Neun

Ich war bereit, die Autorität, die Hella nie über mich in Anspruch genommen hatte, auf Gari zu übertragen. Zum Beispiel stellte ich mir vor, ich würde eine Augenbinde tragen und Garis Stimme würde mich lenken, ganz nahe an der Abbruchkante entlang. Und der Wackenhub war tief. Ich würde ihrer Stimme unbedingt vertrauen. Selbst wenn einer meiner Füße schon keinen Boden mehr fand und sie auch dann noch sagen würde: „Weiter gerade aus!“

Aber an diesem Dienstag ging es ja nur darum, mich unter ihrer Leitung Emilis sicherlich sehr geduldigem Rücken anzuvertrauen. Der Fall aus dem Sattel der hellbraunen Stute wäre nicht tief. Garis Stimme neben mir äußerte nur Beruhigendes und Behutsames für Ross und Reiter. Sie hatte mir den schwarzen Helm geliehen, den ich auch schon auf Évariste-Matthieus Kopf gesehen hatte. Er war mir etwas zu groß und musste deswegen unter dem Kinn besonders eng gebunden werden, so dass ich den Riemen fast als Teil eines Maulkorbs empfand.

Es fügte sich unglücklich, dass Gari in dem Augenblick, in dem die beiden Düsenjäger auftauchten, gerade von Pharao abgestiegen war und die Longe, an der sie Emili zur Sicherheit in unseren Anfangsrunden führte, losgelassen hatte. Unwillkürlich mussten meine Oberschenkel unter dieser hereinbrechenden Lärmlawine in ihrer Verkrampfung heftigen Druck auf den Pferdekörper ausgeübt haben. Wahrscheinlich war es dieser Druck und nicht das Getöse der über unsere Köpfe hinwegdonnernden Maschinen, auf das Emili reagierte. Sie verfiel aus dem Schritt nur kurz in einen lockeren Trab und dann in Galopp. Gari rief mir etwas zu, was ich in dem Nachhall des Jetlärms nicht verstand und was meiner aufsteigenden Panik neuen Aufrieb verlieh. Meine Füße verloren den Halt in den Steigbügeln. Die Hände klammerten sich in den Sattelknauf. Garis Rufe galten jetzt Emili, die ihr Tempo nicht verlangsamte. Wirklich unberechenbar wurden ihre Bewegungen erst, als die Longe ihr zwischen die Beine geriet. Sie brach aus der Kreisbahn aus und änderte immer wieder abrupt die Richtung. Irgendwann trug mich die Fliehkraft dabei aus dem Sattel. Instinktiv versuchte ich mich im Flug zur Kugel einzurollen, was mir aber vor dem Aufschlag auf dem Boden nicht gelang. Die rechte Schulter, gefolgt von Hüfte und Oberschenkel, ertrugen die Wucht des Aufpralls. Es war die Verblüffung, die mich reglos am Boden liegen ließ, denn der Schmerz setzte nicht sogleich ein. Darum beantwortete ich Garis Frage, ob ich mich verletzt habe, mit nein.

Aber als ich mich aufgerappelt hatte, musste ich mich bei ihr unterhaken, um bis zum Schuppen zu humpeln. Befragt, wo es am meisten wehtat, zeigte ich auf die Schulter, obwohl mir inzwischen das Bein genauso wehtat. Gari breitete zwei Schabracken über die schmale Bank, knäulte einen Pullover zum Kopfkissen und half mir, mich auf dem provisorischen Bett auszustrecken. Sie brachte einen Schemel, setzte sich neben mich und betastete vorsichtig durch Jacke und Hemd die von mir als schmerzend bezeichnete Partie. Doch falls sie tatsächlich noch wehtat, dann war diese Empfindung überlagert von einer Mischung aus Befangenheit, Erregung und Verwirrung. Ich roch ihr zitroniges Parfum, spürte ihren Atem an meiner Stirn und durch alle Stoffschichten hindurch erfühlte meine Haut ihre Hände.

„Gebrochen ist nichts. Ausgerenkt auch nichts.“

Sie kannte sich offensichtlich aus. Wie oft war sie selber wohl bereits vom Pferd gefallen?

„Für Prellungen haben wir was im Erste-Hilfe-Set. Eine Sekunde. Ich müsste dann nur rechts an die Schulter.“

Als sie wiederkam, lag ich mit halb entblößtem Oberkörper auf dem Bauch. Dann spürte meine nackte Haut tatsächlich die kreisende Bewegung ihrer Fingerkuppen, die um mein rechtes Schulterblatt behutsam eine kalte Salbe verteilten.

„Man sieht’s schon. Du wirst ein paar blaue Flecken kriegen. Und die Hüfte? Hast du sie dir richtig angeknackst?“

„Halb so schlimm.“

„Ich lass dir die Salbe. Dort kannst du sie selber verteilen. Auch am Bein.“

Ich drehte mich um und imitierte einen Schmerzensseufzer. Gari beugte sich besorgt zu mir herunter. Ich packte sie an beiden Händen, zog sie zu mir auf die Bank und presste mein Gesicht aufs Geratewohl in das ihre. Das Erstaunliche war, dass sie ihr Gesicht nicht sogleich zurückzog. Ihre Haare fielen auf meines, ihre Lippen landeten auf meinen, und ihre Smaragdaugen funkelten in Wimpernabstand in meine hinein. Ich hielt den Atem an, als wollte ich auf den ihren lauschen, während meine Arme sich immer fester zu einem Schraubstock verklammerten. Dagegen musste Gari sich wehren. Ihr Aufbäu­men blieb vergeblich. Sie konnte den Schraubstock nicht sprengen.

Warum schrie sie nicht auf? Warum setzte sie nicht Zähne und Fingernägel zum Gegenangriff ein?

Da waren diese vier Lippen, die sich stumm in der Drohung des möglicherweise sogar gegenseitigen Begehrens gegenüberlagen und dahinter die beiden Zungen in einer anderen Stummheit, die alles in bitterem Speichel ertränkte, was an Kompliziertem zu sagen und durch das Aussprechen wahrscheinlich bereits zu verunmöglichen gewesen wäre. Ich dachte plötzlich an die Schatten, die damals von den Flammen um den Körper meiner Mutter an die Wand geschmettert worden und daran zersplittert waren, und an die Waffen, in die sie sich verwandelt hatten. Darum hatte ich ihren Körper losgelassen, noch bevor ich die Tränen spürte.

Gari blieb liegen, leise schluchzend, die Unterarme vor den Augen verschränkt, während ich mir Hemd und Jacke anzog. Als sie endlich aufstand, geschah das wie in Zeitlupe. Genau so langsam zog sie das Taschentuch hervor, mit dem sie sich die Tränen abwischte. Sie legte beide Hände um den Hals, als wolle sie dort Würgemale ertasten, die ich ihr unmöglich zugefügt haben konnte, bevor sie mit unnatürlich hoher Stimme sagte: „Die Salbe muss wieder in den Koffer.“

Ich reichte sie ihr. Sie nahm sie und wandte sich grußlos zum Gehen.

„Gari!“

Ich hatte laut gerufen. Erst sah es so aus, als würde sie sich nicht umdrehen. Dann tat sie es doch.

Ich hatte nicht die Kraft zum Reden. Also bat der Blick um Verzeihung. Womöglich bettelte er sogar darum. Augen können nicht ausspucken. Aber wenn doch, hätten die Garis es jetzt vielleicht getan. Aber sie wandte sich noch nicht ab.

Die vier Wörter „Es tut mir leid!“ kamen mir so geduckt und humpelnd über die Lippen, weil sie die Last ihrer Vergeblichkeit schon auf dem Rücken trugen. Gari gönnte ihnen nur ein Schulterzucken. Vielleicht gab es in der Gebärdensprache einen Ausdruck, der alles umfasste, was dieses Zucken ausdrücken sollte: den Nachhall des Schocks und ungläubigen Staunens, Ekel, Widerwillen, Stolz. Als sie sich diesmal umdrehte, um zu den Pferden zu gehen, nahm sie die Möglichkeit mit, ihr etwas nachzurufen. Und zwar, wie mir schien, für immer.

Ich beugte mich zu Boden in dem Versuch, die zersplitterten Schatten, die dort liegen mussten, wieder einzusammeln, aber ich fand sie nicht. Garis beruhigende Stimme war von der Koppel zu hören, unterlegt von leichtem Schnauben und Wiehern. Ich hinkte nur ganz leicht, als ich das Gelände verließ. Der Schmerz hatte nachgelassen. Die Salbe musste wohl gewirkt haben.