Smart Glasses

Wie waren sie nur auf diese Brille gekommen? Wie konnte man sich wegen so einem dämlichen Ding derart in die Haare geraten? Bart erinnerte sich später, dass er glaubte, sie auf dem Weg zum Treffen mit Christoph an einem Passanten gesehen zu haben, eine dieser Smart Glasses mit jeweils einer unauffällig verbauten HD-Kamera am linken und am rechten Bügel, mit der man unbemerkt Videos machen und auf sein Smartphone übertragen kann, sogar in 3-D-Format. Ein echtes 007-Gerät. Er fühlte sich unwohl in dem noblen Kaffeehaus in der Nähe des Stephansdoms, in dem sie nun mit Christoph saßen. Ringsherum tortenverzehrende Damen in Pelzmänteln, mit Papiertüten teurer Modelabels neben sich auf dem Stuhl, Christoph, der von seiner Uni-Arbeit kam und in seiner grauen Hose mit Bügelfalte und dem grauen Pullunder wie ein Bankangestellter aussah. Er redete gegen die Atmosphäre an. Was man mit so einem Ding alles anstellen könne. Kompromittierende Filmchen von Prominenten und Politikern. Schade, dass der Moshammer nicht mehr lebe, der wäre der richtige Kandidat.
   „Wer ist Moshammer?“, fragte Sevi.
   „Du kennst den Moshammer nicht? Ich glaub, ich werde allmählich tatsächlich alt.“ Rudolph Moshammer, der selbst ernannte Modezar, der nachts in seinem Rolls Royce durch die Münchner Straßen gefahren sei, um Jungs aufzugabeln und ihnen in seiner Villa einen zu blasen.
   „War das der, der von einem Stricher mit einem Stromkabel erwürgt wurde?“
   „Genau der war das.“
   Bart erzählte, dass Moshammer einmal auch neben ihm angehalten hatte. Man hätte jemand genügend Dreistes so eine Brille geben müssen, der dann Moshammer im Augenblick, wo er sich auf den Knien vor ihm zu schaffen machte, die Perücke vom Kopf schob und die Kamera laufen ließ.
   „Und dann per Livestream in die sozialen Netzwerke?“
   Bart grinste.
   So was fände er nicht witzig, sagte Sevi in einem Ton, dessen Härte Bart überraschte. Jeder Mensch habe ein Anrecht auf ein Privatleben, ob er nun Moshammer oder Jörg Haider heiße, Gott hab ihn selig. Dieser Moshammer sei schließlich Opfer eines Mordes geworden.
   Auch Christoph äußerte Mitleid für Moshammer: Mehr als ein bisschen Doppelmoral könne man dem armen Mann nicht vorwerfen, immerhin habe er sich für Obdachlose engagiert.
   Bart fühlte sich angegriffen. „Was ist denn mit euch los? Du liebe Scheiße!“ Wieso sollte man Leuten wie Moshammer, die um jeden Preis im Mittelpunkt stehen wollten, so etwas wie Privatsphäre zugestehen gerade dann, wenn ihnen das Im-Mittelpunkt-stehen plötzlich mal nicht passe? Leute wie Moshammer verdummten die Welt mit ihrem selbst aufgesetzten Heiligenschein und es sei vollkommen in Ordnung, wenn man mal sehe, was da wirklich los sei. Es gehe nicht allein um Moshammer, der vielleicht eine bemitleidenswerte Witzfigur gewesen sei, sondern um die ganze Riege sogenannter Möchtegern-Stars und B-Promis, die ihre Prominenz durch haarsträubenden Schwachsinn erlangten, erst recht, wenn sie dann mit verlogener Miene einen Scheck für einen angeblich guten Zweck zückten.
   Es gebe eine stille Übereinkunft in den Medien, nicht unterhalb der Gürtellinie zu berichten, und das aus gutem Grund, belehrte ihn Sevi. Auch im Internet gebe es inzwischen Regeln. Das Recht auf Privatsphäre entspreche dem Recht auf seelische und körperliche Unversehrtheit, es sei ein Menschenrecht, unabhängig davon, ob man jemanden möge oder nicht. Dass Moshammer ermordet worden sei, und zwar ja wohl von einem Hetero, zeige, dass es mit diesem Recht Schwulen gegenüber immer noch nicht weit her sei.
   „Ich würde das doch nicht machen“, wehrte sich Bart, „ich denke nur darüber nach, wie es wäre.“
   „Schon dass du drüber nachdenkst, ist verwerflich.“
   Bart verstand die Welt nicht mehr. Verwerflich. Er schüttelte den Kopf über die moralische Entrüstung, die ihm da entgegenbrandete für etwas, das eigentlich nur als harmloser Spaß gemeint war, über die Bravheit der Argumente, über die mangelnde Lust an einem subversiven Gedankenspiel. Wie konnte man ausgerechnet für Rudolph Moshammer Partei ergreifen, selbst wenn der das Pech gehabt hatte, von einem Stricher erdrosselt zu werden? Was ihn besonders wunderte, war die Heftigkeit, mit der ihn Sevi angriff, der Ton, in dem er ihn abkanzelte; er sprach nicht einmal mit ihm, sondern mit Christoph, über ihn hinweg. Und das nach allem, was sie vor einer Stunde geredet hatten. Jetzt ereiferte er sich, Christophs Zustimmung suchend, über gewisse Künstler, die krampfhaft nach einem Tabu suchten, um es unter medialer Aufmerksamkeit zu brechen, die sich zum Bürgerschreck stilisierten, ihren Provokationen aber keinerlei Inhalt, keine nachvollziehbare Kritik, keinen aufklärerischen Gedanken mitgäben, das sei nun wirklich so was von Achtziger, spätestens Neunziger, also „Tempi passati“. Was, verdammt noch mal, hatte er, Bart, damit zu tun? Sevi ließ ein paar Namen fallen, brachte Beispiele, Bart erwiderte etwas, warf ihm Humorlosigkeit und Spießigkeit vor, es ging eine Weile hin und her und schaukelte sich auf zu einem ausgewachsenen Beziehungszwist. Christoph machte große Augen.
   „Wir streiten uns“, unterbrach Bart irgendwann. „Merkst du das, Sevi? Wir führen Krieg. Warum bekämpfst du mich?“
   „Du bekämpfst mich doch auch.“
   „Aber du verbündest dich mit Christoph gegen mich. Warum willst du mich bloßstellen?“
   Sevi hielt inne. „Bloßstellen will ich dich nur, wenn wir alleine sind.“
   Er sah ihn tief an mit seinen wespengelben Augen, lächelte, und Bart war für den Moment versöhnt.
   Zeit für den ersten Alkohol. Sie wollten das Lokal wechseln.
   Bart schlug das Savoy vor, einen Ort, wo es „noch Menschen“ gäbe.
   „Dein Stammcafé, stimmt’s?“, meinte Christoph, froh dass der Friede wiederhergestellt schien.
   Das Savoy sei ihm zu trashig, meinte Sevi.
   „Trashig?“, fuhr Bart auf. Das habe doch mit Trash nichts zu tun, das Savoy sei einfach, wie es sei, man habe es nicht aufpoliert, man habe auch die Leute, die dort hingingen, nicht aufpoliert, sondern sie so gelassen, wie sie sind. Auch in Wien gebe es nicht viele Orte, aus denen man nicht versuche, noch mehr Geld herauszupressen, weshalb er es da angenehm finde, denn da könne auch er bleiben, wie er sei. Ob Sevi das verstehe?
   Das Savoy sei einfach nicht schön, meinte Sevi zugeknöpft. Es sei schmuddelig. Ins Soundso könnten sie gehen, da sei es nett.
   Nett. Was denn das für eine Kategorie sei, nett, ereiferte sich Bart. Etwas Nettes brauche er nicht in seinem Leben. Etwas Nettes schläfere ihn ein. Entweder sei etwas wirklich schön, oder es sei interessant, oder bringe ihn auf irgendeine Weise weiter, aber etwas Nettes sei so gut wie nicht existent, etwas Nettes bemerke er nicht.

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Rudolph Moshammer im Juli 1999 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe)
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