Sieben

Manchmal trugen die LKWs, die den Panzerkolonnen voranrollten, Tarnnetze, in denen noch Reste von halb entlaubten Zweigen hingen. Nach den Tanks mit ihren drohenden Geschütztürmen kamen die Bergepanzer, dann die rollenden Haubitzen auf Selbstfahrlafetten, die in mattem Grün lackierten, von mächtigen Schleppern gezogenen Raketen, die gepanzerten Mannschaftswagen und schließlich die Jeeps. Außer dem Dieselgestank und den zerbröselten Bordsteinkanten blieb nach dem Durchzug der Kolonnen noch etwas anderes in der Luft über den Dorfstraßen zurück, etwas Ungreifbares, das wartete, bis sich die aufgescheuchten Taubenschwärme wieder formierten, um es durch ihre Runden um den Kirchturm zu zerstreuen.

Noch sehr viel häufiger als zu sehen war das gewaltige Rüstungsarsenal tagsüber zu hören, das uns umgab und dafür sorgen sollte, dass der kalte Krieg kalt blieb. Der Geschützlärm von den großen Übungsplätzen drang über die zwanzig Kilometer hinweg nach Föhrenbach herüber, wenn der Wind von Osten wehte. Es war ein dumpfes Grollen, oft in verlässlich konstantem Rhythmus, als müsse die Erde als große Trommel mit zu lasch gespanntem Fell für die Schläge schwerer Stöcke herhalten; dann wieder in chaotischer Abfolge und manchmal durchsetzt mit bellendem Geknatter, das aus Schnellfeuerkanonen stammte. Das alles waren vertraute Geräusche, die sich von denen eines über dem Talkessel stagnierenden Sommergewitters nicht wesentlich unterschieden. Die Kampfjets hingegen, die unvermutet zu allen Tageszeiten über unseren Köpfen auftauchen konnten, waren so etwas wie moderne Trompeten von Jericho, die daran glauben ließen, dass Schall Festungsmauern zum Einsturz bringen kann. Das schnaubende Gedröhn wälzte die Luft um, als sollte wie in einer Waschtrommel eine Ladung Verschmutztes darin ausgewrungen werden. Manchmal bildeten aufgescheuchte Krähenschwärme unter seiner Wucht tatsächlich walzenförmige Gebilde in der Luft, in denen die Vögel wie in einer solchen Trommel rotierten. In diesem Kreisen kamen sie erst zur Ruhe, wenn die Schallwellen der Düsenjäger vollständig in der Atmosphäre verebbt waren. Die donnernden Riesenhabichte waren weitergezogen und die Krähenmütter mussten nicht länger die bedrohten Nester beschützen. Aber es dauerte lange, bis ihr aufgeregtes, erbost wirkendes Krächzen vollständig verstummt war. 

Nicht stumpf und wuchtig wie eine geballte Faust, sondern spitz und bohrend wie eine Ahle, die man in ein widerspenstiges Holzstück dreht – so ergriff im Nachhall dieser Lawinen aus Schall und Stahl manchmal eine zornige Angriffslust von mir Besitz, die Leon den Kopf schütteln ließ, wenn er ihr Zeuge wurde, und die ich selbst mit der eigenen Person nur schwer in Verbindung bringen konnte. Manchmal ließ ich meine Wut an dem improvisierten Boxsack aus, der in unserer Waschküche von der Decke hing, noch sehr viel intensiver aber an der unschuldigen Luft, die ich mit den Fauststößen und Fußtritten aus der Kampfkunstschule traktierte, nach der ich im Selbststudium trainierte.

Dedunzevs unfreiwillige Leihgabe eröffnete dem Ausdruck meiner Aggression neue Räume. Der Waldgang, der mich regelmäßig zum Hochsitz am Hellerbühl über der Schmollschen Koppel führte, verwandelte sich in einen Kampfeinsatz, bei dem jeder Geländegewinn durch harten Einsatz zu erkaufen war. Mit dem Luftgewehr schoss ich den verschanzten Feind aus seiner Stellung, lautloses Lauern im Versteck wechselte ab mit frontalem Sturmangriff ohne Rücksicht auf Verluste. Ziemlich verschwitzt und verdreckt kam ich so auf dem Hochsitz an.

Seit dem Frühjahr war Gari dort an wechselnden Tagen in der Woche beim Trainieren. Es gab Nachmittage, an denen sie selber die Pferde versorgte, weil der Besitzer nicht da war. Aber meist stand zumindest Pharao schon gesattelt bereit, wenn sie in Reitkleidung ankam. Sie drehte dann mit dem Rappen erst ein paar Runden, bevor sie ins Gelände ausritt. Auf der Koppel selber blieb sie nur, wenn Miriam mit dabei war, die dann auf Emili neben ihr ritt. Mich faszinierte vor allem die Zeichensprache, in der die beiden Mädchen sich miteinander verständigten. Meist waren es knappe, verhaltene Gesten; ausladender wurden sie nur, wenn eines der beiden Pferde sich störrisch oder allzu nervös verhielt. Im Gegensatz zu Garis graziler Strenge wirkte Miriam plump, aber ihr langes offenes Haar flatterte, von keinem Helm behindert, malerisch im Wind und beim Trab schien sie mit Emilis federndem Körper zu einer elastischen Einheit verschmolzen.

Durch das Zielfernrohr des Luftgewehrs konnte ich die Vorgänge auf der Koppel viel genauer beobachten. Diesmal ritt auf Emilis Rücken nicht Miriam, sondern Évariste-Matthieu; und zwar sehr unsicher, sobald das Pferd den gemütlichen Trab verließ. Aber das wagte der Reiter nur wenige Male bei seinen Runden. Meist ritt er gemächlich neben Gari her, offenbar in angeregter Unterhaltung mit seiner Gefährtin, die oft lachend den Kopf zurückbog und sich manchmal demonstrativ vor ihn schob, um ihm den richtigen Einsatz von Schenkeln und Händen zu demonstrieren. Er seinerseits gab sich keine Mühe, seine Ängstlichkeit und sein mangelndes Geschick zu kaschieren, so als käme es auf Imponiergehabe vor Gari nicht mehr an. 

Mehr als einmal nahm ich ihn ins Visier. Ich hätte gefahrlos abdrücken können. Die Distanz zwischen uns war zu groß. Doch allein die Vorstellung des Schusses zeitigte Wirkung. Ich musste die Waffe sinken lassen und hielt mir die Hand vor die Augen. Hinter ihr sank Évariste-Matthieu getroffen vom Pferd. Als ich sie wieder löste, ritten Gari und er weiter ihre Runden auf der Koppel. Ich schaute an mir herunter und dann auf Dedunzevs Luftgewehr in meiner Rechten und schämte mich.