Ernst Wiechert und das Indien der inneren Emigration

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Buchcover "Der weiße Büffel. Oder von der großen Gerechtigkeit" von Ernst Wiechert © Rascher Verlag

Nach der vermehrten Rezeption Indiens durch die deutschsprachige Literatur in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts lässt die Faszination mit dem Subkontinent nach. Einer der wenigen, der sich nach der „Machtergreifung“ mit Indien beschäftigt, ist der Lehrer und Schriftsteller Ernst Wiechert (1887-1950). Im Jahre 1933 widmet er sich ganz und gar der Schriftstellerei und lässt sich in Ambach nieder, 1936 bis 1948 dann in Wolfratshausen. In dieser Zeit (1937) schreibt er seine indische Legende Der weiße Büffel. Oder von der großen Gerechtigkeit, deren Auszüge er zunächst unveröffentlicht in Buchhandlungen vorträgt. Die Lesungen werden durch das Propagandaministerium der Nationalsozialisten gestört, woraufhin er einen Protestbrief an Reichsminister Joseph Goebbels (1897-1945) verfasst. Mit der Zeit und nach weiteren Protesten Wiecherts wird er nicht nur überwacht, mit dem Tode bedroht, ihm ein Ausreiseverbot erteilt und politische Veröffentlichungen untersagt, sondern verhaftet und für mehrere Monate im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert. Dem Verlag wird verwehrt, Wiechert im Programm zu erwähnen, im Schaufenster dürfen seine Bücher nicht ausgestellt werden. Der weiße Büffel traut sich der Verlag erst im Jahre 1946 zu publizieren. Seine nach 1939 verfassten Texte vergräbt Wiechert gar nachts im Garten. (Vgl. Klaus Weigelt: Max Picard und Ernst Wiechert. Zeitdiagnose als Interpretation des Menschengesichts. In: Marcin Golaszewski, Magdalena Kardach u.a. [Hg.]: Zwischen Innerer Emigration und Exil. Deutschsprachige Schriftsteller 1933-1945, Berlin 2016, S. 108.) Und doch bleibt er einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit – obgleich er nicht, wie beispielsweise Bonsels, dem Nationalsozialismus das Wort redet.

Betrachtet man das von Wiechert porträtierte Indienbild, so muss man bedenken, dass er zu den Autor*innen der Inneren Emigration zählt, also denjenigen Schriftsteller*innen, die in einem unterdrückenden Regime wie dem Nationalsozialismus nicht in ein anderes Land migrieren, sondern bildlich gesehen in sich, um dort, wenn auch kaschiert, Kritik an den politischen Verhältnissen zu üben. So ist Der weiße Büffel ein Zeugnis innerer Emigration, eine Beanstandung von Machtbesessenheit und missachtetem Recht, ein Appell an Moral und Gewaltlosigkeit camoufliert als indischer Mythos.

Der Protagonist Vasudeva wird zu einem Abtrünnigen, als die „Fremden“ unrechtmäßig die Steuern einzutreiben beabsichtigen. (Ernst Wiechert: Der weiße Büffel. Oder von der großen Gerechtigkeit. München 1951, S. 14.) Der Begriff des „Fremden“ spielt bereits mit der Widersprüchlichkeit der deutschen wie indischen Geschichte. In Indien erobern, zumindest einer Darstellung nach, erst die „Arier“ das indigene, drawidische Indien und werden später selbst von den „fremden“ Muslimen, dann Europäern unterworfen. In Deutschland richten sich indessen die sogenannten „Arier“ gegen alles Fremde, obzwar sie selbst von einem Fremden, einem Österreicher namens Adolf Hitler (1889-1945) geführt werden.

Nachdem Vasudeva (übrigens ein Beiname Kṛṣṇas, mit dem Heinrich Himmler [1900-1945] Hitler vergleicht) in der Geschichte als Rebell Land und Leben unsicher macht, Mord und Totschlag verübt, und schließlich einem Sinneswandel unterliegt, sucht er mit seinen bald darauf erlangten Weisheiten den König auf. Er will für das Recht einstehen, das als artverwandter Dharma auch in der indischen Kultur eine gewichtige Rolle einnimmt. Als er sich weigert, dem König gebührend zu huldigen, indem er sich nicht vor dessen goldenem Abbild darniederwirft, wird er zu diesem gebracht und zum Tode verurteilt, sollte er sich seines Vergehens nicht reuen. Unmissverständlich ist nicht nur die Parallele zum Hitlergruß, sondern die Verkörperung Hitlers als König Murduk. Neben dem babylonischen Stadtgott kann dieser Name vielleicht als eine Anspielung auf das Wort „Mörder“ gedeutet werden. (Vgl. Ford Parkes-Perret: Ernst Wiechert's Dissident Novella Der Weisse Büffel oder Von der grossen Gerechtigkeit. In: Neophilologus 73/4, 1989, S. 563.)

In seiner inneren Emigration findet Wiechert also ein Indien, das wie schon bei den Romantikern die Antworten auf die aufgeworfenen Fragen deutscher Geschichte liefern soll. Mithin mutet das dargestellte Indienbild zunächst einmal exotistisch bzw. romantisch an. Bereits der Ton unterstreicht dies malerisch:

Dann saß er auf einem der beschatteten Hügel über den Weiden, die Rohrflöte an den Lippen, und spielte, wie man an den Ufern des Stromes gespielt hatte. Es war, als gehe der Wind über eine Schilfwand und zerteile den Rauch, der träge aus verlassenen Hütten kam. Dann blickte er lange hinaus, nach Westen, wo die Wälder sich blau über die Erde legten und von wo es herwehte, süß und fremd, wie aus verzauberten Gärten.

(Wiechert: Der weiße Büffel, S. 30f.)

Es ist das einstige mythische, spirituelle, teils idyllische Indien der Könige und Krieger. Das Indien, das mit seinen altüberkommenen Weisheiten das kriegstreibende Deutschland zu belehren vermag. Diese Weisheiten werden Vasudeva durch seine Mutter, später durch einen Heiligen vermittelt, der gar einen vollkommenen Lebenswandel in Vasudeva hervorruft. Diese Weisheiten zeugen vor allen Dingen von einer Art Asketismus, gar Lebensverneinung, wie sie dem indischen Denken Mal für Mal vorgeworfen wurde. Die Mutter spricht etwa von einem „Trug“, dass er alt werden müsse, „um hinter den Schleier der Bilder zu sehen“. (Ebd., S. 10.) Dies ist wohl als Anspielung auf das advaitische Philosophieprinzip der māyā zu deuten. Einer Auslegung nach besagt es, dass die Welt, wie wir sie erblicken, nicht der absoluten Realität entspreche.

Der Heilige unterrichtet ihn zudem, dass er seine Sehnsüchte, seine Begierden ablegen müsse, eine Art Tod, um richtig leben zu können. Diese Lebensphilosophie, die darin kulminiert, dass Vasudeva wie auch seine Mutter ihr eigenes Ableben vorziehen, anstatt sich dem König zu ergeben, ist gemeinhin als nivṛtti bekannt. Allerdings blendet dies aus, dass im indischen Denken genauso pravṛtti existiert, das lebensbejahende Pendant. Das damit zusammenhängende Konzept der Gewaltlosigkeit, auch ahiṃsā genannt, wird außerdem in Kontrast zur Gewalt, also der illegitimen Macht, in Position gebracht. Vasudeva, der einst selbst tötete, legt sein Schwert nieder, um sich vom König hinrichten zu lassen und damit den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Einmal mehr zeigt sich die gebieterische Schattenseite des eigentlich exotistischen Indienbildes: Um Kritik an falscher Macht, Gewalt und Unrecht zu üben, bedient man sich eines Indienbilds, das von der stereotypen Idee der Entsagung wie Gewaltlosigkeit geprägt ist und oft als Passivität abgetan wird.

Verfasst von: Dr. Krisha Kops

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Foto-Porträt des Schriftstellers Ernst Wiechert, um 1938 (Aufn. Hanns Holdt, München).
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