Kulturkampf
Da hatten wir den ersten Streit, würde sich Bart später erinnern. In dieser Bar am Karlsplatz, wie hieß sie noch mal? Am zweiten Abend, gleich nach der Oper. Ein Streit um echtes Gefühl und wahre Empfindung, und beides sprachen wir einander ab. Das Festlegen des anderen auf eine Position, aus der man nicht mehr bereit ist, ihn zu entlassen. Du bist nicht echt, Sevi. Du hast keinen Stil, Bart. Am zweiten Abend schon ein echter Streit. Mit Liebe hatte das nicht viel zu tun.
Sevi hatte Architektur studiert, schob aber sein Diplom hinaus und jobbte vier halbe Tage pro Woche in einer Werbeagentur. Morgens um acht Uhr verließen sie gemeinsam ohne Frühstück das Haus. Bart hatte seine Sachen noch in Christophs bunter Mitwohnzentralen-Wohnung. Er brauchte neue Unterhosen. Sevi erklärte ihm, mit welchen U- und Straßenbahnen er hinkäme. Nach Arbeitsschluss, so gegen halb vier Uhr nachmittags, wolle er ihn dort abholen.
Bart ging zu Fuß. Segelte durch die Straßen, die schräge Wintersonne im Genick, und saugte Eindrücke in sich auf. Alles, was er sah, war neu, also war auch er selber neu. Er war verliebt, also liebte er auch sich selbst. Ein neues Kapitel in seinem Leben. Was auf den vorangegangenen Seiten stand, verblasste. Diese Stadt schien wie für ihn gemacht, er war diese Stadt, sie spiegelte neue Möglichkeiten seiner Person, sie öffnete sich für ihn, sie ließ ihn ein. Während er das Zubehör für sein Frühstück zusammenkaufte, fühlte er, wie das Leben ihn durchströmte.
Christoph war schon nicht mehr zu Hause, aber Bart hatte einen Schlüssel. Während er frühstückte las er eine Wiener Zeitung mit rosafarbenen Seiten, las sie bis zur letzten Anzeige. Er stand eine halbe Stunde träumend unter der Dusche, zog dann aus dem Bücherregal des ursprünglichen Bewohners irgendein Buch heraus und als er darin zu lesen anfing, merkte er, dass er sich hinlegen musste. Irgendwann klingelte es. Sevi. Er legte sich zu ihm, und umschlungen schliefen sie noch eine halbe Stunde.
Am späten Nachmittag waren sie mit Christoph verabredet, der seinen ersten Arbeitstag hinter sich hatte. Sie hatten sich per Handy im Café Sperl verabredet, einem alten, großräumigen Kaffeehaus mit zahllosen Spiegeln und knarrenden Dielen, in dem Serviererinnen im Rentenalter in schwarzen Kleidern und weißen Spitzenschürzen die Bestellungen austrugen. Auf dem Billardtisch lagen Hunderte von Zeitungen und Zeitschriften. Sevi redete über Politik und präsentierte Lachnummern österreichischer Politik. Dabei zeigte er sich als wach, kritisch, links, schimpfte über Wiener Bausünden, Küss-die-Hand-Nepotismus, das Redbull-Wirtschaftswunder, vorauseilenden Kratzfuß-Gehorsam, die neue und die alte Rechte, über Opernball- und Champagnerseligkeit und die landestypische Neigung zur Selbstzerfleischung; anhand der bizarrsten Erscheinungen verhalf er seinen deutschen Gästen zu einem Einblick in das geradezu klischeehaft ausgemalte Brunnendunkel des Nationalcharakters. Sehr unterhaltsam alles, sie aßen Kuchen. Hin und wieder fing Bart einen Blick von Christoph auf, der ihn sichtlich um sein Glück beneidete.
Für den Abend war Christoph mit einer Wiener Freundin verabredet, die er von einem Studienaustausch her kannte. Sie wollten miteinander ins Akademietheater.
„Sollen wir mitgehen?“, fragte Sevi.
„Okay, machen wir ein bisschen auf Kultur“, meinte Bart.
Wieder wehte lauer Wind, als sie durch die weihnachtlich glitzernde Stadt liefen. Als sie vor dem Theater auf Christophs Austauschfreundin trafen, stellte sich heraus, dass sie und Sevi sich kannten.
„Die Welt ist klein, gell?“, sagte Christoph.
Keine Karten mehr.
„Wenn wir schon auf Kultur machen“, meinte Bart, „warum nicht gleich in die Oper?“
Eine Viertelstunde später standen sie vor der Staatsoper, diesem monumental überladenen Kasten mit Doppelauffahrt, auf der das geistige Auge adlige Damen in Abendrobe und Herren mit Zylinder mehrspännigen Kutschen entsteigen sah. Bart war seit hundert Jahren nicht mehr in der Oper gewesen, doch jetzt fand er, dass es passte. Es passte zu Wien, passte zu seinem neuen Leben. Man spielte Elektra von Richard Strauss in einer fünfzehn Jahre alten Inszenierung. Christoph und seine Erasmus-Bekannte bekamen mit ihrem Studentenausweis Sitzplätze, Sevi und Bart mussten stehen. Elektra sang vor einem Standbild ihres Vaters Agamemnon, so groß, dass nur das rechte Bein sichtbar war. Es steckte bis zum Knie in einem Militärstiefel, der auf einer durchlöcherten Erdkugel ruhte. Der Rest des Feldherrn musste übers Bühnenhaus hinaus in den Wiener Winterhimmel ragen. Das Haupt des überlebensgroßen Vaters, mächtig wie ein Gartenhaus, lag neben dem monströsen Fuß. Offenbar hatte man den mykenischen Helden demontiert, Seile, mit denen man dieses Haupt wohl von den Statuenschultern geholt hatte, hingen von einem unbestimmten Oben herunter, in denen sich die Tochter Elektra nun verstrickte. Chiffren zum Dechiffrieren, Metaphern, spannend wie ein Abzählvers, Bedeutungslego der Theaterwissenschaftler. Elektras Herumgespiele mit den Stricken hatte seine eigene Komik. Bart musste mehrmals laut lachen, weil es aussah, als würde die schwergewichtige Sängerin mit ihrer Liane zum Tarzanschwung über die Bühne ansetzen. Deklamatorische Gesten, ausgebreitete Arme, In-die-Knie-Knicken nach dem Gefühlsausbruch, während sich aus dem Wust der strauss’schen Musik tonale Sehnsuchtsinseln formten, deretwegen das Publikum gekommen war.
Nach der Vorstellung diskutierte Sevi mit Christophs Austauschfreundin erregt über die Inszenierung. Bart registrierte es staunend. Was gab es da zu reden?
„Siehst du, die Wiener Jugend lässt sich über Operninszenierungen aus, während die Leute bei uns zu Hause drüber streiten, ob Six Feet Under oder Two and a half Men besser ist“, kommentierte Christoph.
Sie verlagerten das Gespräch in eine Bar in einem Glaspavillon am Karlsplatz.
„Veraltete Inszenierung“, meinte Sevi zu Bart, der demonstrativ geschwiegen hatte. „Man musste sich eben an die Musik halten.“
Bart sah ihn an, als käme er vom Mars.
„Zum Totlachen“, erwiderte er. „Und zwar alles.“
Sevi schaute.
„Selbst wenn das Bühnenbild ein Wurf, die Inszenierung perfekt, die Sänger Weltspitze gewesen wären. Zum Totlachen. Auch die Musik.“
Sevi verstand nicht. Natürlich sei das alles aus einer anderen Zeit, meinte er mit Nachsicht im Ton für Barts vermeintliche Unerfahrenheit in Kulturangelegenheiten, aus einer anderen Welt, man müsse sich eben darauf einlassen, dann entwickle es einen eigenen Sog, wie alles, worauf man sich einlasse, man könne schließlich nicht die ganze Zeit Techno hören.
„Du verstehst mich nicht“, sagte Bart. „Warum sollte sich jemand darauf einlassen? Das ist Talmi. Tot. Quatsch. Eine Gefühlssimulation.“
Sevi widersprach. Was, bitte, echtes Gefühl sei und wie er es von simuliertem unterscheiden wolle? Ob es, im Bereich des Gefühls denn überhaupt etwas Echtes gebe, ein Gefühl könne schließlich nicht echter sein als das andere, alle seien gleich echt.
Natürlich sei das, was man da im Theater gesehen habe, echt, erwiderte Bart, durch und durch echt. Echter Bühnenstaub, echter schlechter Geschmack, echtes Geschwurbel. Vielleicht sollte man darüber reden, was da eigentlich erzählt werde, aus welchen tiefen und tiefsten Motiven der Regisseur, der Bühnenbildner, der Dirigent, der Komponist, der Librettist und all die Pappmaché-Brüder machten, was sie da gemacht hätten. Da gebe es dieses läppische Groß-Ich, das ebenso läppische bürgerliche Großgefühle hervorbringe. Eben dieses Ich bediene die Musik, ihm gebe sie Zucker, erzeuge Futter für seine edlen Schmerzen und seinen narzisstischen Dünkel. Er, Bart, hasse Gefühle, jedenfalls diese Art von Gefühlen. Er habe Lust draufzuscheißen auf solche Gefühle. Er hasse diese Bildungsbürger, die die Pedale von Konzertflügeln lutschten. „Aber heute konnte ich mal richtig drüber lachen. Elektra an der Liane. Mich richtig schlapplachen. War die elf Euro wert, echt.“
Der Individualismus sei nun mal das Markenzeichen unserer Kultur, sagte Sevi, Barts kriegerischen Ton überhörend, indem er das Kinn auf die Hand mit dem Siegelring stützte. Jeder Fortschritt in den letzten fünfhundert Jahren, ob auf gesellschaftlichem, technischem oder kulturellem Gebiet, stehe im Zusammenhang mit Individualismus und Aufklärung. „Wie willst du dich denn befreien aus der Prägung durch dieses Individualitätskonzept, dem auch du zweifelsohne unterliegst?“
„Oh Gott, red nicht so.“
„Wenn du etwas derart hart kritisierst, musst du eine Alternative aufzeigen. Was wäre das Gegenmodell?“
„Anschauung“, rief Bart, nachdem er kurz überlegt hatte. „Das ist das Gegenmodell. Aufmerksamkeit. Konzentration auf das, was du sehen, hören, riechen, tasten kannst. Was schnell ist oder langsam, laut oder leise, nicht, was weiß ich, betörend oder abstoßend. Klar, jetzt wirst du dich gleich wieder mit diesem postmodernen Standpunkt kommen, dass es nichts Authentisches gibt, dass unser Leben nur aus Codes, Zeichensystemen oder Redeweisen besteht, am allerwenigsten aus Wahrheit. Wolltest du das sagen? Ja?“
„Entschuldige, mir hat es doch auch nicht gefallen“, wehrte sich Sevi.
„Ich weiß ganz sicher, dass es etwas Echtes gibt. Ich weiß, dass es einen direkten Weg gibt zu den Dingen, einen unvermittelten, unmittelbaren. Das spüre ich und davon kann ich keinen Zentimeter abrücken.“
„Ihr packt ja aus!“, sagte Christoph erschrocken. „Da sind meine Professoren ja Waisenknaben.“
Sevi überhörte den Einwurf und drehte Bart den Kopf mit der Exaktheit einer Eule zu.
„Elektra, die als Einzige am Hof von Mykene die Erinnerung an die Ermordung ihres Vaters aufrechterhält, das ist ein echter Konflikt. Das ist ein antiker Stoff. Da gab es noch kein Bildungsbürgertum und keine Zeichentheorie. Deine Suche nach dem Echten ist doch auch wieder was Romantisches. Das ist so bürgerlich wie …“
Bart suchte Sevis Blick.
„Sevi, du kannst gerade in meine Seele sehen. Ich will, dass du verstehst, was ich meine. Es gibt eine bescheidenere Art, dem Leben zu begegnen. Wir sind schwul. Wir sind immer noch die Missfits dieser Gesellschaft, auch wenn sie so tut, als wäre es anders. Wieso dann ihre bescheuerten Kulturrituale mitfeiern? Wieso Mykene? Man kann die Dinge wirklich anschauen. Man kann einfach, konkret und genau leben. Ich weiß auch nicht wirklich, wie das geht, aber ich will es lernen. Es ist das Wichtigste, was man lernen kann. Vielleicht lernt man es automatisch, wenn man ein ehrliches Interesse an der Welt hat und sich selbst. Sevi, hörst du mir zu? Wenn du das verstehst, dann verstehst du mich. Dann muss ich dir nichts mehr über meine Kindheit erzählen. Ich mag die dreckigen Läden. Ich will mit diesen Kitschgefühlen nichts zu tun haben, auch wenn ich dann in deinen Augen ein Schimpanse bin.“
Sevi schwieg nicht, wie Bart es gehofft hatte, er widersprach. Er fing an, über die griechische Tragödie zu reden, über Katharsis, Furcht und Mitleid, und leitete daraus irgendetwas ab. Bart hörte nicht mehr zu. Er war zu ergriffen von sich selbst und zog es vor, in der Enttäuschung darüber zu verharren, dass Sevi ihn nicht verstand.
Weitere Kapitel:
Da hatten wir den ersten Streit, würde sich Bart später erinnern. In dieser Bar am Karlsplatz, wie hieß sie noch mal? Am zweiten Abend, gleich nach der Oper. Ein Streit um echtes Gefühl und wahre Empfindung, und beides sprachen wir einander ab. Das Festlegen des anderen auf eine Position, aus der man nicht mehr bereit ist, ihn zu entlassen. Du bist nicht echt, Sevi. Du hast keinen Stil, Bart. Am zweiten Abend schon ein echter Streit. Mit Liebe hatte das nicht viel zu tun.
Sevi hatte Architektur studiert, schob aber sein Diplom hinaus und jobbte vier halbe Tage pro Woche in einer Werbeagentur. Morgens um acht Uhr verließen sie gemeinsam ohne Frühstück das Haus. Bart hatte seine Sachen noch in Christophs bunter Mitwohnzentralen-Wohnung. Er brauchte neue Unterhosen. Sevi erklärte ihm, mit welchen U- und Straßenbahnen er hinkäme. Nach Arbeitsschluss, so gegen halb vier Uhr nachmittags, wolle er ihn dort abholen.
Bart ging zu Fuß. Segelte durch die Straßen, die schräge Wintersonne im Genick, und saugte Eindrücke in sich auf. Alles, was er sah, war neu, also war auch er selber neu. Er war verliebt, also liebte er auch sich selbst. Ein neues Kapitel in seinem Leben. Was auf den vorangegangenen Seiten stand, verblasste. Diese Stadt schien wie für ihn gemacht, er war diese Stadt, sie spiegelte neue Möglichkeiten seiner Person, sie öffnete sich für ihn, sie ließ ihn ein. Während er das Zubehör für sein Frühstück zusammenkaufte, fühlte er, wie das Leben ihn durchströmte.
Christoph war schon nicht mehr zu Hause, aber Bart hatte einen Schlüssel. Während er frühstückte las er eine Wiener Zeitung mit rosafarbenen Seiten, las sie bis zur letzten Anzeige. Er stand eine halbe Stunde träumend unter der Dusche, zog dann aus dem Bücherregal des ursprünglichen Bewohners irgendein Buch heraus und als er darin zu lesen anfing, merkte er, dass er sich hinlegen musste. Irgendwann klingelte es. Sevi. Er legte sich zu ihm, und umschlungen schliefen sie noch eine halbe Stunde.
Am späten Nachmittag waren sie mit Christoph verabredet, der seinen ersten Arbeitstag hinter sich hatte. Sie hatten sich per Handy im Café Sperl verabredet, einem alten, großräumigen Kaffeehaus mit zahllosen Spiegeln und knarrenden Dielen, in dem Serviererinnen im Rentenalter in schwarzen Kleidern und weißen Spitzenschürzen die Bestellungen austrugen. Auf dem Billardtisch lagen Hunderte von Zeitungen und Zeitschriften. Sevi redete über Politik und präsentierte Lachnummern österreichischer Politik. Dabei zeigte er sich als wach, kritisch, links, schimpfte über Wiener Bausünden, Küss-die-Hand-Nepotismus, das Redbull-Wirtschaftswunder, vorauseilenden Kratzfuß-Gehorsam, die neue und die alte Rechte, über Opernball- und Champagnerseligkeit und die landestypische Neigung zur Selbstzerfleischung; anhand der bizarrsten Erscheinungen verhalf er seinen deutschen Gästen zu einem Einblick in das geradezu klischeehaft ausgemalte Brunnendunkel des Nationalcharakters. Sehr unterhaltsam alles, sie aßen Kuchen. Hin und wieder fing Bart einen Blick von Christoph auf, der ihn sichtlich um sein Glück beneidete.
Für den Abend war Christoph mit einer Wiener Freundin verabredet, die er von einem Studienaustausch her kannte. Sie wollten miteinander ins Akademietheater.
„Sollen wir mitgehen?“, fragte Sevi.
„Okay, machen wir ein bisschen auf Kultur“, meinte Bart.
Wieder wehte lauer Wind, als sie durch die weihnachtlich glitzernde Stadt liefen. Als sie vor dem Theater auf Christophs Austauschfreundin trafen, stellte sich heraus, dass sie und Sevi sich kannten.
„Die Welt ist klein, gell?“, sagte Christoph.
Keine Karten mehr.
„Wenn wir schon auf Kultur machen“, meinte Bart, „warum nicht gleich in die Oper?“
Eine Viertelstunde später standen sie vor der Staatsoper, diesem monumental überladenen Kasten mit Doppelauffahrt, auf der das geistige Auge adlige Damen in Abendrobe und Herren mit Zylinder mehrspännigen Kutschen entsteigen sah. Bart war seit hundert Jahren nicht mehr in der Oper gewesen, doch jetzt fand er, dass es passte. Es passte zu Wien, passte zu seinem neuen Leben. Man spielte Elektra von Richard Strauss in einer fünfzehn Jahre alten Inszenierung. Christoph und seine Erasmus-Bekannte bekamen mit ihrem Studentenausweis Sitzplätze, Sevi und Bart mussten stehen. Elektra sang vor einem Standbild ihres Vaters Agamemnon, so groß, dass nur das rechte Bein sichtbar war. Es steckte bis zum Knie in einem Militärstiefel, der auf einer durchlöcherten Erdkugel ruhte. Der Rest des Feldherrn musste übers Bühnenhaus hinaus in den Wiener Winterhimmel ragen. Das Haupt des überlebensgroßen Vaters, mächtig wie ein Gartenhaus, lag neben dem monströsen Fuß. Offenbar hatte man den mykenischen Helden demontiert, Seile, mit denen man dieses Haupt wohl von den Statuenschultern geholt hatte, hingen von einem unbestimmten Oben herunter, in denen sich die Tochter Elektra nun verstrickte. Chiffren zum Dechiffrieren, Metaphern, spannend wie ein Abzählvers, Bedeutungslego der Theaterwissenschaftler. Elektras Herumgespiele mit den Stricken hatte seine eigene Komik. Bart musste mehrmals laut lachen, weil es aussah, als würde die schwergewichtige Sängerin mit ihrer Liane zum Tarzanschwung über die Bühne ansetzen. Deklamatorische Gesten, ausgebreitete Arme, In-die-Knie-Knicken nach dem Gefühlsausbruch, während sich aus dem Wust der strauss’schen Musik tonale Sehnsuchtsinseln formten, deretwegen das Publikum gekommen war.
Nach der Vorstellung diskutierte Sevi mit Christophs Austauschfreundin erregt über die Inszenierung. Bart registrierte es staunend. Was gab es da zu reden?
„Siehst du, die Wiener Jugend lässt sich über Operninszenierungen aus, während die Leute bei uns zu Hause drüber streiten, ob Six Feet Under oder Two and a half Men besser ist“, kommentierte Christoph.
Sie verlagerten das Gespräch in eine Bar in einem Glaspavillon am Karlsplatz.
„Veraltete Inszenierung“, meinte Sevi zu Bart, der demonstrativ geschwiegen hatte. „Man musste sich eben an die Musik halten.“
Bart sah ihn an, als käme er vom Mars.
„Zum Totlachen“, erwiderte er. „Und zwar alles.“
Sevi schaute.
„Selbst wenn das Bühnenbild ein Wurf, die Inszenierung perfekt, die Sänger Weltspitze gewesen wären. Zum Totlachen. Auch die Musik.“
Sevi verstand nicht. Natürlich sei das alles aus einer anderen Zeit, meinte er mit Nachsicht im Ton für Barts vermeintliche Unerfahrenheit in Kulturangelegenheiten, aus einer anderen Welt, man müsse sich eben darauf einlassen, dann entwickle es einen eigenen Sog, wie alles, worauf man sich einlasse, man könne schließlich nicht die ganze Zeit Techno hören.
„Du verstehst mich nicht“, sagte Bart. „Warum sollte sich jemand darauf einlassen? Das ist Talmi. Tot. Quatsch. Eine Gefühlssimulation.“
Sevi widersprach. Was, bitte, echtes Gefühl sei und wie er es von simuliertem unterscheiden wolle? Ob es, im Bereich des Gefühls denn überhaupt etwas Echtes gebe, ein Gefühl könne schließlich nicht echter sein als das andere, alle seien gleich echt.
Natürlich sei das, was man da im Theater gesehen habe, echt, erwiderte Bart, durch und durch echt. Echter Bühnenstaub, echter schlechter Geschmack, echtes Geschwurbel. Vielleicht sollte man darüber reden, was da eigentlich erzählt werde, aus welchen tiefen und tiefsten Motiven der Regisseur, der Bühnenbildner, der Dirigent, der Komponist, der Librettist und all die Pappmaché-Brüder machten, was sie da gemacht hätten. Da gebe es dieses läppische Groß-Ich, das ebenso läppische bürgerliche Großgefühle hervorbringe. Eben dieses Ich bediene die Musik, ihm gebe sie Zucker, erzeuge Futter für seine edlen Schmerzen und seinen narzisstischen Dünkel. Er, Bart, hasse Gefühle, jedenfalls diese Art von Gefühlen. Er habe Lust draufzuscheißen auf solche Gefühle. Er hasse diese Bildungsbürger, die die Pedale von Konzertflügeln lutschten. „Aber heute konnte ich mal richtig drüber lachen. Elektra an der Liane. Mich richtig schlapplachen. War die elf Euro wert, echt.“
Der Individualismus sei nun mal das Markenzeichen unserer Kultur, sagte Sevi, Barts kriegerischen Ton überhörend, indem er das Kinn auf die Hand mit dem Siegelring stützte. Jeder Fortschritt in den letzten fünfhundert Jahren, ob auf gesellschaftlichem, technischem oder kulturellem Gebiet, stehe im Zusammenhang mit Individualismus und Aufklärung. „Wie willst du dich denn befreien aus der Prägung durch dieses Individualitätskonzept, dem auch du zweifelsohne unterliegst?“
„Oh Gott, red nicht so.“
„Wenn du etwas derart hart kritisierst, musst du eine Alternative aufzeigen. Was wäre das Gegenmodell?“
„Anschauung“, rief Bart, nachdem er kurz überlegt hatte. „Das ist das Gegenmodell. Aufmerksamkeit. Konzentration auf das, was du sehen, hören, riechen, tasten kannst. Was schnell ist oder langsam, laut oder leise, nicht, was weiß ich, betörend oder abstoßend. Klar, jetzt wirst du dich gleich wieder mit diesem postmodernen Standpunkt kommen, dass es nichts Authentisches gibt, dass unser Leben nur aus Codes, Zeichensystemen oder Redeweisen besteht, am allerwenigsten aus Wahrheit. Wolltest du das sagen? Ja?“
„Entschuldige, mir hat es doch auch nicht gefallen“, wehrte sich Sevi.
„Ich weiß ganz sicher, dass es etwas Echtes gibt. Ich weiß, dass es einen direkten Weg gibt zu den Dingen, einen unvermittelten, unmittelbaren. Das spüre ich und davon kann ich keinen Zentimeter abrücken.“
„Ihr packt ja aus!“, sagte Christoph erschrocken. „Da sind meine Professoren ja Waisenknaben.“
Sevi überhörte den Einwurf und drehte Bart den Kopf mit der Exaktheit einer Eule zu.
„Elektra, die als Einzige am Hof von Mykene die Erinnerung an die Ermordung ihres Vaters aufrechterhält, das ist ein echter Konflikt. Das ist ein antiker Stoff. Da gab es noch kein Bildungsbürgertum und keine Zeichentheorie. Deine Suche nach dem Echten ist doch auch wieder was Romantisches. Das ist so bürgerlich wie …“
Bart suchte Sevis Blick.
„Sevi, du kannst gerade in meine Seele sehen. Ich will, dass du verstehst, was ich meine. Es gibt eine bescheidenere Art, dem Leben zu begegnen. Wir sind schwul. Wir sind immer noch die Missfits dieser Gesellschaft, auch wenn sie so tut, als wäre es anders. Wieso dann ihre bescheuerten Kulturrituale mitfeiern? Wieso Mykene? Man kann die Dinge wirklich anschauen. Man kann einfach, konkret und genau leben. Ich weiß auch nicht wirklich, wie das geht, aber ich will es lernen. Es ist das Wichtigste, was man lernen kann. Vielleicht lernt man es automatisch, wenn man ein ehrliches Interesse an der Welt hat und sich selbst. Sevi, hörst du mir zu? Wenn du das verstehst, dann verstehst du mich. Dann muss ich dir nichts mehr über meine Kindheit erzählen. Ich mag die dreckigen Läden. Ich will mit diesen Kitschgefühlen nichts zu tun haben, auch wenn ich dann in deinen Augen ein Schimpanse bin.“
Sevi schwieg nicht, wie Bart es gehofft hatte, er widersprach. Er fing an, über die griechische Tragödie zu reden, über Katharsis, Furcht und Mitleid, und leitete daraus irgendetwas ab. Bart hörte nicht mehr zu. Er war zu ergriffen von sich selbst und zog es vor, in der Enttäuschung darüber zu verharren, dass Sevi ihn nicht verstand.