Zwölf
Als ich auf dem Schrottplatz ankam, stand, so wie ich es vermutet hatte, Dedunzevs Viktoria-Moped nicht mehr da. Statt als erstes das Gewehr an seinen Platz zurückzulegen, stieg in den Setra-Bus, setzte mich ans Lenkrad und brachte die Scheibenwischer in Gang.
Ich steuerte den schweren Bus mit Vollgas nach La Baule, doch nicht etwa schweigend, sondern ich sang dabei Évariste-Matthieus Lieblingslied. Ich sang es auf meine Weise. Ich sang es so, dass mein Gesang die mir unaussprechbaren französischen Wörter nicht nur verhunzte, sondern für immer ruinierte. Kein Franzose würde sie mehr aussprechen können, ohne schwerste Schäden an Zunge und Zähnen zu riskieren. Für die Wörter Ce soir comme chaque soir moi je réveille mes rêves würde man Fremdwörter importieren müssen, meinetwegen aus dem Altassyrischen, um das Gemeinte auszudrücken. Genauso machte ich es mit den Tönen der Melodie. Ich sang so falsch, dass es mir selber in den Ohren wehtat und in der Hoffnung, die Klänge, die ich da misshandelte, für alle Zeit für musikalische Zwecke unbrauchbar zu machen – zumindest in La Baule und Umgebung. Zumindest im Mund von Évariste Matthieu, wenn er sie Gari vorsang. Ich war nicht sicher, ob es mir gelang.
Ich steuerte den Bus in die heraufziehende Dämmerung, in das immer schmalere Land zwischen den Scheibenwischern, das sich unweigerlich zu einem Tunnel verengte. Irgendwann versuchte ich flüsternd, den französischen Wörtern wieder ihre korrekte Form zu lassen, so gut ich das konnte. Ich fuhr ja gar nicht wirklich nach La Baule, sondern im Kreis durch die Nacht in der Schrottburg.
Ich schaltete die Scheibenwischer aus, die ohne genügend Wasserzufuhr knarzend über das Glas der Windschutzscheibe ächzten und ließ mein Flüstern, das nur noch ein Summen war, vollends verstummen. La Baule lag geschützt in einer Bucht, aber dennoch am riesigen Atlantik mit seinen mächtigen Gezeiten. Gari könnte beim Baden ertrinken. Dann würde sie tot sein und zwar auf noch sehr viel heftigere Weise als Hella, tot mit dem Gewicht einer fast schon erwachsenen Frau, mit der mein noch so unerfahrenes Begehren so unheilvoll kollidiert war. Aber vielleicht verziehen die Toten leichter als die Lebenden, besonders geschlechtliche Verfehlungen, weil sie nicht mehr an das Geschlecht gebunden wären. Vielleicht war gerade das Geschlechtliche die unüberwindliche Schranke zwischen den Körpern von Männern und Frauen; vielleicht noch unüberwindlicher als die Schranke zwischen den Lebenden und den Toten.
Ich kletterte aus dem Bus, um das Gewehr endlich an seinen Platz zurückzubringen. Doch im Arsenal zögerte ich vor den Stahlregalen hinter dem Eisengitter. Statt das Luftgewehr unter dem Öltuch neben der anderen Waffe zu verstecken, versorgte ich mich mit neuer Munition. Und ich ruckelte abermals aus dem angebrochenen Stapel amerikanischer Magazine das oberste Exemplar hervor. Mit Heft und Gewehr kehrte ich zum Bus zurück. Das aufgeschlagene Magazin befestigte ich mit zwei Nägeln an dem mittleren der Reifenstapel, die den Grillplatz einfassten, und postierte mich als Schütze in einer, wie ich fand, fairen Entfernung.
Die Dämmerung war schon zu weit fortgeschritten. Aus diesem Abstand waren die nackten Körper auf dem blinkenden Glanzpapier nicht deutlich genug zu erkennen. Doch Präzision war mir wichtig.
Im Steinkreis war genügend brennbares Material aufgeschichtet: das Holz havarierter Paletten, Trümmer von Dielen und Dachlatten, Obstkisten aus Pappe. Ich suchte zum Anfachen Reisig und ein paar dürre Äste zusammen und setzte das Ganze mit Streichholz in Brand.
Das Feuer im Steinkreis erwies sich als für meine Zwecke zu weit entfernt, das sah ich, noch ehe es den gesamten aufgeschichteten Stoß voll erfasst hatte. Das Kleinholz, das sich noch ohne Verbrennungsgefahr transportieren ließ, verfrachtete ich kurzerhand auf den Grill in der Autoreifenpergola, um dort ein zweites Feuer anzuzünden. Dessen Schein genügte.
Ich zielte den Akteuren auf Kopf und Geschlecht. Meine Trefferquote war hoch und stieg mit der Übung. Als das Magazin leer war, lud ich nach. Doch es fehlte den Schüssen der überzeugende Knall und die zerfetzende Wirkung einer richtigen Feuerwaffe. Dennoch schoss ich immer weiter, aber jetzt nicht mehr auf die Körper selbst, sondern auf die Schatten, von denen sie im Spiel der Flammen umflackert waren und die mir soviel lebendiger vorkamen als diese bei aller Hitze ihres Fleisches doch erfrorenen Phantome. Da gewahrte ich plötzlich überdeutlich meinen eigenen Schatten. Das hinter meinem Rücken hoch auflodernden Feuer ließ ihn über den Boden und die Reifenwände tanzen. Ich nahm ihn sorgfältig ins Visier und schoss.
Ich spürte, wie mein Körper sacht unter dem Aufprall der Kugel vibrierte. Ich feuerte weiter, und zum Vibrieren trat ein Ziepen hinzu. Eigentlich musste mein Schatten längst reglos am Boden liegen. Da sackte er tatsächlich kraftlos in sich zusammen und lag einen kurzen Moment lang da wie tot. Aber allzu fest im Bann meiner eigenen Rastlosigkeit stand er prompt wieder auf und flackerte weiter als nervöse Zielscheibe vor mir her. Er stand still, als mein Körper stillstand. Ich ließ das leergeschossene Luftgewehr sinken und wollte mich abwenden. Da geschah, und zwar ohne jede Absicht meinerseits, etwas noch sehr viel Heftigeres. Das Feuer im Steinkreis schleuderte meinen Schatten in das Feuer auf dem Grillplatz, direkt in die Flammen. In diesen Flammen, so war mein Eindruck, konnte er sich nicht mehr bewegen. Er verbrannte darin. Es roch wirklich verbrannt, als der Schatten meines Körpers dort auf dem Grill lag. Es stank nach dem Schatten eines verwirrten Gymnasiasten, der in den Flammen schmorte, die aus morschen Kanthölzern und welken Fichtenästen schlugen.
Ich wollte es nicht hören und als ich es hörte, sofort wieder vergessen: der Schatten stöhnte im Feuer. Er stöhnte in höchster Erregung, ob aus Schmerz oder aus Lust, das war nicht zu unterscheiden. Anders als Holz und Pappe würde er nicht zu Asche zerfallen. Er würde vielleicht noch weiter stöhnen, wenn das Feuer längst erloschen war.
So, als könne diese Geste seine Qual besänftigen oder seine Lust zum Höhepunkt führen, löste ich die Blätter des Magazins aus ihrer Heftung und schob eines nach dem anderen unter den Rost des Grills in einem improvisierten, aber nicht minder wirksamen Autodafé. Heller Rauch entstieg ihrer Verbrennung und ein herber Plastikgeruch überlagerte alles, was bereits schwer in der Luft hing. Dann, noch mitten im Zerreißen und Zerknüllen der Seiten, sah ich hinter dem Setra-Bus den tanzenden Lichtkegel der Taschenlampe.
Offenbar hatte ich das Knattern seines Mopeds überhört oder aber Dedunzev hatte sich bewusst zu Fuß genähert, um den Eindringling zu stellen, der zu später Stunde auf der Schrottburg Feuer entfachte. Mit ungewohnt raschen Schritten, ohne jedes Schwanken, kam er auf mich zu und leuchtete mir, obwohl es durch die beiden Feuer um uns taghell war, mit seiner Taschenlampe ins Gesicht.
„Thrasolt? Wer hat dir erlaubt...“
Vielleicht war es die Überraschung, die ihn dazu brachte, mich zum ersten mal mit meinem Familiennamen anzureden. Sein Blick schweifte von meinem Gesicht auf die Umgebung. Jetzt entdeckte er das Luftgewehr am Boden und unter dem Rost des Grills die zerknüllten Blätter des Magazins, die gerade die Glut erfasste. Halb ungläubig stocherte er in ihr herum, bevor er mich am Kragen packte. Das hatte er noch nie getan. Ich riss mich los und machte drei Schritte zurück.
„Hiergeblieben, Ansgar!“
Er hatte das Luftgewehr vom Boden aufgenommen und fuchtelte mit dem Kolben vor meiner Brust. Ich drehte mich zu ihm um, bereit, ihm eine Erklärung zu geben. Aber etwas stand zwischen uns, so blank wie das Stopfei im Spiegel des Dachzimmers und so unübersetzbar in irgendeine Sprache wie das Stöhnen des brennenden Schattens im Feuer.
Dieses Stöhnen war längst verklungen, aber das dadurch hervorgerufene ungläubige Staunen war nicht aus mir gewichen. Die Stille, in der es sich immer noch ausbreitete, verbat sich die Störung durch meine Stimme und blieb auf eine merkwürdige Weise durch Dedunzevs Verhörversuche unversehrt. Ich selbst fühlte mich keineswegs aller Verständigungsmöglichkeiten beraubt. Ich hatte inzwischen dazugelernt. Ich kannte die schönen Gesten für ‚Guten Morgen‘ und ‚Guten Abend‘, für ‚Alles Gute‘, für ‚Dankeschön‘ und für ‚Entschuldigung‘ und insbesondere diejenigen für Geben und Nehmen. Mit deren Hilfe versuchte ich es ihm zu erklären.
Dedunzev schaute auf meine sprechenden Hände, als zweifelte er zunächst an der Identität des verschüchterten, beim Diebstahl ertappten Pennälers, den er vor sich zu haben glaubte, und dann an dessen Verstand. Nach einer Weile vergeblichen Redens, während der mir immer neue Elemente der Gebärdensprache einfielen, die ich konzentriert und sorgsam vorführte, nahm er, zunehmend erbost über das Ausbleiben einer Antwort in der Form, die ihm vertraut war, seine Zuflucht zu Geschrei.
Vielleicht war es gar nicht der Zorn, der dabei seine Züge so verjüngt und gestrafft aussehen ließen, sondern die Sorge des Geschäftsmanns um seinen Umsatz. Die auffallend schmal gewordenen Augen blickten mit der Schärfe des Argwohns in meine hinein. Eine untergründige Macht, vielleicht der Druck der Erregung, hatte die sie umgebenden Falten und Krähenfüße geglättet. Wenn sie nicht gerade zum Brüllen geöffnet waren, pressten die Lippen sich zu einem in der Mitte fadendünn gefurchten Balken zusammen. Die Arme gestikulierten entweder drohend in meine Richtung oder blieben entschlossen in die Hüften gestemmt. Meine Unfähigkeit zu sprechen hielt er offenbar für die Verstocktheit des Schuldbewussten, der kein Geständnis ablegen, sondern seinerseits eines einfordern will.
Aber ich empfand keinerlei Neugier auf das private oder geschäftliche Leben, das Dedunzev hinter der Maske des Alkoholikers tatsächlich führte. Es ging mich nichts an, da für die Verhandlung mit seiner eigentlichen Kundschaft sicherlich kein Dolmetscher nötig war. Vielleicht war es gerade diese Losgelöstheit, die ihn irgendwann, für mich unvermittelt, mit dem Kolben des Luftgewehrs zustoßen ließ. Unter der Wucht des Hiebes taumelte ich gegen den Reifenstapel hinter mir, klammerte mich haltsuchend an den nächsten greifbaren Gummiwulst und brachte, als ich dennoch stürzte, erst den mittleren und dann auch die beiden seitlichen Reifenstapel zum Umkippen.
Ich lag auf dem Rücken. Unter dem Gewicht von soviel Blech und Gummi fiel das Atmen mir schwer. Bewegen konnte ich mich nur minimal. Der Widerschein der Flammen im Steinkreis drang durch die Ritzen und Fugen des Reifenhügels. Dedunzev machte keinerlei Anstalten, mich daraus zu befreien. Plötzlich war in der Ferne Gekrächz zu hören. Aufgescheuchte Krähen stießen es in der noch warmen Nachtluft aus. Gerne hätte ich ihm Antwort gegeben in der mir unbekannten Gebärdensprache dieser düsteren Vögel, die zuallererst nach meinen Augen picken würden, wenn mein Leichnam je in ihre Reichweite geriete. Eingeklemmt wie sie waren, ließen Kopf und Arme die dafür notwendigen Bewegungen nicht zu. Also versuchte ich es irgendwann dann doch mit der Stimme. Das, was sie unter großer Anstrengung artikulierte, klang wie das glucksende Lachen aus dem Mund, zu dem im Dachzimmerspiegel mein Nabel geworden war.
Weitere Kapitel:
Als ich auf dem Schrottplatz ankam, stand, so wie ich es vermutet hatte, Dedunzevs Viktoria-Moped nicht mehr da. Statt als erstes das Gewehr an seinen Platz zurückzulegen, stieg in den Setra-Bus, setzte mich ans Lenkrad und brachte die Scheibenwischer in Gang.
Ich steuerte den schweren Bus mit Vollgas nach La Baule, doch nicht etwa schweigend, sondern ich sang dabei Évariste-Matthieus Lieblingslied. Ich sang es auf meine Weise. Ich sang es so, dass mein Gesang die mir unaussprechbaren französischen Wörter nicht nur verhunzte, sondern für immer ruinierte. Kein Franzose würde sie mehr aussprechen können, ohne schwerste Schäden an Zunge und Zähnen zu riskieren. Für die Wörter Ce soir comme chaque soir moi je réveille mes rêves würde man Fremdwörter importieren müssen, meinetwegen aus dem Altassyrischen, um das Gemeinte auszudrücken. Genauso machte ich es mit den Tönen der Melodie. Ich sang so falsch, dass es mir selber in den Ohren wehtat und in der Hoffnung, die Klänge, die ich da misshandelte, für alle Zeit für musikalische Zwecke unbrauchbar zu machen – zumindest in La Baule und Umgebung. Zumindest im Mund von Évariste Matthieu, wenn er sie Gari vorsang. Ich war nicht sicher, ob es mir gelang.
Ich steuerte den Bus in die heraufziehende Dämmerung, in das immer schmalere Land zwischen den Scheibenwischern, das sich unweigerlich zu einem Tunnel verengte. Irgendwann versuchte ich flüsternd, den französischen Wörtern wieder ihre korrekte Form zu lassen, so gut ich das konnte. Ich fuhr ja gar nicht wirklich nach La Baule, sondern im Kreis durch die Nacht in der Schrottburg.
Ich schaltete die Scheibenwischer aus, die ohne genügend Wasserzufuhr knarzend über das Glas der Windschutzscheibe ächzten und ließ mein Flüstern, das nur noch ein Summen war, vollends verstummen. La Baule lag geschützt in einer Bucht, aber dennoch am riesigen Atlantik mit seinen mächtigen Gezeiten. Gari könnte beim Baden ertrinken. Dann würde sie tot sein und zwar auf noch sehr viel heftigere Weise als Hella, tot mit dem Gewicht einer fast schon erwachsenen Frau, mit der mein noch so unerfahrenes Begehren so unheilvoll kollidiert war. Aber vielleicht verziehen die Toten leichter als die Lebenden, besonders geschlechtliche Verfehlungen, weil sie nicht mehr an das Geschlecht gebunden wären. Vielleicht war gerade das Geschlechtliche die unüberwindliche Schranke zwischen den Körpern von Männern und Frauen; vielleicht noch unüberwindlicher als die Schranke zwischen den Lebenden und den Toten.
Ich kletterte aus dem Bus, um das Gewehr endlich an seinen Platz zurückzubringen. Doch im Arsenal zögerte ich vor den Stahlregalen hinter dem Eisengitter. Statt das Luftgewehr unter dem Öltuch neben der anderen Waffe zu verstecken, versorgte ich mich mit neuer Munition. Und ich ruckelte abermals aus dem angebrochenen Stapel amerikanischer Magazine das oberste Exemplar hervor. Mit Heft und Gewehr kehrte ich zum Bus zurück. Das aufgeschlagene Magazin befestigte ich mit zwei Nägeln an dem mittleren der Reifenstapel, die den Grillplatz einfassten, und postierte mich als Schütze in einer, wie ich fand, fairen Entfernung.
Die Dämmerung war schon zu weit fortgeschritten. Aus diesem Abstand waren die nackten Körper auf dem blinkenden Glanzpapier nicht deutlich genug zu erkennen. Doch Präzision war mir wichtig.
Im Steinkreis war genügend brennbares Material aufgeschichtet: das Holz havarierter Paletten, Trümmer von Dielen und Dachlatten, Obstkisten aus Pappe. Ich suchte zum Anfachen Reisig und ein paar dürre Äste zusammen und setzte das Ganze mit Streichholz in Brand.
Das Feuer im Steinkreis erwies sich als für meine Zwecke zu weit entfernt, das sah ich, noch ehe es den gesamten aufgeschichteten Stoß voll erfasst hatte. Das Kleinholz, das sich noch ohne Verbrennungsgefahr transportieren ließ, verfrachtete ich kurzerhand auf den Grill in der Autoreifenpergola, um dort ein zweites Feuer anzuzünden. Dessen Schein genügte.
Ich zielte den Akteuren auf Kopf und Geschlecht. Meine Trefferquote war hoch und stieg mit der Übung. Als das Magazin leer war, lud ich nach. Doch es fehlte den Schüssen der überzeugende Knall und die zerfetzende Wirkung einer richtigen Feuerwaffe. Dennoch schoss ich immer weiter, aber jetzt nicht mehr auf die Körper selbst, sondern auf die Schatten, von denen sie im Spiel der Flammen umflackert waren und die mir soviel lebendiger vorkamen als diese bei aller Hitze ihres Fleisches doch erfrorenen Phantome. Da gewahrte ich plötzlich überdeutlich meinen eigenen Schatten. Das hinter meinem Rücken hoch auflodernden Feuer ließ ihn über den Boden und die Reifenwände tanzen. Ich nahm ihn sorgfältig ins Visier und schoss.
Ich spürte, wie mein Körper sacht unter dem Aufprall der Kugel vibrierte. Ich feuerte weiter, und zum Vibrieren trat ein Ziepen hinzu. Eigentlich musste mein Schatten längst reglos am Boden liegen. Da sackte er tatsächlich kraftlos in sich zusammen und lag einen kurzen Moment lang da wie tot. Aber allzu fest im Bann meiner eigenen Rastlosigkeit stand er prompt wieder auf und flackerte weiter als nervöse Zielscheibe vor mir her. Er stand still, als mein Körper stillstand. Ich ließ das leergeschossene Luftgewehr sinken und wollte mich abwenden. Da geschah, und zwar ohne jede Absicht meinerseits, etwas noch sehr viel Heftigeres. Das Feuer im Steinkreis schleuderte meinen Schatten in das Feuer auf dem Grillplatz, direkt in die Flammen. In diesen Flammen, so war mein Eindruck, konnte er sich nicht mehr bewegen. Er verbrannte darin. Es roch wirklich verbrannt, als der Schatten meines Körpers dort auf dem Grill lag. Es stank nach dem Schatten eines verwirrten Gymnasiasten, der in den Flammen schmorte, die aus morschen Kanthölzern und welken Fichtenästen schlugen.
Ich wollte es nicht hören und als ich es hörte, sofort wieder vergessen: der Schatten stöhnte im Feuer. Er stöhnte in höchster Erregung, ob aus Schmerz oder aus Lust, das war nicht zu unterscheiden. Anders als Holz und Pappe würde er nicht zu Asche zerfallen. Er würde vielleicht noch weiter stöhnen, wenn das Feuer längst erloschen war.
So, als könne diese Geste seine Qual besänftigen oder seine Lust zum Höhepunkt führen, löste ich die Blätter des Magazins aus ihrer Heftung und schob eines nach dem anderen unter den Rost des Grills in einem improvisierten, aber nicht minder wirksamen Autodafé. Heller Rauch entstieg ihrer Verbrennung und ein herber Plastikgeruch überlagerte alles, was bereits schwer in der Luft hing. Dann, noch mitten im Zerreißen und Zerknüllen der Seiten, sah ich hinter dem Setra-Bus den tanzenden Lichtkegel der Taschenlampe.
Offenbar hatte ich das Knattern seines Mopeds überhört oder aber Dedunzev hatte sich bewusst zu Fuß genähert, um den Eindringling zu stellen, der zu später Stunde auf der Schrottburg Feuer entfachte. Mit ungewohnt raschen Schritten, ohne jedes Schwanken, kam er auf mich zu und leuchtete mir, obwohl es durch die beiden Feuer um uns taghell war, mit seiner Taschenlampe ins Gesicht.
„Thrasolt? Wer hat dir erlaubt...“
Vielleicht war es die Überraschung, die ihn dazu brachte, mich zum ersten mal mit meinem Familiennamen anzureden. Sein Blick schweifte von meinem Gesicht auf die Umgebung. Jetzt entdeckte er das Luftgewehr am Boden und unter dem Rost des Grills die zerknüllten Blätter des Magazins, die gerade die Glut erfasste. Halb ungläubig stocherte er in ihr herum, bevor er mich am Kragen packte. Das hatte er noch nie getan. Ich riss mich los und machte drei Schritte zurück.
„Hiergeblieben, Ansgar!“
Er hatte das Luftgewehr vom Boden aufgenommen und fuchtelte mit dem Kolben vor meiner Brust. Ich drehte mich zu ihm um, bereit, ihm eine Erklärung zu geben. Aber etwas stand zwischen uns, so blank wie das Stopfei im Spiegel des Dachzimmers und so unübersetzbar in irgendeine Sprache wie das Stöhnen des brennenden Schattens im Feuer.
Dieses Stöhnen war längst verklungen, aber das dadurch hervorgerufene ungläubige Staunen war nicht aus mir gewichen. Die Stille, in der es sich immer noch ausbreitete, verbat sich die Störung durch meine Stimme und blieb auf eine merkwürdige Weise durch Dedunzevs Verhörversuche unversehrt. Ich selbst fühlte mich keineswegs aller Verständigungsmöglichkeiten beraubt. Ich hatte inzwischen dazugelernt. Ich kannte die schönen Gesten für ‚Guten Morgen‘ und ‚Guten Abend‘, für ‚Alles Gute‘, für ‚Dankeschön‘ und für ‚Entschuldigung‘ und insbesondere diejenigen für Geben und Nehmen. Mit deren Hilfe versuchte ich es ihm zu erklären.
Dedunzev schaute auf meine sprechenden Hände, als zweifelte er zunächst an der Identität des verschüchterten, beim Diebstahl ertappten Pennälers, den er vor sich zu haben glaubte, und dann an dessen Verstand. Nach einer Weile vergeblichen Redens, während der mir immer neue Elemente der Gebärdensprache einfielen, die ich konzentriert und sorgsam vorführte, nahm er, zunehmend erbost über das Ausbleiben einer Antwort in der Form, die ihm vertraut war, seine Zuflucht zu Geschrei.
Vielleicht war es gar nicht der Zorn, der dabei seine Züge so verjüngt und gestrafft aussehen ließen, sondern die Sorge des Geschäftsmanns um seinen Umsatz. Die auffallend schmal gewordenen Augen blickten mit der Schärfe des Argwohns in meine hinein. Eine untergründige Macht, vielleicht der Druck der Erregung, hatte die sie umgebenden Falten und Krähenfüße geglättet. Wenn sie nicht gerade zum Brüllen geöffnet waren, pressten die Lippen sich zu einem in der Mitte fadendünn gefurchten Balken zusammen. Die Arme gestikulierten entweder drohend in meine Richtung oder blieben entschlossen in die Hüften gestemmt. Meine Unfähigkeit zu sprechen hielt er offenbar für die Verstocktheit des Schuldbewussten, der kein Geständnis ablegen, sondern seinerseits eines einfordern will.
Aber ich empfand keinerlei Neugier auf das private oder geschäftliche Leben, das Dedunzev hinter der Maske des Alkoholikers tatsächlich führte. Es ging mich nichts an, da für die Verhandlung mit seiner eigentlichen Kundschaft sicherlich kein Dolmetscher nötig war. Vielleicht war es gerade diese Losgelöstheit, die ihn irgendwann, für mich unvermittelt, mit dem Kolben des Luftgewehrs zustoßen ließ. Unter der Wucht des Hiebes taumelte ich gegen den Reifenstapel hinter mir, klammerte mich haltsuchend an den nächsten greifbaren Gummiwulst und brachte, als ich dennoch stürzte, erst den mittleren und dann auch die beiden seitlichen Reifenstapel zum Umkippen.
Ich lag auf dem Rücken. Unter dem Gewicht von soviel Blech und Gummi fiel das Atmen mir schwer. Bewegen konnte ich mich nur minimal. Der Widerschein der Flammen im Steinkreis drang durch die Ritzen und Fugen des Reifenhügels. Dedunzev machte keinerlei Anstalten, mich daraus zu befreien. Plötzlich war in der Ferne Gekrächz zu hören. Aufgescheuchte Krähen stießen es in der noch warmen Nachtluft aus. Gerne hätte ich ihm Antwort gegeben in der mir unbekannten Gebärdensprache dieser düsteren Vögel, die zuallererst nach meinen Augen picken würden, wenn mein Leichnam je in ihre Reichweite geriete. Eingeklemmt wie sie waren, ließen Kopf und Arme die dafür notwendigen Bewegungen nicht zu. Also versuchte ich es irgendwann dann doch mit der Stimme. Das, was sie unter großer Anstrengung artikulierte, klang wie das glucksende Lachen aus dem Mund, zu dem im Dachzimmerspiegel mein Nabel geworden war.