Das geflügelte Indienbild Max Dauthendeys

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Raja Ravi Varma: Kali zertritt Shiva, ca. 1910.

Ebenso ist der Schriftsteller und Maler Max Dauthendey (1867-1918) ein Reisender jener Zeit. Geboren und aufgewachsen in Würzburg reißt seine Beziehung zu dieser Stadt nie ganz ab, auch in München lebt er zeitweilig. Sein Leben ist geprägt von ständigen Ortswechseln, Reisen innerhalb und außerhalb Europas. Seine erste Weltreise bringt ihn mit der Thomas-Cook-Reisegesellschaft im Jahre 1905/1906 neben Ägypten, Amerika, China und Japan nach Indien. Unter anderem bereist er Elephanta, Mumbai, Delhi, Agra, Jaipur, den Himalaya und Varanasi. Seine Erfahrungen finden in seinem Reisegedichtband Die geflügelte Erde. Ein Lied der Liebe und der Wunder der Sieben Meere (1910) und seinen zwölf „Novellen“, versammelt in dem Band Lingam (1909), ihre Niederschrift.

Wie bei Bonsels ist besonders das Familienhaus für Dauthendeys Suchsucht nach dem anderen verantwortlich. Sein Vater beschäftigt sich mit Fotografie, hegt eine Vorliebe für Technik. Sinnbildlich steht er für die Moderne und ihre Errungenschaften. Der Sohn hingegen ist ein verträumter Dichter und Denker. Dauthendeys Flucht in die Ferne ist somit immer auch eine scheinbare Reise zu sich, weg vom Vater, mit dem er doch immer wieder zusammenfindet. Ein Eskapismus von der technologisierten, verwissenschaftlichten Welt. Dies spiegelt sich wieder in dem Titel des Gedichtbandes, der bereits die zwei Paradigmen beinhaltet, die seine Sicht auf Indien und die anderen Orte bestimmen. Einerseits ist da das wundersame, andererseits die Liebe. Das allererste Gedicht umschreibt dieses Leitbild in folgenden Worten: „Ich tat den Weg um die Erde wagen,/ Ging Tagen entgegen, die mich weit von der Geliebten getragen,/ Wanderte einsam in der Sehnsucht Gehegen,/ Auf Wegen, die über Meere kamen.“ (Max Dauthendey: Die geflügelte Erde. Ein Lied der Liebe und der Wunder der Sieben Meere, München 1910, S. 5.)

Gleicher Art kündigt sich das gesuchte, wundersame Indien später im ersten Indiengedicht an. Es ist das „vielverheißende“ Indien mit „Bergen und Rubinen“, ja, „mit Dschungeln, Tigern und mit heiligen Flüssen.“ (Ebd., S. 48.) Das Indien der Sonnenuntergänge, Fabeltiere und Götter. Er erkennt dort eine Art Harmonie und blickt der Europäisierung mit Wehmut entgegen. Seine Novellen rücken das Abenteuerliche, wie Himmelsbestattung und einen mordenden Magier, in den Vordergrund. Gleichzeitig wirkt das andere Paradigma, das der Liebe, dieser Idealisierung entgegen – zumindest das der indischen Religionen. Auch in den Novellen kommt den Beziehungen zwischen Frau und Mann höchste Bedeutung zu.

Obwohl Dauthendey alles andere als ein orthodoxer Christ ist, er sich für Okkultismus und Mystik interessiert, kann er dem indischen Glauben kaum etwas abgewinnen. Für ihn ist Buddha nicht nur Einzelgänger und der Jinismus frauenfeindlich. Vielmehr meint er, die lebensbejahende Liebe in der indischen Religiosität nicht wiederzufinden: „Denn ich sah das Schönste für mich, das Indien nicht hat:/ Das Bild meiner Liebsten mich küßte.“ (Ebd., S. 88.) Stattdessen erkennt er im indischen Glauben eine lebensverneinende Weltanschauung. Daher nimmt sein erstes Indiengedicht folgende Wendung:

[...] mit Stirnen, die in Andacht und in Askese sich zerwühlen,
Das Nichtsein, das Nirwana preisend.
Das Indien, wo die Menschen den immer heißen Leib am Tod gern kühlen, nichts lieben sollen und doch alles fühlen.
Das Indien, wo die Menschen ihrem Dasein grollen, wo sie selbst nicht im Paradiese leben wollen,
Wo Glück und Unglück gleich gehaßt und nur das Nichtsein alles Daseins Rast.
Gewiß, der Indier Theorie, sie hätte mir fast auch gepaßt;
Denn jedem Sehnenden das Leben stündlich, gleichwie ein Bild, verblaßt, und alles wenig gilt,
Wenn er das Herz nicht an dem Herz der Liebe täglich stillt.
Doch nur mit meiner Liebsten im Verein geh' ich aufs Nichtsein ein, und nie allein,
So lange meine Liebste auf der Welt, hält mich mit tausend Stricken die Wirklichkeit.

(Ebd., S. 48f.)

Man mag herauslesen, wie Dauthendey mit Indiens Denkweise liebäugelt und doch nicht findet, was er sucht. Es ist ein einseitiger Blick, der gebieterische Tendenzen offenlegt. Denn Indien, auch sein Glaube, wie später genauer dargestellt, hat durchaus lebensbejahende Aspekte. Außerdem verkennt Dauthendey die Ambivalenz zwischen Lebensbejahung und -verneinung, wie das eine das andere zu intensivieren vermag. Auch an anderen Stellen mögen seine Fehlinterpretationen daher rühren, dass er sich theoretisch nicht mit Indien auseinandersetzt. Seine Gedichte sind vielmehr impressionistische Momentaufnahmen, die, der Malerei gleich, Indien mit all den Farben, Blumen, Schleiern, Turbanen seiner Alltäglichkeit abzubilden versuchen. Obwohl diese Aufnahmen von einer gewissen Wirklichkeitsnähe zeugen, haftet ihnen, dem Impressionismus getreu, immer eine Subjektivität an, die stellenweise ins Fantastische abdriftet. Dies gilt gleichermaßen für seine Novellen.

Dauthendeys Verhältnis gegenüber Indien und seinen Glaubensformen drückt sich in einem Unbehagen aus: „Unheimlicher war mir die Straße, als ich den Götterstall verließ“. (Ebd., S. 84.) Er rückt die Religionen in die Nähe des Aberglaubens und bedient somit nicht nur auf diese Weise das gebieterische Bild des nicht-rationalen Indiens. Genauso lässt sich die Skepsis in den brutalisierten Darstellungen der Götter vernehmen, insbesondere Kālī, die immer wieder zu einer zentralen Figur in der deutschsprachigen Literatur wird: „In einer Rinne vor dem Schrein floß mal an jedem Morgen der Göttin in dem Amberschloß hier frisches Menschenblut,/ Heute gibt eine Ziege ihr Leben dieser Göttin hin.“ (Ebd., S. 105.) In einem anderen Gedicht zerfleischt die Göttin britische Offiziere. In einer Novelle beschreibt er Darstellungen von englischen Soldaten, „welche vom wütenden Elefantengott zerstampft wurden“. (Max Dauthendey: Lingam. Asiatische Novellen. München 1909, S. 17.) Die deutschsprachigen Schriftsteller*innen jener Tage beziehen unterschiedliche Position zur kolonialen Frage. Dauthendey ist diesbezüglich nicht eindeutig, stellt jedoch auch Indien gebieterisch, wie oben erkennbar, als den Aggressor da.

Dauthendey spiegelt in seinem Indienbild einen anderen Typus jener Epoche: Es sind die Dichter*innen, welche durch ihre Reisen, ihre tatsächliche Begegnung mit dem erträumten Indien, in ihrer Exotisierung ernüchtert werden. Thomas Cook zerstört den indischen Mythos. So bleibt Indien Dauthendey auf eine gewisse Weise fremd. Er schreibt über die Menschen: „Doch die sich meiner Nähe, wie für mich ungeboren, unerreichbar, ganz entziehen.“ (Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 53.) Entweder man tauscht deswegen das romantische Indienbild gegen das abscheuliche ein oder man flüchtet sich noch tiefer in die Wunschvorstellung. Zu diesen desillusionierten Reisenden gehört auch Stefan Zweig, der sich in seiner Legende Die Augen des ewigen Bruders (1921) mit einem indischen Stoff auseinandersetzt. Genauso ernüchtert ist Hermann Hesse (1897-1945), dessen Reise ihn zwar nicht nach Indien, dafür nach Sri Lanka bringt. Es gibt viele weitere hier nur kurz erwähnte Autor*innen und Texte, die exotistische, gebieterische und/oder kuratorische Darstellungen bieten. Etwa Gustav Meyrinks Der Opal (1904), Lion Feuchtwangers (1884-1958) Mananne in Indien (1934) oder Hermann Keyserlings Das Reisetagebuch eines Philosophen (1919).

Verfasst von: Dr. Krisha Kops

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Bayerische Staatsbibliothek München/Porträtsammlung
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