt bzw. überhaupt erst möglich machte, hat sich knapp zehn Jahre vor meiner Geburt ereignet. Salvador Allende ist in Chile als weltweit erster und einziger sozialistischer Präsident eines marxistisch-sozialistischen Parteienbundes, der Unidad Popular, auf demokratische Art und Weise gewählt worden. 1973 jedoch boykottieren rechte Kräfte, unterstützt von den USA, insbesondere die Lkw-Fahrer, sein sozialistisches Projekt auf derart massive Weise, dass es überall in dem über 5000 Kilometer langen Land zu verheerenden Versorgungsengpässen kommt. Das dadurch provozierte Chaos, das genauso intendiert ist, ist Grundlage für den Militärputsch, der am 11. September nicht zuletzt Allende selbst das Leben kosten wird. In den Wirren der Vormonate bekommt mein Großvater, der als Schatzmeister einen wichtigen Posten bei den Sozialisten innehat und zu der Zeit fernab von der Metropolregion im Norden Chiles stationiert ist, kein Insulin für seinen Diabetes mehr.

Sein Sohn, mein Vater, ist lange vor Allendes Wahl, noch nicht mal ganz volljährig, nach Europa immigriert, zum Studieren und um der Enge eines Aufwachsens zu entfliehen, das durch die toxische Beziehungsdynamik seiner Eltern Grundpfeiler eines melancholischen Gemüts in ihm legen sollte.

Der Versorgungsengpass endet tödlich. Mein Großvater stirbt letztlich wegen dieser Lappalie: weil ein paar Lkw-Fahrer lieber für die fünf Dollar täglich streikten, die ihnen die USA gaben, anstatt die eigene Bevölkerung zu versorgen. Mein Vater und sein Vater konnten sich nicht mehr sehen, nicht mehr versöhnen, sie konnten sich nicht verabschieden. So begräbt 1973 nicht nur all die sozialistische Hoffnung, die mein Vater teilte, sondern auch meinen Großvater, den ich nie kennenlernen würde. 

Viele Jahrzehnte später versuche ich, die viel öfter mit meinem Vater ein Gespräch über diesen, seinen Schmerz sucht als er selbst, ein Gedicht darüber zu schreiben. Es kratzt an den vielen Fragmenten, kann sie aber nicht durchdringen. An einer Stelle heißt es:

du stehst im Türrahmen, 
schon seit Jahrzehnten
hast du diesen Platz eingenommen.
in dieser Übung, die dir
in Fleisch und Blut überging:
die Übung zum Schutze deines Körpers, 
der dir doch immer am wenigsten bedeutet hat. 

du hattest allem entsagt:
den Hunden, den Flöten, den Meeren. 
du hast sie alle über Bord geworfen
auf dieser langen Überfahrt, 
die letzte, 
die du mit voller Brust nahmst.

Ich wollte den Schmerz untersuchen, die bittere Tatsache, dass ein junger Mensch versucht, soviel Abstand wie möglich (14.000 Kilometer!) zwischen sich und die Seinen zu bringen, auf der Suche nach dem „Deutschland der Dichter und Denker“ und was er findet, ist Angebelltwerden, er findet „Recht und Ordnung“, Einsamkeit, Orientierungslosigkeit und Freund*innen fast ausschließlich in Form anderer lateinamerikanischer Immigrant*innen. Er verliert die Chance, Frieden mit seinem Vater zu schließen, der die Familie „verlassen“ hatte im Sinne von: an anderer Stelle mit einer Frau eine andere Beziehung einzugehen. Etwas, was mein Vater auf sehr ähnliche Art und Weise wiederholen wird. 

Es beißen einen diese transgenerationalen Traumata, die sich vererben. Es beißen einen die bitteren Pillen, die von Generation zu Generation weitergereicht werden, obwohl, und manchmal gerade weil, man es anders als die Eltern machen wollte. 

Ob diese bittere Fügung hauptverantwortlich dafür ist, dass mein Vater und ich eine mittelgradige bis leichte Depression haben, die er mit Tomaten behandelt und ich mit Venlafaxin? Während er auf die antioxidative und blutdrucksenkende Wirkung des Nachtschattengewächses schwört, werfe ich den Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer täglich ein, die im sprichwörtlichen Sinne bittere Pille.

 

[6] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/146258/Ritzen-bei-jungen-Maedchen-ist-epidemisches-Problem 

Verfasst von: Alisha Gamisch und Sara Gómez