Simone de Beauvoir in Oberammergau

Die französische Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir besucht im Sommer 1934 auf einer Deutschlandreise, die sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten Jean-Paul Sartre unternimmt, die Passionsspiele in Oberammergau. Sie sind Augenzeugen der Jubiläumsspiele, die Adolf Hitler kurz vor der Wahl zum Reichspräsidenten für seine antisemitische Propaganda nutzt. In ihren Erinnerungen In den besten Jahren blickt Simone de Beauvoir auf ihren Aufenthalt zurück:

Wir hatten nicht viel für folkloristische Darbietungen übrig, aber die Passion war wirklich großes Theater. Man gelangte durch eine Art Tunnel in eine riesige Halle, die zwanzigtausend Zuschauer fasst. Von acht bis zwölf und von zwei bis sechs Uhr erlahmte unsere Aufmerksamkeit nicht eine Sekunde. Die Breite und Tiefe der Bühne erlaubte ungeheure Massenszenen, und jeder Statist spielte seine Rolle mit solcher Überzeugung, dass man sich inmitten der Menge glaubte, die Christus zujubelte, die ihn auf dem Weg durch die Straßen von Jerusalem verhöhnte. Lebende Bilder, stumm, unbeweglich, wechselten mit bewegten Szenen. Zu einer sehr schönen Musik aus dem siebzehnten Jahrhundert kommentierte ein Frauenchor das Drama: die langen, gewellten Haare, die über die Schultern fielen, erinnerten an alte Shampoo-Reklamen. Das Spiel der Darsteller hätte mit seiner Kargheit und Wirksamkeit Dullin entzückt. Sie erzielten eine Wahrheit, die nichts mit Realismus zu tun hatte. Judas zum Beispiel zählte seine dreißig Silberlinge einzeln her; dabei folgte seine Geste einem Rhythmus, der so zufällig und zwingend zugleich war, dass er das Publikum in atemloser Spannung hielt. Die Dörfler von Oberammergau wandten die Prinzipien Brechts bereits vor Brecht an: Eine einmalige Verbindung von Exaktheit und „Verfremdung“ machte die Schönheit dieses Passionsspiels aus. (Zit. aus: Simone de Beauvoir: In den besten Jahren. Hamburg 1961, S. 167-169. © Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1961)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Sekundärliteratur:

Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 225f., S. 246.