Sara

Ich finde Aufzeichnungen aus den schlaflosen Jahren 2015/2016. Ich lese: „Dass ich mich so vielem schuldig gefühlt habe. Dem Schreiben, das klappen musste, der Beziehung, die klappen musste. Den Jobs, die immer nur an zweiter Stelle – hinter den anderen beiden – stehen durften. Heute in der Arbeit mit der großen Müdigkeit und dem plötzlichen Auffinden eines Ohropaxes, das noch immer in einer meiner Ohrmuscheln steckte, ohne dass ich es gemerkt hatte – die um sich schlingende [sic!] Angst, dass ich eben nicht normal bin, dass ich krank bin, dass ich gar nicht in der Lage sein werde, einem normalen Job nachzugehen und ergo auf immer dazu verdammt bin, in diesem prekären Zustand zu verharren.“

Das Ohropax war dort hängen geblieben wie ein zum Sinnbild gewordenes Zeichen meiner Schlafstörung. Die weiche Materialisierung angenommenen Schwachsinns. Das Schreiben vom Vater, die Schlaflosigkeit von der Mutter. 

Von Still-Hirnen wissen wir. Von umnachteten Hirnen weniger.

Wir wünschen uns süße Träume, dulce sueños. Auf Deutsch sollen wir uns außerdem „schön“ schlafen, auf Spanisch von Engeln träumen. Ohne Schlaf allerdings keine Träume. Mit Goya gebiert der Schlaf Ungeheuer. Ungeheuer wären mir lieber als das schlaflose Wälzen von links nach rechts und wieder zurück, bis die Ohrmuscheln brennen und die neuronalen Bahnen weichgekocht sind, von all jenem, das sich um diese einsame Uhrzeit besonders gut denken und fürchten lässt.

Meine ersten echten Schlaf- (und nicht Traum-)Probleme gingen mit Mitte Zwanzig los. Die Plagegeister, die mich heimsuchten, fragten, wie ich meine Existenz finanzieren wollte. Mit meinem Kulturwissenschaftsstudium mit Schwerpunkt Schreiben. Mit einem soon-to-be-in-Germany-boyfriend von Übersee. Mit Eltern, die sich noch nie um Renten, geschweige denn Einlagen gekümmert hatten. Kurz gesagt: Der Kapitalismus und dessen innewohnende Marktlogik haben mich um den Schlaf gebracht. 
Wer nicht schläft, lebt ungesund, so der Volksmund. Ich schmiere ihm Honig ums Maul – er soll mir gefälligst ein besseres Gesundheitszeugnis ausstellen. Wer nicht schläft, bekommt schlechtere Haut und nimmt zu; der leidet verstärkt unter Herz-Kreislaufproblemen und von da aus zu einer schnelleren Sterblichkeit ist es nicht weit. Eins jedenfalls ist mir bei meiner über die letzten zwei Jahrzehnte am eigenen Leib vollzogenen Recherche bitterlich klargeworden: Der Fehler liegt eigentlich immer bei mir bzw. er liegt in mir.

Im Unterschied zur Generation meiner Eltern, die die verstörenden Bilder von Einer flog übers Kuckucksnest im Kopf haben, wenn sie an Psychopharmaka denken, bekämpfe ich das ein oder andere durchaus mit Tabletten. Mein erstes Mal mit Tavor ist ein wolkiges Glücksgefühl – schlafen kann ich trotzdem nicht, aber das ist mir mit zwei Tavor intus völlig egal. Geschmack süß bis nichts, ganz ähnlich homöopathischen Globoli, die man auch nicht lutschen, sondern zergehen lassen soll.

„Das ist keine Substanz, die dein klar strukturiertes Denken beeinflusst. Du bist komplett Herr [sic!] deiner Sinne, aber hast eben das Gefühl, in Watte gelegt worden zu sein.“[5] Schaut man sich in der heutigen Popkultur um, scheint das Feiern der Pillenschachtel auf dem Vormarsch zu sein. Unsicherheit im Antlitz von Pandemie, Kriegen, Inflation, Hass auf den sozialen Medien, der sich auch in der analogen Welt immer deutlicher manifestiert, all dies lässt sich mit Benzodiazepinen im angenehm gedämpften Licht aus der Ferne betrachten. Ästhetisierend. „Benzodiazepine und synthetische Opioide sind die Drogen der Stunde“ (laut.de Okt. 2020).

Ein Freund von mir hatte mit einem massiven Entzug zu kämpfen, nachdem ihm ein Allgemeinarzt – himmelschreiend naiv – Tavor gegen seine Schmerzen nach einer Operation verschrieben hatte. Erst hilfreich, aber dann: Kein Schlaf ohne Tavor mehr. „Die Dinger machen fast so schnell süchtig wie Heroin“, sagt meine Osteopathin. Ich verrate ihr nicht, dass ich die Glückspillen auch manchmal nutze. Allerdings nur noch, wenn ich fliege und das Hirn anfängt zu rasen, weil der Traum vom Fliegen meiner Meinung nach immer noch so unglaublich ist wie zu Ikarus‘ Zeiten und dieser Blechvogel unmöglich abheben, geschweige denn jemanden sicher ans Ziel bringen kann. Also wird die Watte eingeworfen, um die Angst dadurch zu versüßen – was grotesk ist: Dem Hirn auf diese Art ein Schnäppchen zu schlagen, es bewusst in die Irre zu führen. Der existenziellen Angst einen flauschigen Kokon aus Zuckerwatte zu verpassen. Fast macht Fliegen mir nun Spaß, wenn ich im Vorfeld mit sabbernden Lefzen an die süße Pille denke, die ich nehmen werde. 

Auch heute noch ist der Schlaf ein zartes Gewebe, das sich leicht lüften lässt und mich dann bis auf die Knochen entblößt – mein darunterliegendes Gestell aus Fragen, Ängsten und Zweifeln preisgibt. Seit eine grundsätzliche Beruhigung in mein Leben getreten ist, hat sich nach und nach etwas verschoben, der Schlaf ist verlässlicher geworden, er ist zu mir zurückgekehrt – seit es gewisse Konstanten gibt (ich wechsle nicht mehr jedes Jahr den Wohnort, geschweige denn die Beziehung). Aber er ist ein scheues Tier geblieben, um das ich mich langfristig bemühen muss – da ist es mit einmal Gießen nicht getan. Es spürt sofort, wenn sich auf den tieferliegenden Erdplatten eine Verschiebung andeutet. Beim kleinsten Ruckeln hebt es den Kopf und nimmt Witterung auf. Nichts bleibt meinem Schlaf verborgen. 

 

[5] https://www.deutschlandfunkkultur.de/neue-jugenddroge-benzodiazepin-das-gefuehl-in-watte-zu-100.html 

Verfasst von: Alisha Gamisch und Sara Gómez