Bon App
Sie einigten sich auf eine Bar in der Nähe, die Sevi ihnen zeigen wollte. Ein winziger Raum mit grünem Marmor, raffinierter Holztäfelung, rechteckigen Ledersitzecken und seltsamen, rautenförmigen, von innen heraus leuchtenden Tischchen. Die American Bar von Adolf Loos. Eine edle Alkoholkapelle, wie auch Bart zugeben musste. Sevi erklärte ausführlich die Raumwirkung durch die Spiegel, die oberhalb der Kopfhöhe angebracht waren, sodass sie das Lokal links und rechts optisch verdoppelten, als befände man sich in einer Wabe mehrerer gleichartiger Räume. Bart fühlte sich matt. Er spürte ein Kratzen im Hals. Verdammt, ich werde krank, dachte er. Muss am Zinkmangel liegen. Verlor ein Mann nicht jede Menge Zink pro Orgasmus? Er beschloss, die nahende Erkältung wegzusaufen und kippte, während die anderen an einem Wodkadrink nippten, in kurzem Abstand drei Bier in sich hinein.
In den letzten beiden Tagen hatte er immer wieder überlegt, ob es eine Möglichkeit gab, sein Studium hierher zu verlegen, einen Job zu finden, ein Zimmer, um in Sevis Nähe zu sein. Jetzt sah alles anders aus. Sevi schien ihm immer unnatürlicher zu werden, immer gestelzter, blasierter, als käme jedes Wort, jede Bewegung auf einer Parfümwolke daher. Warum nur, fragte er sich. Das ist doch nicht von Anfang an so gewesen. Liegt es an mir? Verhält er sich so, weil ich mich verhalte, wie ich mich verhalte? Weil ich einen Platz besetze, den er dann nicht mehr einnehmen kann, wie man das oft in Beziehungen sieht? Ich bin doch auch nur ein bisschen freier, ein bisschen frecher, und hindere ihn, dessen Qualitäten auf diesem Gebiet vielleicht nur um einen Bruchteil geringer sind, selbst frech und verwegen zu sein. Er sah zu Sevi hinüber und suchte den Menschen, der am Nachmittag zu ihm gesagt hatte, er wolle versuchen, ein guter Partner zu sein. Vielleicht sind wir beide auch einfach nur angestrengt, sagte er sich dann. Fertig von zu viel Sex und zu wenig Schlaf. Er, Bart, war in einer fremden Stadt, losgelöst von seinen üblichen Verpflichtungen. Sevi dagegen musste arbeiten, hatte einen ganz normalen Alltag. Vielleicht braucht er Zeit, um alles zu verarbeiten, dachte er, Zeit für sich. Er ist ja noch jung, zehn Jahre jünger als ich. Andererseits: Was sollte jung sein an Sevi? Wenn er ihn so sitzen sah, kam er ihm vor wie ein pensionierter Kunsthistoriker. Abgewandt parlierte er mit Christoph und machte keinerlei Anstalten, ihn ins Gespräch einzubeziehen. Die Sache mit der Kamerabrille. Nicht besonders witzig, zugegeben. Auch Rudolph Moshammer hatte ein Recht auf seine eigene Peinlichkeit, und gerade an den Rechten derer, über die man leichtfertig lachte oder den Kopf schüttelte, hingen die Rechte aller, da lagen die beiden völlig richtig. Aber war es nicht merkwürdig, dass Sevi haargenau in dem Augenblick gegen ihn losging, wo er, Bart, seine inneren Widerstände gegen die Beziehung aus dem Weg räumte? Jetzt ließ er wieder einen seiner englischen Halbsätze los, as you like. Oh Gott, vielleicht ist er einfach nur ein oberflächliches Arschloch, ein Schnösel mit Krokoledergeschmack, und ich mache mir was vor. Dass Sevi noch nie eine Beziehung gehabt hat, hat doch wohl auch seinen Grund!
Bart bemerkte, wie er dabei war, eine regelrechte Sevi-Allergie zu entwickeln. Mit immer gnadenloserem Blick betrachtete er ihn. Ist Schönheit wirklich schön, fragte er sich. Oder ist sie eine reine Oberflächeneigenschaft, und ein schöner Mensch kann innerlich vollkommen hässlich sein? Diese manierierte Art, mit der er die Zigarette hält! Er ist eine Diva, eine Chantal Chantré. Bin ich also nicht eigentlich dem Rätsel der Tuntigkeit auf der Spur, diesem seltsamen Verhaltenskonglomerat aus parodistischer, manchmal geradezu akrobatisch ausgelebter Weiblichkeit, aus Dreistigkeit, gespielter Scham und Ich-bin-zu-gut-für-diese-Welt-Getue, das mit einer Kaskade kapriziöser Selbstverkomplizierungen Begehren wecken will, letztlich aber auf eine simple Fuck-me-Pose hinausläuft? Wieder sah er Sevi an. Ein Angebot, für das es, dreh es wie du willst, mein Bester, keine allzu große Nachfrage gibt.
Der Alkohol fuhr ihm in den Schädel und lockerte allmählich die Verbindung zwischen seinen Gedanken. Wie groß ist deine Seele, fragte er Sevi im Stillen. Meine Seele ist, sagen wir, so groß wie der Vorgarten von einem Reihenhaus, vielleicht hundert Quadratmeter. Manche Leute haben Seelen so groß wie Parks, manche vielleicht nur einen Blumenkasten. Und ein paar wenige so groß wie die ganze Welt. Seit drei Tagen führe ich dich jetzt durch meinen Garten und zeig dir die paar Blumen, die es da zu sehen gibt. Was zeigst du mir? Wer bist du eigentlich, Sevi? Und was willst du am Ende haben? Einen Blumenkasten oder die ganze Welt? Na, Chantal, was sagst du?
„Hallo Bart!“, rief Christoph und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht. „Was guckst du denn so? Du siehst blass aus. Es ist halb zehn. Lass uns schauen, dass wir irgendwo was zu essen kriegen.“
In der Nähe des Ausgangs stand eine teuer gekleidete Frau von vielleicht fünfundfünfzig, die sich mit einem jüngeren Mann betrank. Unabsichtlich hatte Bart eine ganze Weile in die Richtung der beiden gestarrt.
„Mein Steuerberater“, sagte sie mit verschwommenem Blick, als er beim Verlassen der Bar zufällig neben ihr zu stehen kam, wie zur Rechtfertigung und berührte den mehr als zwanzig Jahre jüngeren Anzugträger am Arm. Ihr Ehemann verlange ein Protokoll von ihr, wo sie wann gewesen sei. 16:30 Uhr, 16:50 Uhr, 17:10 Uhr. Ob das nicht furchtbar sei?
Der junge Steuerberater sah mit undeutbarem Grinsen auf seine Schuhspitzen.
„Und was sagen Sie ihm, wo Sie waren?“, fragte Bart.
Sie zuckte die Achseln und seufzte. Das müsse sie sich noch überlegen. Nach Ende der Öffnungszeiten eingesperrt im Kupferstichkabinett … Oder bei den Wachsfiguren im Josephinum, da wo sie hingehöre … Was der junge Herr geeigneter finde? Sie kicherte trostlos. Nie könne sie so sein, wie sie wolle. Ob der junge Herr denn das könne?
Für ihn sei das wahrscheinlich einfacher, er habe ja keinen eifersüchtigen Ehemann zu Hause sitzen.
Die Frau lachte betrunken, und Bart legte den Arm um sie und gab ihr einen Kuss.
„Wen hast du denn da wieder kennengelernt“, murrte Sevi, der mit Christoph vor der Tür gewartet hatte.
Bart spürte keinerlei Hunger. Er bestellte Rotwein. Als Sevi, nachdem der Kellner das Essen auf den Tisch gestellt hatte, Bon App sagte, war für ihn der Ofen aus. Er überließ ihn dem Gespräch mit Christoph, beobachtete die Leute im Lokal, bestellte kurz hintereinander zwei weitere Rotwein und zog sich in die wattige Abgeschiedenheit seines Grippekopfes zurück. Bon App. Wenn er Sevi nun anschaute, sah er nichts Schönes mehr. Da war sie, die Verachtung, das innere Kopfschütteln über den anderen, der kaum niederzuringende Widerwille, der Ekel. Sevi ging ihm nur noch auf die Nerven. Bon App. Als ob Bon Appétit nicht fürchterlich genug gewesen wäre! Warum fühle ich mich angegriffen durch diese bescheuerte Art? Warum fühle ich mich ausgestoßen, vertrieben, auf den Scheiterhaufen gestellt und angezündet? Vielleicht solltest du dieser Kultur, die du so sehr verehrst, böse sein, sagte er im Innern zu Sevi, denn sie entstellt dich und macht einen Affen aus dir. Hier ging es um Geschmack. Um Stil. Sevis Ästhetik gegen seine. Und war Ästhetik nicht mehr als eine Stilfrage, war sie nicht ein Lebensprinzip, vielleicht das Lebensprinzip überhaupt? Das Wort Wahrnehmung steckte darin. Natürlich ist es vorstellbar, überlegte Bart, dass Leute, die Juden vor den Nazis ver-steckt haben, in einer geschmacklos eingerichteten Wohnung lebten. Aber Leute, die Juden vor Nazis verstecken, müssen auf jeden Fall über bestimmte ästhetische Kriterien verfügen, jedenfalls Kriterien, die sie von der Meinung anderer unabhängig machen. Über einen Sinn für Gerechtigkeit, einen Sinn für innere und äußere Freiheit, für die direkte Wahrnehmung von Not, einen Sinn für Menschlichkeit und Vernunft. Ist das nicht ästhetisch durch und durch? Bart war leicht schwindlig. Er bemerkte, dass genau in diesem Moment etwas in seinem Inneren ihm verbot, einen innigen Kontakt zu jemandem aufrechtzuerhalten, der in bestimmten Zusammenhängen Bon App sagte. Ein Mensch, der das tat, da war er sich sicher, konnte jede Art von Furchtbarkeit anrichten. Er würde ihn verraten, wenn es darauf ankam, würde ihn den Henkern überantworten. Für so einen Menschen konnte er alles Mögliche aufbringen: Verständnis, Rücksicht, Geduld, aber nicht Liebe. Eine Welle von Traurigkeit schlug über ihm zusammen. Er suchte Sevis Blick. Es geht nicht, dachte er. Ich hab’s mir so gewünscht. Ich hab’s mir so gewünscht, aber was nicht geht, geht nicht. Und im Nachhinein ist immer klar, warum das so ist.
Und trotzdem. „Lass uns noch ins Savoy gehen“, sagte er, als Christoph auf der Toilette war. „Wenn’s geht alleine.“
Sevi nickte.
Weitere Kapitel:
Sie einigten sich auf eine Bar in der Nähe, die Sevi ihnen zeigen wollte. Ein winziger Raum mit grünem Marmor, raffinierter Holztäfelung, rechteckigen Ledersitzecken und seltsamen, rautenförmigen, von innen heraus leuchtenden Tischchen. Die American Bar von Adolf Loos. Eine edle Alkoholkapelle, wie auch Bart zugeben musste. Sevi erklärte ausführlich die Raumwirkung durch die Spiegel, die oberhalb der Kopfhöhe angebracht waren, sodass sie das Lokal links und rechts optisch verdoppelten, als befände man sich in einer Wabe mehrerer gleichartiger Räume. Bart fühlte sich matt. Er spürte ein Kratzen im Hals. Verdammt, ich werde krank, dachte er. Muss am Zinkmangel liegen. Verlor ein Mann nicht jede Menge Zink pro Orgasmus? Er beschloss, die nahende Erkältung wegzusaufen und kippte, während die anderen an einem Wodkadrink nippten, in kurzem Abstand drei Bier in sich hinein.
In den letzten beiden Tagen hatte er immer wieder überlegt, ob es eine Möglichkeit gab, sein Studium hierher zu verlegen, einen Job zu finden, ein Zimmer, um in Sevis Nähe zu sein. Jetzt sah alles anders aus. Sevi schien ihm immer unnatürlicher zu werden, immer gestelzter, blasierter, als käme jedes Wort, jede Bewegung auf einer Parfümwolke daher. Warum nur, fragte er sich. Das ist doch nicht von Anfang an so gewesen. Liegt es an mir? Verhält er sich so, weil ich mich verhalte, wie ich mich verhalte? Weil ich einen Platz besetze, den er dann nicht mehr einnehmen kann, wie man das oft in Beziehungen sieht? Ich bin doch auch nur ein bisschen freier, ein bisschen frecher, und hindere ihn, dessen Qualitäten auf diesem Gebiet vielleicht nur um einen Bruchteil geringer sind, selbst frech und verwegen zu sein. Er sah zu Sevi hinüber und suchte den Menschen, der am Nachmittag zu ihm gesagt hatte, er wolle versuchen, ein guter Partner zu sein. Vielleicht sind wir beide auch einfach nur angestrengt, sagte er sich dann. Fertig von zu viel Sex und zu wenig Schlaf. Er, Bart, war in einer fremden Stadt, losgelöst von seinen üblichen Verpflichtungen. Sevi dagegen musste arbeiten, hatte einen ganz normalen Alltag. Vielleicht braucht er Zeit, um alles zu verarbeiten, dachte er, Zeit für sich. Er ist ja noch jung, zehn Jahre jünger als ich. Andererseits: Was sollte jung sein an Sevi? Wenn er ihn so sitzen sah, kam er ihm vor wie ein pensionierter Kunsthistoriker. Abgewandt parlierte er mit Christoph und machte keinerlei Anstalten, ihn ins Gespräch einzubeziehen. Die Sache mit der Kamerabrille. Nicht besonders witzig, zugegeben. Auch Rudolph Moshammer hatte ein Recht auf seine eigene Peinlichkeit, und gerade an den Rechten derer, über die man leichtfertig lachte oder den Kopf schüttelte, hingen die Rechte aller, da lagen die beiden völlig richtig. Aber war es nicht merkwürdig, dass Sevi haargenau in dem Augenblick gegen ihn losging, wo er, Bart, seine inneren Widerstände gegen die Beziehung aus dem Weg räumte? Jetzt ließ er wieder einen seiner englischen Halbsätze los, as you like. Oh Gott, vielleicht ist er einfach nur ein oberflächliches Arschloch, ein Schnösel mit Krokoledergeschmack, und ich mache mir was vor. Dass Sevi noch nie eine Beziehung gehabt hat, hat doch wohl auch seinen Grund!
Bart bemerkte, wie er dabei war, eine regelrechte Sevi-Allergie zu entwickeln. Mit immer gnadenloserem Blick betrachtete er ihn. Ist Schönheit wirklich schön, fragte er sich. Oder ist sie eine reine Oberflächeneigenschaft, und ein schöner Mensch kann innerlich vollkommen hässlich sein? Diese manierierte Art, mit der er die Zigarette hält! Er ist eine Diva, eine Chantal Chantré. Bin ich also nicht eigentlich dem Rätsel der Tuntigkeit auf der Spur, diesem seltsamen Verhaltenskonglomerat aus parodistischer, manchmal geradezu akrobatisch ausgelebter Weiblichkeit, aus Dreistigkeit, gespielter Scham und Ich-bin-zu-gut-für-diese-Welt-Getue, das mit einer Kaskade kapriziöser Selbstverkomplizierungen Begehren wecken will, letztlich aber auf eine simple Fuck-me-Pose hinausläuft? Wieder sah er Sevi an. Ein Angebot, für das es, dreh es wie du willst, mein Bester, keine allzu große Nachfrage gibt.
Der Alkohol fuhr ihm in den Schädel und lockerte allmählich die Verbindung zwischen seinen Gedanken. Wie groß ist deine Seele, fragte er Sevi im Stillen. Meine Seele ist, sagen wir, so groß wie der Vorgarten von einem Reihenhaus, vielleicht hundert Quadratmeter. Manche Leute haben Seelen so groß wie Parks, manche vielleicht nur einen Blumenkasten. Und ein paar wenige so groß wie die ganze Welt. Seit drei Tagen führe ich dich jetzt durch meinen Garten und zeig dir die paar Blumen, die es da zu sehen gibt. Was zeigst du mir? Wer bist du eigentlich, Sevi? Und was willst du am Ende haben? Einen Blumenkasten oder die ganze Welt? Na, Chantal, was sagst du?
„Hallo Bart!“, rief Christoph und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht. „Was guckst du denn so? Du siehst blass aus. Es ist halb zehn. Lass uns schauen, dass wir irgendwo was zu essen kriegen.“
In der Nähe des Ausgangs stand eine teuer gekleidete Frau von vielleicht fünfundfünfzig, die sich mit einem jüngeren Mann betrank. Unabsichtlich hatte Bart eine ganze Weile in die Richtung der beiden gestarrt.
„Mein Steuerberater“, sagte sie mit verschwommenem Blick, als er beim Verlassen der Bar zufällig neben ihr zu stehen kam, wie zur Rechtfertigung und berührte den mehr als zwanzig Jahre jüngeren Anzugträger am Arm. Ihr Ehemann verlange ein Protokoll von ihr, wo sie wann gewesen sei. 16:30 Uhr, 16:50 Uhr, 17:10 Uhr. Ob das nicht furchtbar sei?
Der junge Steuerberater sah mit undeutbarem Grinsen auf seine Schuhspitzen.
„Und was sagen Sie ihm, wo Sie waren?“, fragte Bart.
Sie zuckte die Achseln und seufzte. Das müsse sie sich noch überlegen. Nach Ende der Öffnungszeiten eingesperrt im Kupferstichkabinett … Oder bei den Wachsfiguren im Josephinum, da wo sie hingehöre … Was der junge Herr geeigneter finde? Sie kicherte trostlos. Nie könne sie so sein, wie sie wolle. Ob der junge Herr denn das könne?
Für ihn sei das wahrscheinlich einfacher, er habe ja keinen eifersüchtigen Ehemann zu Hause sitzen.
Die Frau lachte betrunken, und Bart legte den Arm um sie und gab ihr einen Kuss.
„Wen hast du denn da wieder kennengelernt“, murrte Sevi, der mit Christoph vor der Tür gewartet hatte.
Bart spürte keinerlei Hunger. Er bestellte Rotwein. Als Sevi, nachdem der Kellner das Essen auf den Tisch gestellt hatte, Bon App sagte, war für ihn der Ofen aus. Er überließ ihn dem Gespräch mit Christoph, beobachtete die Leute im Lokal, bestellte kurz hintereinander zwei weitere Rotwein und zog sich in die wattige Abgeschiedenheit seines Grippekopfes zurück. Bon App. Wenn er Sevi nun anschaute, sah er nichts Schönes mehr. Da war sie, die Verachtung, das innere Kopfschütteln über den anderen, der kaum niederzuringende Widerwille, der Ekel. Sevi ging ihm nur noch auf die Nerven. Bon App. Als ob Bon Appétit nicht fürchterlich genug gewesen wäre! Warum fühle ich mich angegriffen durch diese bescheuerte Art? Warum fühle ich mich ausgestoßen, vertrieben, auf den Scheiterhaufen gestellt und angezündet? Vielleicht solltest du dieser Kultur, die du so sehr verehrst, böse sein, sagte er im Innern zu Sevi, denn sie entstellt dich und macht einen Affen aus dir. Hier ging es um Geschmack. Um Stil. Sevis Ästhetik gegen seine. Und war Ästhetik nicht mehr als eine Stilfrage, war sie nicht ein Lebensprinzip, vielleicht das Lebensprinzip überhaupt? Das Wort Wahrnehmung steckte darin. Natürlich ist es vorstellbar, überlegte Bart, dass Leute, die Juden vor den Nazis ver-steckt haben, in einer geschmacklos eingerichteten Wohnung lebten. Aber Leute, die Juden vor Nazis verstecken, müssen auf jeden Fall über bestimmte ästhetische Kriterien verfügen, jedenfalls Kriterien, die sie von der Meinung anderer unabhängig machen. Über einen Sinn für Gerechtigkeit, einen Sinn für innere und äußere Freiheit, für die direkte Wahrnehmung von Not, einen Sinn für Menschlichkeit und Vernunft. Ist das nicht ästhetisch durch und durch? Bart war leicht schwindlig. Er bemerkte, dass genau in diesem Moment etwas in seinem Inneren ihm verbot, einen innigen Kontakt zu jemandem aufrechtzuerhalten, der in bestimmten Zusammenhängen Bon App sagte. Ein Mensch, der das tat, da war er sich sicher, konnte jede Art von Furchtbarkeit anrichten. Er würde ihn verraten, wenn es darauf ankam, würde ihn den Henkern überantworten. Für so einen Menschen konnte er alles Mögliche aufbringen: Verständnis, Rücksicht, Geduld, aber nicht Liebe. Eine Welle von Traurigkeit schlug über ihm zusammen. Er suchte Sevis Blick. Es geht nicht, dachte er. Ich hab’s mir so gewünscht. Ich hab’s mir so gewünscht, aber was nicht geht, geht nicht. Und im Nachhinein ist immer klar, warum das so ist.
Und trotzdem. „Lass uns noch ins Savoy gehen“, sagte er, als Christoph auf der Toilette war. „Wenn’s geht alleine.“
Sevi nickte.