Zwei
Von Leon trennte mich sein Besitz eines anwesenden Vaters und einer lebenden Schwester, die zwei Jahre älter war als wir. Gari verkörperte in seinem Leben das, was Hella in meinem eigenen hätte verkörpern können.
Immer, wenn ich bei Dömraths zu Besuch und Gari im Raum war, beobachtete ich sie verstohlen wie ein Wesen, das frisch dem Jenseits entstiegen war und die Geheimnisse der Unterwelt noch in sich trug. So magisch sie mich anzog, so sehr wich ich dem direkten Kontakt mit ihr aus. Allzu viel von jener Ehrfurcht, die in der Dorfkirche keine Verwendung fand, hatte gegen meinen Willen in ihrem Mädchenkörper Unterschlupf gesucht.
Gegenüber Herrn Dömrath empfand ich solche Ehrfurcht nicht. Als Förster streifte er keineswegs, wie ich es mir naiverweise vorgestellt hatte, ständig durch die Wälder um Föhrenbach, sondern durchforstete mindestens genauso häufig die Akten, die in seinem Arbeitszimmer, in dem es verlässlich nach Zigarrenrauch roch, an zwei Wänden bis unter die Decke klommen. Bewacht wurde dieses Büro von Mister Krock, einem in Rente gegangenen Jagdhund, der mich anfangs bei meinen Besuchen bekläfft hatte und inzwischen nur noch unwirsch beschnüffelte. Frau Dömrath, eine im Verhältnis zu ihrem untersetzten Mann geradezu ausgemergelte, früh ergraute Frau, weilte wegen diverser, ungreifbarer Leiden häufig auf Kur. Und wenn sie da war, kam sie selten aus dem Obergeschoss zu uns herunter.
In seinem pausbäckigen Mondgesicht, seinem gedrungenen Körperbau mit einem frühen Ansatz von Beleibtheit, seinen Patschhänden und in seiner Beschlagenheit in dem, was in sämtlichen Schulfächern abfragbar war, verkörperte Leon für mich den Typus des Pyknikers, wie Dr. Bolander ihn uns definiert hatte, also angeblich eines Menschen mit heiterem Gemüt. Leon aber litt an Schwermutsanfällen. Bei unseren Waldgängen merkte ich an seinem hartnäckigen Schweigen, wenn es wieder so weit war; und auch daran, dass er dem Tabak reichlich Gras untermischte, wenn wir auf dem Hochsitz über der Schmollschen Koppel rauchten. Eigentlich rauchte nur er, ich tat nur so. Selbst wenn ich nicht auf Lunge inhalierte, verursachte Nikotin mir Übelkeit.
Leon zog den Rauch tief ein, aber er wurde nicht albern, brach nicht in haltloses Gekicher aus, sondern versank noch tiefer in sein Brüten. Ich hörte seinem Schweigen ebenso aufmerksam zu wie seinem doch oft so klugen Reden. Ich brachte die Frucht dieses Schweigens dadurch ein wenig mit zur Welt. Ohne den Vorlauf dieses Schweigens hätte er unmöglich die Dinge sagen können, die aus ihm hervorkamen, als wir dann weitergingen in den Wackenhub.
Auch bei den Mineralien war Leon der wirkliche Kenner. Er wusste, welche Steine stanken, wenn sie unter seinem Hammer zerbrachen und konnte auch ihre Ausdünstungen bestimmen: Schwefel, Ammoniak, Methan, Teer und anderes in unterschiedlicher Mischung. Aber es war nicht dieses merkwürdige Pupsen, das er mit Atem meinte, als er jetzt davon sprach. Wie kam er zu der Vermutung, es gäbe so etwas wie einen Atem der Steine? Ich war zwar wie er empfänglich für ihre glitzernden, von versunkenem Leben munkelnden Einschlüsse aus Bleiglanz, Amethyst oder Rauchquarz, doch hier in dem aufgelassenen Steinbruch am Südrand des Dorfes atmete in meiner Wahrnehmung gar nichts; hier stank auch nichts. Die Steine schwiegen so beharrlich, wie Leon es eben auf dem Hochsitz getan hatte und wenn in ihnen Atem war, dann hielten sie ihn an.
Im Gegensatz zu Leon befand ich mich in einer sonderbaren Hochstimmung, die ich der Wirkung des Experiments zuschrieb, die ich auf seine Anregung mit einem normalen Küchengewürz unternommen hatte. Ich wollte versuchen, so verkündete ich forsch, von außen zu erkennen, wo in diesem Schutt aus Kieseln und Geröll die verborgenen Drusen, Mandeln und Geoden steckten. Um die trächtigen Findlinge erspüren zu können, müsse ich nur, so glaubte ich zumindest selber, durch Blinzeln die Konturen der Steine verschwimmen lassen und nach einem zarten Schimmer Ausschau halten, der plötzlich auftauchen würde: einem Schimmer eben jener Farbe, die der unter der graubraunen Umkapselung versteckte Halbedelstein aufwies.
Die von mir aufgespürten Kandidaten lagen weit verstreut auf dem Boden vor der Geröllhalde, die vor vielen Jahren die letzte Sprengung aus der gezackten Wand gerissen hatte. Sie lagen so stumm und verschlossen da, wie nur aus ihrem Ganggestein gerissene Solitäre daliegen können, etwa so, als bestünden ihre Kristallgitter aus nichts anderem als aus resolut vor der Brust verschränkten Armen. Ich zeigte auf den betreffenden Stein und Leon machte sich mit seinem Mineralogen-Hammer an die Arbeit.
Er klopfte anfangs behutsam. Er wollte die verborgene Kostbarkeit nicht zerstören. Aber jeder der ausgewählten Steine erwies sich als taube Nuss. Leon schlug immer beherzter zu. Die Steine splitterten, brachen, wurden zermalmt. Schließlich nahm ich meinen eigenen Hammer und hämmerte mit. Am Ende sagte Leon einfach nur: „Du hast dich überschätzt. Voilà.“
Er nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und kam dabei, wie so oft, auf eine völlig andere Idee. Sie hatte mit der Suche nach Drusen und Geoden nichts zu tun. Er legte Muster. Dies, sagte er dann, sei die Sonne, jenes der Mond, dieses dritte die Erde. Danach kamen die Sternbilder an die Reihe. Ich erkannte nur den großen Wagen. Cassiopeia musste er mir erklären.
Ich ging zum Urinieren hinter den Ginster. Da drüben lagen unsere versternten Steine, aber am Himmel zogen Regenwolken auf. In diesem Streulicht betrachtete ich mir Leon genauer. Er und Gari teilten dieselbe Stupsnase. Sie schien mir bei beiden melodiös wie ein beschwingtes Wanderlied, mit dem man frühmorgens in die Berge aufbrach. Als Riechorgan ein Gedicht.
Ich sagte ihm, Muskatnuss sei vielleicht eine Gutelaune-, aber keine Schatzsucherdroge.
„Wieviel hast du genommen?“
Ich räumte ein, dass es nur ein Teelöffel war und zwar noch nicht einmal ein gehäufter; gemahlene Muskatnuss aus einer Plastikdose im Gewürzregal in unserer Küche.
„Das ist auf alle Fälle zu wenig. Du brauchst mindestens eine ganze Nuss, am besten frisch gerieben.“
„Wie soll ich die runterkriegen, bitte schön?“
„Du kannst sie dir mit allem versüßen, was du willst. Die Wirkung beeinträchtigt es nicht. Peu importe.“
Selbst mir gegenüber, der Französisch nicht einmal im Grundkurs hatte, benutzte er damals solche Floskeln; besonders häufig seit Évariste-Matthieus Aufenthalt im Forsthaus. Fast alle Klassenkameraden hatten Austauschschüler aufgenommen, auch die des Englischzweiges, die gar nicht Französisch lernten, so wie ich. AMC hatte Raumnot vorgeschützt. Im Forsthaus hingegen war Platz genug für zwei. Allein der Name des Hausgasts war voluminös genug, ihn restlos auszufüllen: Évariste Matthieu Écusson.
Ich frage nach ihm, als Leon wegen des einsetzenden Regens auf seinen Roller stieg.
„Die beiden haben jetzt am Moorsee wenig Spaß.“
„Er und Gari?“
Er nickte nur. Für ihn war es nicht wichtig, dass seine Schwester so viel Zeit mit dem jungen Franzosen verbrachte.
Ich blieb noch eine Weile im Regen allein, vorm Schlimmsten geschützt unter der Abbruchkante, die, leicht auskragend, ein schmales Dach bildete. Aber das Schlimmste ließ sich durch auskragende Abbruchkanten nicht abhalten. Ich stellte mir Garis Körper im Badeanzug vor und Évaristes Blicke auf den Badeanzug und auf die Haut, die der Stoff freiließ, und auf die Körperformen, die er nicht verhüllen konnte und auch nicht sollte.
Der Regen ließ nach. Etwas hielt mich immer noch davon ab, aufs Fahrrad zu steigen. Ich wusste nicht genau, was die Physiker meinten, wenn sie von schwacher Wechselwirkung sprachen, aber ich stellte es mir ähnlich vor wie das, was ich jetzt empfand. Ich folgte diesem leichten Kitzel in der Kehle und um das Brustbein, hin zu der Zone, von der diese Wirkung auszugehen schien. Da lag zwischen kantigen Brocken ein ovales Gebilde, fast eiförmig, hälftig geteilt durch eine gelbliche Linie. Ich setzte einen der umliegenden, scharfkantigen Wacken als Faustkeil an dieser Linie an und hämmerte vorsichtig auf diesen Keil. Die Linie, schmales Fenster einer dünnen Schicht porösen Sediments ließ sich aufsprengen wie morscher Kitt. Weiteres geduldiges Hämmern konnte den oberen Teil des Steins lüften wie eine Kappe. Durch Splitter und Gebrösel glitzerte ein Feld blassgrüner Zacken. Ich packte die für mich unidentifizierbare Beute ein und schwang mich endlich aufs Fahrrad. Dass es jetzt wieder stärker regnete, hinderte mich nicht an dem Umweg über den Friedhof.
Es dauerte eine ganze Weile, bis in dem Collier der angemessene Platz des Neulings ermittelt war, doch ich fand ihn heraus. Die goldenen Deckel von Annemarie-Claras Windlichtern glitzerten unter den Tropfen, die aus den Zweigen der kleinen Silbertanne schwer auf sie herunterplumpsten, und die Begonien wirkten beleidigt, dass niemand einen Schirm über sie hielt.
Weitere Kapitel:
Von Leon trennte mich sein Besitz eines anwesenden Vaters und einer lebenden Schwester, die zwei Jahre älter war als wir. Gari verkörperte in seinem Leben das, was Hella in meinem eigenen hätte verkörpern können.
Immer, wenn ich bei Dömraths zu Besuch und Gari im Raum war, beobachtete ich sie verstohlen wie ein Wesen, das frisch dem Jenseits entstiegen war und die Geheimnisse der Unterwelt noch in sich trug. So magisch sie mich anzog, so sehr wich ich dem direkten Kontakt mit ihr aus. Allzu viel von jener Ehrfurcht, die in der Dorfkirche keine Verwendung fand, hatte gegen meinen Willen in ihrem Mädchenkörper Unterschlupf gesucht.
Gegenüber Herrn Dömrath empfand ich solche Ehrfurcht nicht. Als Förster streifte er keineswegs, wie ich es mir naiverweise vorgestellt hatte, ständig durch die Wälder um Föhrenbach, sondern durchforstete mindestens genauso häufig die Akten, die in seinem Arbeitszimmer, in dem es verlässlich nach Zigarrenrauch roch, an zwei Wänden bis unter die Decke klommen. Bewacht wurde dieses Büro von Mister Krock, einem in Rente gegangenen Jagdhund, der mich anfangs bei meinen Besuchen bekläfft hatte und inzwischen nur noch unwirsch beschnüffelte. Frau Dömrath, eine im Verhältnis zu ihrem untersetzten Mann geradezu ausgemergelte, früh ergraute Frau, weilte wegen diverser, ungreifbarer Leiden häufig auf Kur. Und wenn sie da war, kam sie selten aus dem Obergeschoss zu uns herunter.
In seinem pausbäckigen Mondgesicht, seinem gedrungenen Körperbau mit einem frühen Ansatz von Beleibtheit, seinen Patschhänden und in seiner Beschlagenheit in dem, was in sämtlichen Schulfächern abfragbar war, verkörperte Leon für mich den Typus des Pyknikers, wie Dr. Bolander ihn uns definiert hatte, also angeblich eines Menschen mit heiterem Gemüt. Leon aber litt an Schwermutsanfällen. Bei unseren Waldgängen merkte ich an seinem hartnäckigen Schweigen, wenn es wieder so weit war; und auch daran, dass er dem Tabak reichlich Gras untermischte, wenn wir auf dem Hochsitz über der Schmollschen Koppel rauchten. Eigentlich rauchte nur er, ich tat nur so. Selbst wenn ich nicht auf Lunge inhalierte, verursachte Nikotin mir Übelkeit.
Leon zog den Rauch tief ein, aber er wurde nicht albern, brach nicht in haltloses Gekicher aus, sondern versank noch tiefer in sein Brüten. Ich hörte seinem Schweigen ebenso aufmerksam zu wie seinem doch oft so klugen Reden. Ich brachte die Frucht dieses Schweigens dadurch ein wenig mit zur Welt. Ohne den Vorlauf dieses Schweigens hätte er unmöglich die Dinge sagen können, die aus ihm hervorkamen, als wir dann weitergingen in den Wackenhub.
Auch bei den Mineralien war Leon der wirkliche Kenner. Er wusste, welche Steine stanken, wenn sie unter seinem Hammer zerbrachen und konnte auch ihre Ausdünstungen bestimmen: Schwefel, Ammoniak, Methan, Teer und anderes in unterschiedlicher Mischung. Aber es war nicht dieses merkwürdige Pupsen, das er mit Atem meinte, als er jetzt davon sprach. Wie kam er zu der Vermutung, es gäbe so etwas wie einen Atem der Steine? Ich war zwar wie er empfänglich für ihre glitzernden, von versunkenem Leben munkelnden Einschlüsse aus Bleiglanz, Amethyst oder Rauchquarz, doch hier in dem aufgelassenen Steinbruch am Südrand des Dorfes atmete in meiner Wahrnehmung gar nichts; hier stank auch nichts. Die Steine schwiegen so beharrlich, wie Leon es eben auf dem Hochsitz getan hatte und wenn in ihnen Atem war, dann hielten sie ihn an.
Im Gegensatz zu Leon befand ich mich in einer sonderbaren Hochstimmung, die ich der Wirkung des Experiments zuschrieb, die ich auf seine Anregung mit einem normalen Küchengewürz unternommen hatte. Ich wollte versuchen, so verkündete ich forsch, von außen zu erkennen, wo in diesem Schutt aus Kieseln und Geröll die verborgenen Drusen, Mandeln und Geoden steckten. Um die trächtigen Findlinge erspüren zu können, müsse ich nur, so glaubte ich zumindest selber, durch Blinzeln die Konturen der Steine verschwimmen lassen und nach einem zarten Schimmer Ausschau halten, der plötzlich auftauchen würde: einem Schimmer eben jener Farbe, die der unter der graubraunen Umkapselung versteckte Halbedelstein aufwies.
Die von mir aufgespürten Kandidaten lagen weit verstreut auf dem Boden vor der Geröllhalde, die vor vielen Jahren die letzte Sprengung aus der gezackten Wand gerissen hatte. Sie lagen so stumm und verschlossen da, wie nur aus ihrem Ganggestein gerissene Solitäre daliegen können, etwa so, als bestünden ihre Kristallgitter aus nichts anderem als aus resolut vor der Brust verschränkten Armen. Ich zeigte auf den betreffenden Stein und Leon machte sich mit seinem Mineralogen-Hammer an die Arbeit.
Er klopfte anfangs behutsam. Er wollte die verborgene Kostbarkeit nicht zerstören. Aber jeder der ausgewählten Steine erwies sich als taube Nuss. Leon schlug immer beherzter zu. Die Steine splitterten, brachen, wurden zermalmt. Schließlich nahm ich meinen eigenen Hammer und hämmerte mit. Am Ende sagte Leon einfach nur: „Du hast dich überschätzt. Voilà.“
Er nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und kam dabei, wie so oft, auf eine völlig andere Idee. Sie hatte mit der Suche nach Drusen und Geoden nichts zu tun. Er legte Muster. Dies, sagte er dann, sei die Sonne, jenes der Mond, dieses dritte die Erde. Danach kamen die Sternbilder an die Reihe. Ich erkannte nur den großen Wagen. Cassiopeia musste er mir erklären.
Ich ging zum Urinieren hinter den Ginster. Da drüben lagen unsere versternten Steine, aber am Himmel zogen Regenwolken auf. In diesem Streulicht betrachtete ich mir Leon genauer. Er und Gari teilten dieselbe Stupsnase. Sie schien mir bei beiden melodiös wie ein beschwingtes Wanderlied, mit dem man frühmorgens in die Berge aufbrach. Als Riechorgan ein Gedicht.
Ich sagte ihm, Muskatnuss sei vielleicht eine Gutelaune-, aber keine Schatzsucherdroge.
„Wieviel hast du genommen?“
Ich räumte ein, dass es nur ein Teelöffel war und zwar noch nicht einmal ein gehäufter; gemahlene Muskatnuss aus einer Plastikdose im Gewürzregal in unserer Küche.
„Das ist auf alle Fälle zu wenig. Du brauchst mindestens eine ganze Nuss, am besten frisch gerieben.“
„Wie soll ich die runterkriegen, bitte schön?“
„Du kannst sie dir mit allem versüßen, was du willst. Die Wirkung beeinträchtigt es nicht. Peu importe.“
Selbst mir gegenüber, der Französisch nicht einmal im Grundkurs hatte, benutzte er damals solche Floskeln; besonders häufig seit Évariste-Matthieus Aufenthalt im Forsthaus. Fast alle Klassenkameraden hatten Austauschschüler aufgenommen, auch die des Englischzweiges, die gar nicht Französisch lernten, so wie ich. AMC hatte Raumnot vorgeschützt. Im Forsthaus hingegen war Platz genug für zwei. Allein der Name des Hausgasts war voluminös genug, ihn restlos auszufüllen: Évariste Matthieu Écusson.
Ich frage nach ihm, als Leon wegen des einsetzenden Regens auf seinen Roller stieg.
„Die beiden haben jetzt am Moorsee wenig Spaß.“
„Er und Gari?“
Er nickte nur. Für ihn war es nicht wichtig, dass seine Schwester so viel Zeit mit dem jungen Franzosen verbrachte.
Ich blieb noch eine Weile im Regen allein, vorm Schlimmsten geschützt unter der Abbruchkante, die, leicht auskragend, ein schmales Dach bildete. Aber das Schlimmste ließ sich durch auskragende Abbruchkanten nicht abhalten. Ich stellte mir Garis Körper im Badeanzug vor und Évaristes Blicke auf den Badeanzug und auf die Haut, die der Stoff freiließ, und auf die Körperformen, die er nicht verhüllen konnte und auch nicht sollte.
Der Regen ließ nach. Etwas hielt mich immer noch davon ab, aufs Fahrrad zu steigen. Ich wusste nicht genau, was die Physiker meinten, wenn sie von schwacher Wechselwirkung sprachen, aber ich stellte es mir ähnlich vor wie das, was ich jetzt empfand. Ich folgte diesem leichten Kitzel in der Kehle und um das Brustbein, hin zu der Zone, von der diese Wirkung auszugehen schien. Da lag zwischen kantigen Brocken ein ovales Gebilde, fast eiförmig, hälftig geteilt durch eine gelbliche Linie. Ich setzte einen der umliegenden, scharfkantigen Wacken als Faustkeil an dieser Linie an und hämmerte vorsichtig auf diesen Keil. Die Linie, schmales Fenster einer dünnen Schicht porösen Sediments ließ sich aufsprengen wie morscher Kitt. Weiteres geduldiges Hämmern konnte den oberen Teil des Steins lüften wie eine Kappe. Durch Splitter und Gebrösel glitzerte ein Feld blassgrüner Zacken. Ich packte die für mich unidentifizierbare Beute ein und schwang mich endlich aufs Fahrrad. Dass es jetzt wieder stärker regnete, hinderte mich nicht an dem Umweg über den Friedhof.
Es dauerte eine ganze Weile, bis in dem Collier der angemessene Platz des Neulings ermittelt war, doch ich fand ihn heraus. Die goldenen Deckel von Annemarie-Claras Windlichtern glitzerten unter den Tropfen, die aus den Zweigen der kleinen Silbertanne schwer auf sie herunterplumpsten, und die Begonien wirkten beleidigt, dass niemand einen Schirm über sie hielt.