Vor der Prüfungskommission
Die Gäste kamen. Alles enge Freunde von Sevi, die sich reihum im Vierzehntagesabstand zu einem gemeinschaftlichen Essen trafen. Sevi hatte am Abend, bevor er Bart kennengelernt hatte, teuer eingekauft und nun groß aufgekocht. Eine geschlossene Gesellschaft, wie er erzählt hatte, normalerweise waren Partner nicht zugelassen, und Bart war klar, welches Risiko er einging, wenn er seine Freunde ohne Vorwarnung mit seiner Anwesenheit konfrontierte. Als Erstes erschienen die Mädchen. Bedingt hübsch, unauffällig gekleidet, ein wenig bieder, graue Mäuse irgendwie. So ist man vielleicht, wenn man um die dreißig ist und ein geordnetes Leben führt, dachte er, der seit fünfzehn Jahren das Leben eines Fünfundzwanzigjährigen lebte. Dann kamen die Jungs, auch sie konventionell in seinen Augen, ohne Ecken, Kanten oder Überraschungen. Er lernte den wienerischen Umgangston kennen, den ewig unernsten Unterklang, die Ironie, das lose Hin- und Herschwingen zwischen Häme und Vertraulichkeit. Die beiden Jungs, Anton und Leo, waren schwul. Antons neuer Freund wurde durchgehechelt, besonders von den Mädchen: unter die Lupe genommen, in Teile zerlegt und wieder zusammengesetzt. Anton hatte beinahe indiskrete Detailfragen zu beantworten, und jeder, der den Neuen schon gesehen hatte, gab seinen Kommentar ab. Bart war klar, dass bei der nächsten Sitzung er an der Reihe sein würde. Er staunte, wie offen diese Leute miteinander umgingen, ohne die geringste Scheu, nach intimen Dingen zu fragen und die Fragen zu beantworten.
„Und was machst du so?“, sagte plötzlich jemand und sah ihn an. Stille mit einem Mal. Erwartungsvolle Blicke. Er stand vor der Prüfungskommission. Als Sevis neuer Partner – nichts anderes konnte es ja bedeuten, wenn er ihn auf diesem Weg vorstellte – hatte er vor den gestrengen Augen des Freundeskreises zu bestehen.
Bart sprach nicht gern über sich, vielleicht weil es in seiner Biographie kaum etwas gab, das sich als bürgerlicher Erfolg verzeichnen ließ. Jetzt versuchte er, ausführlich zu sein und dabei ein entspanntes, positives Bild abzugeben: dass er nach langer Zeit sein Philosophiestudium wieder aufgenommen habe, da er im Augenblick keine andere sinnvolle Beschäftigung sehe; dass er vorhabe, irgendwann im Ausland zu leben und vielleicht einmal ein Buch zu schreiben, dass das überhaupt sein größter Traum sei; er stelle sich vor, dass die Hauptarbeit beim Schreiben darin bestehe, bewusst zu leben, und wenn es einem dann gelinge, mit seinen Produkten auch anderen Menschen ihr Leben bewusst zu machen, dann sei das das Höchste, was man erreichen könne.
Während er sprach, wechselten die Blicke der Kommissionsmitglieder zwischen ihm und Sevi hin und her, und als er geendet hatte, nickten sie beifällig. Das Scanning war vorbei.
Marion, die Schüchternste, wollte wissen, was genau ein Mann in welchem Körperteil empfinde, wenn er mit einer Frau schlief. Die Männer witzelten eine Weile, dann überlegten sie, ob es überhaupt jemanden im Raum gebe, der diese Frage beantworten könne. Claudia, die am Kopfende saß, hatte Brustkrebs. Man unterhielt sich offen über ihre Chemotherapie, ihre Ängste und darüber, welche Auswirklungen die Krankheit auf den Sex mit ihrem Freund habe. Sie war dreißig. Bald, sagte sie, würden ihr die Haare ausfallen. Die Freunde stießen auf ihre Gesundheit an. Sevi war die ganze Zeit sehr zurückhaltend, setzte sich nicht in Szene, kehrte nicht den perfekten Gastgeber heraus, wie Bart insgeheim befürchtet hatte, sondern war ehrlich bemüht, allen einen schönen Abend zu bereiten. Irgendwann verschwand Bart mit ihm aufs Klo und ließ sich seinen Schwanz zeigen.
„Sie mögen dich“, flüsterte Sevi und küsste ihn.
Es schien ihm wichtig zu sein.
Auch Bart mochte nun Sevis Freunde. Nette, erfrischend normale Leute, ganz anders als die Freaks und Sonderlinge, mit denen er sich vorzugsweise umgab. Sie hatten ihn von sich überzeugt, er hätte selber gern solche Freunde gehabt. Die kleine Wolke hatte sich verzogen, sich als neblige Einbildung herausgestellt. Jemand, der solche Freunde hat, kann in seinem Leben gar nicht so schief liegen, sagte er sich.
Sie hatten nur drei Stunden Schlaf gehabt. Als die Gäste gegangen waren, hingen sie erschöpft und mit vollem Magen auf dem Sofa. Ob er mal was mit einer Frau gehabt habe, fragte Sevi.
Ja, erwiderte Bart, oft. Er habe auch Beziehungen mit Frauen gehabt, eine davon habe über ein Jahr gedauert.
„Aber dann hättest du doch sagen können, was ein Mann empfindet, wenn er mit einer Frau schläft!“
Und er, Sevi? Ob auch er mal mit einer Frau geschlafen habe?
Sevi nickte.
Und seine längste Beziehung mit einem Mann, wie lange sei die gewesen?
„Acht Wochen“, seufzte Sevi.
„Acht Wochen? Warum nur acht Wochen?“
Das könne er nicht sagen, meinte Sevi. Vielleicht sei er damals noch nicht reif für eine Beziehung gewesen.
Damals noch nicht reif, überlegte Bart. Und heute?
Und da war es wieder, das kokette, sich entziehende Lächeln, das Bart am Nachmittag erschreckt hatte und das er jetzt wohl als eine verrutschte Art von Eheversprechen begreifen sollte.
Warum denn nur kokett? Warum gerade jetzt? Barts längste Beziehung mit einem Mann hatte neun Jahre gedauert, wieso fragte Sevi nicht danach?
Stattdessen holte er einen Schuhkarton heraus und zeigte Fotos von früher. Sevi mit weißer Hose in Rom, Sevi müde in einem Straßencafé, Sevi mit neunzehn und ohne Spitzbart im Garten eines Wirtshauses, beim Skifahren im Skianzug, vor der Postkartenlandschaft eines norwegischen Fjords: immer elegant, immer die langen Haare, mal als Zopf, mal offen, meist in Pose. Sevi fickte nicht herum, hatte nur dreimal Sex im Jahr. Er war sich langweilig, sein Leben verlief in der immergleichen Bahn. Lag es daran, dass er sich aufsparte? Dass ihm der Selbstvergeudungsmodus fremd war? Dass er sich im tiefsten Innern zu gut fürs Leben war? Sevi wollte etwas Besonderes sein, die Fotos bestätigten das in Barts Augen. Aber was ist so schlimm daran, überlegte er, ich will doch auch was Besonderes sein. Wenn auch auf diametral andere Weise. Wenn er einen Freund hätte, würde er ihm treu sein, hatte Sevi am Nachmittag behauptet, als sie nach dem Sex auf dem Boden gelegen hatten. Bart sah keinen Grund, daran zu zweifeln. In diesem Punkt zweifelte er nur an sich selbst. Was für ein Mensch also war Sevi? Gehörte er zu den Guten oder zu den Bösen? Gut oder böse in Bezug auf ihn? Wie konnte er herausfinden, ob es sich lohnte, sich auf ihn einzulassen? Du bist ein Trottel, rief er sich zur Ordnung, er lässt sich auf dich ein, das hat er doch heute Abend bewiesen.
Sie waren todmüde. Morgen war Montag und Sevi musste arbeiten. Sie legten die für den Besuch weggeräumten Matratzen wieder auf den Boden und hatten langen, innigen Sex.
Weitere Kapitel:
Die Gäste kamen. Alles enge Freunde von Sevi, die sich reihum im Vierzehntagesabstand zu einem gemeinschaftlichen Essen trafen. Sevi hatte am Abend, bevor er Bart kennengelernt hatte, teuer eingekauft und nun groß aufgekocht. Eine geschlossene Gesellschaft, wie er erzählt hatte, normalerweise waren Partner nicht zugelassen, und Bart war klar, welches Risiko er einging, wenn er seine Freunde ohne Vorwarnung mit seiner Anwesenheit konfrontierte. Als Erstes erschienen die Mädchen. Bedingt hübsch, unauffällig gekleidet, ein wenig bieder, graue Mäuse irgendwie. So ist man vielleicht, wenn man um die dreißig ist und ein geordnetes Leben führt, dachte er, der seit fünfzehn Jahren das Leben eines Fünfundzwanzigjährigen lebte. Dann kamen die Jungs, auch sie konventionell in seinen Augen, ohne Ecken, Kanten oder Überraschungen. Er lernte den wienerischen Umgangston kennen, den ewig unernsten Unterklang, die Ironie, das lose Hin- und Herschwingen zwischen Häme und Vertraulichkeit. Die beiden Jungs, Anton und Leo, waren schwul. Antons neuer Freund wurde durchgehechelt, besonders von den Mädchen: unter die Lupe genommen, in Teile zerlegt und wieder zusammengesetzt. Anton hatte beinahe indiskrete Detailfragen zu beantworten, und jeder, der den Neuen schon gesehen hatte, gab seinen Kommentar ab. Bart war klar, dass bei der nächsten Sitzung er an der Reihe sein würde. Er staunte, wie offen diese Leute miteinander umgingen, ohne die geringste Scheu, nach intimen Dingen zu fragen und die Fragen zu beantworten.
„Und was machst du so?“, sagte plötzlich jemand und sah ihn an. Stille mit einem Mal. Erwartungsvolle Blicke. Er stand vor der Prüfungskommission. Als Sevis neuer Partner – nichts anderes konnte es ja bedeuten, wenn er ihn auf diesem Weg vorstellte – hatte er vor den gestrengen Augen des Freundeskreises zu bestehen.
Bart sprach nicht gern über sich, vielleicht weil es in seiner Biographie kaum etwas gab, das sich als bürgerlicher Erfolg verzeichnen ließ. Jetzt versuchte er, ausführlich zu sein und dabei ein entspanntes, positives Bild abzugeben: dass er nach langer Zeit sein Philosophiestudium wieder aufgenommen habe, da er im Augenblick keine andere sinnvolle Beschäftigung sehe; dass er vorhabe, irgendwann im Ausland zu leben und vielleicht einmal ein Buch zu schreiben, dass das überhaupt sein größter Traum sei; er stelle sich vor, dass die Hauptarbeit beim Schreiben darin bestehe, bewusst zu leben, und wenn es einem dann gelinge, mit seinen Produkten auch anderen Menschen ihr Leben bewusst zu machen, dann sei das das Höchste, was man erreichen könne.
Während er sprach, wechselten die Blicke der Kommissionsmitglieder zwischen ihm und Sevi hin und her, und als er geendet hatte, nickten sie beifällig. Das Scanning war vorbei.
Marion, die Schüchternste, wollte wissen, was genau ein Mann in welchem Körperteil empfinde, wenn er mit einer Frau schlief. Die Männer witzelten eine Weile, dann überlegten sie, ob es überhaupt jemanden im Raum gebe, der diese Frage beantworten könne. Claudia, die am Kopfende saß, hatte Brustkrebs. Man unterhielt sich offen über ihre Chemotherapie, ihre Ängste und darüber, welche Auswirklungen die Krankheit auf den Sex mit ihrem Freund habe. Sie war dreißig. Bald, sagte sie, würden ihr die Haare ausfallen. Die Freunde stießen auf ihre Gesundheit an. Sevi war die ganze Zeit sehr zurückhaltend, setzte sich nicht in Szene, kehrte nicht den perfekten Gastgeber heraus, wie Bart insgeheim befürchtet hatte, sondern war ehrlich bemüht, allen einen schönen Abend zu bereiten. Irgendwann verschwand Bart mit ihm aufs Klo und ließ sich seinen Schwanz zeigen.
„Sie mögen dich“, flüsterte Sevi und küsste ihn.
Es schien ihm wichtig zu sein.
Auch Bart mochte nun Sevis Freunde. Nette, erfrischend normale Leute, ganz anders als die Freaks und Sonderlinge, mit denen er sich vorzugsweise umgab. Sie hatten ihn von sich überzeugt, er hätte selber gern solche Freunde gehabt. Die kleine Wolke hatte sich verzogen, sich als neblige Einbildung herausgestellt. Jemand, der solche Freunde hat, kann in seinem Leben gar nicht so schief liegen, sagte er sich.
Sie hatten nur drei Stunden Schlaf gehabt. Als die Gäste gegangen waren, hingen sie erschöpft und mit vollem Magen auf dem Sofa. Ob er mal was mit einer Frau gehabt habe, fragte Sevi.
Ja, erwiderte Bart, oft. Er habe auch Beziehungen mit Frauen gehabt, eine davon habe über ein Jahr gedauert.
„Aber dann hättest du doch sagen können, was ein Mann empfindet, wenn er mit einer Frau schläft!“
Und er, Sevi? Ob auch er mal mit einer Frau geschlafen habe?
Sevi nickte.
Und seine längste Beziehung mit einem Mann, wie lange sei die gewesen?
„Acht Wochen“, seufzte Sevi.
„Acht Wochen? Warum nur acht Wochen?“
Das könne er nicht sagen, meinte Sevi. Vielleicht sei er damals noch nicht reif für eine Beziehung gewesen.
Damals noch nicht reif, überlegte Bart. Und heute?
Und da war es wieder, das kokette, sich entziehende Lächeln, das Bart am Nachmittag erschreckt hatte und das er jetzt wohl als eine verrutschte Art von Eheversprechen begreifen sollte.
Warum denn nur kokett? Warum gerade jetzt? Barts längste Beziehung mit einem Mann hatte neun Jahre gedauert, wieso fragte Sevi nicht danach?
Stattdessen holte er einen Schuhkarton heraus und zeigte Fotos von früher. Sevi mit weißer Hose in Rom, Sevi müde in einem Straßencafé, Sevi mit neunzehn und ohne Spitzbart im Garten eines Wirtshauses, beim Skifahren im Skianzug, vor der Postkartenlandschaft eines norwegischen Fjords: immer elegant, immer die langen Haare, mal als Zopf, mal offen, meist in Pose. Sevi fickte nicht herum, hatte nur dreimal Sex im Jahr. Er war sich langweilig, sein Leben verlief in der immergleichen Bahn. Lag es daran, dass er sich aufsparte? Dass ihm der Selbstvergeudungsmodus fremd war? Dass er sich im tiefsten Innern zu gut fürs Leben war? Sevi wollte etwas Besonderes sein, die Fotos bestätigten das in Barts Augen. Aber was ist so schlimm daran, überlegte er, ich will doch auch was Besonderes sein. Wenn auch auf diametral andere Weise. Wenn er einen Freund hätte, würde er ihm treu sein, hatte Sevi am Nachmittag behauptet, als sie nach dem Sex auf dem Boden gelegen hatten. Bart sah keinen Grund, daran zu zweifeln. In diesem Punkt zweifelte er nur an sich selbst. Was für ein Mensch also war Sevi? Gehörte er zu den Guten oder zu den Bösen? Gut oder böse in Bezug auf ihn? Wie konnte er herausfinden, ob es sich lohnte, sich auf ihn einzulassen? Du bist ein Trottel, rief er sich zur Ordnung, er lässt sich auf dich ein, das hat er doch heute Abend bewiesen.
Sie waren todmüde. Morgen war Montag und Sevi musste arbeiten. Sie legten die für den Besuch weggeräumten Matratzen wieder auf den Boden und hatten langen, innigen Sex.