Blitzkrieg

Sie kamen miteinander ins Gespräch. Über Christophs Job in Wien, was jeder von ihnen so mache, wo man noch hingehen könnte und so weiter. Sevi hieß Severin. Er sprach in einem schwach ausgeprägten, dennoch typisch schwingenden Wiener Singsang und stieß ein klein bisschen mit der Zunge an, was Bart irgendwie rührte. Jetzt erinnerte er ihn an seinen Automechaniker, einen südländischen Typ, mit ähnlich langen dunklen Haaren, ähnlich wespenfarbenen Augen, der gleichen Faltenbildung beim Lachen, der trotz seiner chronisch ölschwarzen Fingernägel eine Zeit lang als Model gearbeitet hatte.
   Während des Gesprächs legte Sevi eine gewisse intellektuelle Rauflust an den Tag, den Hang, zu widersprechen um des Widerspruchs willen, wobei er sich als überraschend theoriebegabt und geistreich erwies. Durch Christoph, der mit der Teilnahme an dem Forschungsprojekt auf seinen Abschluss in Medientheorie zusteuerte, waren sie auf die Zurschaustellung des Privaten in der medialen Öffentlichkeit gekommen: Thema seiner Diplomarbeit. Sendungen wie Dschungelcamp, Deutschland sucht den Superstar, Germany’s Next Topmodel oder der Facebook- und Instragram-Exhibitionismus entflammten normalerweise nicht Barts Diskussionsleidenschaft, doch in diesem Fall eigneten sie sich vielleicht, den Gesprächsgegner auf gewisse Dinge hin abzuklopfen. Bart nahm die These eines Bekannten zu Hilfe, der die Teil-nehmer von Dschungelcamp und ihre Verwicklungen mit den Figuren und Geschehnissen des Nibelungenliedes gleichgesetzt hatte. Eigentlich war ihm egal, was er da redete, er wollte Sevis Antwort hören. Sevi verwahrte sich strikt gegen jede mythische Überhöhung von Fernsehformaten und sprach von der Stunde der Primaten. Solche Sendungen seien niemals Ausdruck geheimer Sehnsüchte oder tieferer menschlicher Wahrheiten, sondern einfach Blödsinn, der von der Selbstvermehrungsfähigkeit des Blödsinns zeuge, Scheißdreck, dem jede Aufmerksamkeit entzogen gehöre. Scheißdreck, dieses Wort gebrauchte er wirklich.
   Da, wo sie als nächstes hinzogen, küsste Bart Sevi. Ein Club etwas außerhalb des Zentrums, draußen in der Währinger Straße, mit einer großen Tanzfläche, auf der Acid House und Hard Electro gespielt wurden, und einem Kellergeschoss, in dem es musikalisch gemütlicher zuging.
   „Du gehst jetzt schon noch mit“, hatte er Sevis Zögern abgewürgt.
   Er hatte die Initiative zu ergreifen; bis Sevi damit anfing, konnte er lange warten, so viel hatte er bereits kapiert. Sevi küsste gut, wenn er erst mal losgelegt hatte. Unterwegs hatten sie den Dübel geraucht, den Bart mit Sevis Billigung unterm Tisch gebaut hatte, und der ihnen nun half, ineinander zu versinken.
   „Ich hatte nicht gedacht, dass es so schnell geht“, sagte Sevi.
   „Ich bin Deutscher“, erwiderte Bart grinsend. „Wir machen das immer so.“
   Als er an Sevi heruntertastete, spürte er einen nassen Hosenboden. Sevi hatte sich irgendwo in die Bierlache gesetzt. Er musste lachen.
   „Wieso heißt du Bart?“, fragte Sevi. „Du hast doch keinen.“
   „Ich rasier’ mich halt.“
   „Bart Simpson?“
   „Ach komm, hör auf.“
   „Bartholomäus? Bartholomäusnacht? Wo der Bartel den Most holt?“
   „Das soll ich dir zeigen, oder?“ Bart warf den Kopf zurück und lachte.
   „Wie alt bist du?“
   „Wie alt bist du?“, fragte Bart zurück.
   „Achtundzwanzig.“
   „Ich zehn Jahre älter.“
   „Das ist jetzt ein Schachzug“, sagte Sevi.
   „Schachzug, wieso?“
   „Weil du nicht achtunddreißig bist.“
   „Wieso soll ich nicht achtunddreißig sein?“
   „Du spielst ein Spielchen.“
   „Ich spiele keine Spielchen. Nie. Ich bin keine Spielernatur. Bei mir ist alles todernst. Immer. Soll ich dir meinen Personalausweis zeigen?“
   Sevi lächelte. „Ich würd’s dir auch dann nicht glauben.“
   „Das ist echt nett von dir.“
   Und Bart erzählte ihm, dass er mit achtundzwanzig ungefähr achtundfünfzig gewesen sei, dass er überhaupt in seinem Leben oft viel älter gewesen sei als im Augenblick.
   Dann lernten sie Margit kennen, ein furchtbar besoffenes Mädchen, dessen Wienerisch für Bart so unverständlich war wie ein afrikanischer Dialekt und die eine Menge Wichtiges mitzuteilen hatte, zu dem er immer nur nickte. Sie tanzten zu dritt mit Margit; als Christoph, der sich diskret zurück-gezogen hatte, wieder auftauchte, zu viert, knutschten weiter miteinander herum, und gingen erst, als das Putzlicht aufflammte.