Die „Indienfahrt“ des Waldemar Bonsels
Zu den Reisenden dieser Zeit gehört auch Waldemar Bonsels (1880-1952), der in Oberschleißheim lebt und sich später am Starnberger See niederlässt. Er reist als Kaufmann der Basler Mission in den Jahren 1903/1904 nach Indien, was ihn später zu seiner Schrift Indienfahrt (1916) inspiriert. Das Buch wird ein beachtlicher Erfolg. Sogar eines der meistverkauften Bücher des Jahres 1920 – ähnlich wie zu jener Zeit Der Pilger Kamanita (1906) von Karl Gjellerup (1857-1919) – und zählt mit zu der erfolgreichsten deutschen Reiseliteratur desselben Jahrhunderts. Dabei ist es gar nicht so einfach zu bestimmen, um welches Genre es sich handelt. Es ist kein Reiseführer im klassischen Sinne, der einem Indien erklärt, auch kein objektives Sachbuch, vielmehr ein subjektiver Erfahrungsbericht, der später sogar stellenweise als frei erfunden bezeichnet wird. (Albrecht Oepke in Vridhagiri Ganeshan: Das Indienbild deutscher Dichter um 1900. Dauthendey, Bonsels, Mauthner, Gjellerup, Hermann Keyserling und Stefan Zweig – ein Kapitel deutsch-indischer Geistesbeziehung im frühen 20. Jahrhundert. Bonn 1975, S. 158.) Selbst im Text verschwimmen die Grenzen des scheinbar Realen, mal im Traum, mal im Fieberdelirium.
Um Bonsels' Horizont zu verstehen, ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass er seinem Elternhaus entflieht, wo man ihn zu etwas machen will, zu dem er sich nicht berufen fühlt. Alsdann begibt er sich auf Wanderschaft und entdeckt spätestens hier seine Vorliebe für Flora und Fauna. Sie lässt ihn Anstoß an seiner industrialisierten, urbanisierten und zunehmend technisierten Umwelt nehmen. In Indienfahrt selbst beschreibt er Europa als „lauter, häßlicher Traum voll unnützer Erregtheit“. (Waldemar Bonselns: Indienfahrt. Frankfurt a.M. 1919, S. 99.) Weiter heißt es: „Wie ein einziger, kreischender, prellfarbiger Lebensirrtum erschien mir das Treiben der großen Städte“. (Ebd., S. 100.) Gleich danach spricht er im Kontrast dazu von der „Unschuld der Pflanzen“. Diese Thematik beschäftigt Bonsels immer wieder in seinen Schriften, auch in seinem wohl bekanntesten Text Die Biene Maja und ihre Abenteuer (1912).
Es überrascht nicht, dass die Natur in Indienfahrt eine gewichtige Rolle einnimmt, anhand der er die europäische Zivilisation, aber auch den Menschen per se kritisiert. Es begegnen einem Sonnenuntergänge, Dschungel, Bananenblatt und Palmenfächer, Singvögel und Ochsen. Tiere werden hie und da vermenschlicht. An einer Stelle heißt es:
Die ganze Frische des indischen Frühlingsmorgens umfing uns. Alle Blüten strömten von Tau über, ihre Farben leuchteten im ersten Licht, so daß meine Augen das Entzücken dieser Pracht nicht zu fassen vermochten, und der Geruch von Nässe, Erde und tausend aufbrechenden Blumen ließ mich taumeln vor Glück.
(Ebd., S. 29f.)
Diese Sichtweise könnte man dem exotistischen beziehungsweise romantischen Indienbild zuordnen, zumal es sich lediglich einer sehr bestimmten Seite Indiens zuwendet. Zudem redet diese Art Naturidealisierung – ohne dass Bonsels dies wahrscheinlich beabsichtigt – dem althergebrachten, gebieterischen Narrativ das Wort, Indien sei dem Natürlichen näher, dem Körperlichen, nicht aber dem Geistigen, dem sich der „Westen“ verschrieben habe. Neben dieser Ambivalenz zwischen exotistischem und gebieterischem Bild sei ferner betont, dass auch Bonsels' Naturbild von einer gewissen Ambiguität geprägt ist. (Vgl. dazu a. Aurélie Choné: Le message de l’animal dans Indienfahrt de Waldemar Bonsels. In: Recherches germaniques 10, 2015, S. 129-148.) Denn diese Natur kann gleichwohl eine angsteinflößende sein, eine höhnische oder tödliche. Zu ihr gehören Schakale, Tiger, Panther, Alligatoren, die Überreste einer Hirschantilope zerfetzen, Katzen, die mit Ratten um ihr Leben ringen, Kobras, deren Gift das Leben aus Kindern entweichen lässt.
Bonsels' Idealisierung macht nicht bei der Natur halt. Wie viele seiner Zeitgenossen stellte er seine religiöse Sozialisation in Frage und sucht das Spirituelle jenseits der christlichen Grenzen. Er zitiert Gott Kṛṣṇa, die Upaniṣāden werden erwähnt, mit einem Brahmanen sucht man den Austausch. An einer Stelle schreibt Bonsels emblematisch:
Ich habe den poetischen Glanz der Veden und den Geist Kalidasas überall gefunden und erst im Lande selbst recht würdigen und fassen gelernt, und der bedauernden Ernüchterung der modernen Propheten habe ich nur den Kummer entgegenzuhalten, daß meine Kräfte nicht ausreichen, von den mystischen Herrlichkeiten und dem geheimnisvollen Zauber aller Erscheinungen ein rechtes Bild zu geben.
(Bonsels: Indienfahrt, S. 48.)
Auch hier macht sich also das exotistische Indienbild bezogen auf die Religiosität bemerkbar, wie man es spätestens seit den Romantikern kennt. Und wie die Romantiker sieht er etwas Ursprüngliches in diesem Glauben. (Vgl. ebd., S. 68f.) Gleich der Romantisierung der Natur hat dies eine (unbewusst) gebieterische Seite, wenn man bedenkt, dass Indien seit jeher, der Realität zum Trotz, lediglich als das geistliche, nicht das rationale, wissenschaftliche verstanden wird. Als das Ursprüngliche, das demnach nicht das Fortschrittliche ist, sondern das Primitive. Dieses romantische Indienbild erklärt auch, warum Bonsels – insofern man ihn mit dem Erzähler gleichsetzen darf – den Missionaren gegenüber kritisch gestimmt ist. Ebenso empfindet er diese Ablehnung gegenüber den Briten, lässt sich gegen Ende gar für die Idee eines unabhängigen geeinten Indiens begeistern.
Gleichermaßen exotistisch ist sein Bild der Inder*innen, die er unter anderem als „friedliebend“ beschreibt. (Ebd., S. 67.) Ähnlich wie Herder sie bereits im Kontrast zu den rasenden, ja, unreinen Europäern als sanftmütig darstellte. Bonsels Gesellschaftsbeschreibungen weisen jedoch auch kuratorische Tendenzen auf, zumindest dann, wenn er auf die unterschiedlichen Lebensweisen der Inder*innen eingeht. Vereinzelt tritt gar das Gebieterische bewusst zutage. So betrachtet er die „Urbevölkerung“ als primitiv oder ohrfeigt einen Schreiber – was er im Anschluss allerdings bedauert.
Obgleich gelegentlich das grauenhafte Indien einem begegnet – ob in Form der Pest, der gefährlichen Natur, zerfleischter Toter oder der ungerechten Behandlung indischer Frauen –, ist es das Exotistische, welches überwiegt. Man könnte es ergänzend ein sensationalistisches Indienbild nennen, das versucht, den Leser*innen in ihrer Erwartungshaltung entgegenzukommen, indem es das Abenteuer in den Vordergrund rückt. Jemand stiehlt, Gewehrkugeln fliegen, Tiger stieren einem entgegen, Ochsen erliegen Schlangenbissen, junge, entrückende Inderinnen entsteigen dem Opiumrauch. Diese vielleicht auch erdichteten Szenen wirken nicht nur exotisierend, sondern führen teilweise zu Ungenauigkeiten. Obzwar Bonsels vorgibt, sich mit Indien auch theoretisch auseinanderzusetzen, indem er sich in Kanaresisch, Sanskrit und indische Geschichte vertieft.
Dass das Indienbild in Bonsels' Schrift stark von seinen Projektionen überdeckt ist, erklärt auch, warum er sich am Ende seiner Heimat entgegensehnt. Wohlgemerkt einer ebenfalls idealisierten, in der die Natur einen zentralen Platz einnimmt, wo der „Holunder blühte“ und eine Amsel singt. (Ebd., S. 259.) Denn auch die stärkste Projektion wird irgendwann von der Realität überschattet, so dass man sich einer anderen zuwenden muss. Die Suche nach der Heimat in der Fremde führt zurück zur eigenen Herkunft.
Weitere Kapitel:
Zu den Reisenden dieser Zeit gehört auch Waldemar Bonsels (1880-1952), der in Oberschleißheim lebt und sich später am Starnberger See niederlässt. Er reist als Kaufmann der Basler Mission in den Jahren 1903/1904 nach Indien, was ihn später zu seiner Schrift Indienfahrt (1916) inspiriert. Das Buch wird ein beachtlicher Erfolg. Sogar eines der meistverkauften Bücher des Jahres 1920 – ähnlich wie zu jener Zeit Der Pilger Kamanita (1906) von Karl Gjellerup (1857-1919) – und zählt mit zu der erfolgreichsten deutschen Reiseliteratur desselben Jahrhunderts. Dabei ist es gar nicht so einfach zu bestimmen, um welches Genre es sich handelt. Es ist kein Reiseführer im klassischen Sinne, der einem Indien erklärt, auch kein objektives Sachbuch, vielmehr ein subjektiver Erfahrungsbericht, der später sogar stellenweise als frei erfunden bezeichnet wird. (Albrecht Oepke in Vridhagiri Ganeshan: Das Indienbild deutscher Dichter um 1900. Dauthendey, Bonsels, Mauthner, Gjellerup, Hermann Keyserling und Stefan Zweig – ein Kapitel deutsch-indischer Geistesbeziehung im frühen 20. Jahrhundert. Bonn 1975, S. 158.) Selbst im Text verschwimmen die Grenzen des scheinbar Realen, mal im Traum, mal im Fieberdelirium.
Um Bonsels' Horizont zu verstehen, ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass er seinem Elternhaus entflieht, wo man ihn zu etwas machen will, zu dem er sich nicht berufen fühlt. Alsdann begibt er sich auf Wanderschaft und entdeckt spätestens hier seine Vorliebe für Flora und Fauna. Sie lässt ihn Anstoß an seiner industrialisierten, urbanisierten und zunehmend technisierten Umwelt nehmen. In Indienfahrt selbst beschreibt er Europa als „lauter, häßlicher Traum voll unnützer Erregtheit“. (Waldemar Bonselns: Indienfahrt. Frankfurt a.M. 1919, S. 99.) Weiter heißt es: „Wie ein einziger, kreischender, prellfarbiger Lebensirrtum erschien mir das Treiben der großen Städte“. (Ebd., S. 100.) Gleich danach spricht er im Kontrast dazu von der „Unschuld der Pflanzen“. Diese Thematik beschäftigt Bonsels immer wieder in seinen Schriften, auch in seinem wohl bekanntesten Text Die Biene Maja und ihre Abenteuer (1912).
Es überrascht nicht, dass die Natur in Indienfahrt eine gewichtige Rolle einnimmt, anhand der er die europäische Zivilisation, aber auch den Menschen per se kritisiert. Es begegnen einem Sonnenuntergänge, Dschungel, Bananenblatt und Palmenfächer, Singvögel und Ochsen. Tiere werden hie und da vermenschlicht. An einer Stelle heißt es:
Die ganze Frische des indischen Frühlingsmorgens umfing uns. Alle Blüten strömten von Tau über, ihre Farben leuchteten im ersten Licht, so daß meine Augen das Entzücken dieser Pracht nicht zu fassen vermochten, und der Geruch von Nässe, Erde und tausend aufbrechenden Blumen ließ mich taumeln vor Glück.
(Ebd., S. 29f.)
Diese Sichtweise könnte man dem exotistischen beziehungsweise romantischen Indienbild zuordnen, zumal es sich lediglich einer sehr bestimmten Seite Indiens zuwendet. Zudem redet diese Art Naturidealisierung – ohne dass Bonsels dies wahrscheinlich beabsichtigt – dem althergebrachten, gebieterischen Narrativ das Wort, Indien sei dem Natürlichen näher, dem Körperlichen, nicht aber dem Geistigen, dem sich der „Westen“ verschrieben habe. Neben dieser Ambivalenz zwischen exotistischem und gebieterischem Bild sei ferner betont, dass auch Bonsels' Naturbild von einer gewissen Ambiguität geprägt ist. (Vgl. dazu a. Aurélie Choné: Le message de l’animal dans Indienfahrt de Waldemar Bonsels. In: Recherches germaniques 10, 2015, S. 129-148.) Denn diese Natur kann gleichwohl eine angsteinflößende sein, eine höhnische oder tödliche. Zu ihr gehören Schakale, Tiger, Panther, Alligatoren, die Überreste einer Hirschantilope zerfetzen, Katzen, die mit Ratten um ihr Leben ringen, Kobras, deren Gift das Leben aus Kindern entweichen lässt.
Bonsels' Idealisierung macht nicht bei der Natur halt. Wie viele seiner Zeitgenossen stellte er seine religiöse Sozialisation in Frage und sucht das Spirituelle jenseits der christlichen Grenzen. Er zitiert Gott Kṛṣṇa, die Upaniṣāden werden erwähnt, mit einem Brahmanen sucht man den Austausch. An einer Stelle schreibt Bonsels emblematisch:
Ich habe den poetischen Glanz der Veden und den Geist Kalidasas überall gefunden und erst im Lande selbst recht würdigen und fassen gelernt, und der bedauernden Ernüchterung der modernen Propheten habe ich nur den Kummer entgegenzuhalten, daß meine Kräfte nicht ausreichen, von den mystischen Herrlichkeiten und dem geheimnisvollen Zauber aller Erscheinungen ein rechtes Bild zu geben.
(Bonsels: Indienfahrt, S. 48.)
Auch hier macht sich also das exotistische Indienbild bezogen auf die Religiosität bemerkbar, wie man es spätestens seit den Romantikern kennt. Und wie die Romantiker sieht er etwas Ursprüngliches in diesem Glauben. (Vgl. ebd., S. 68f.) Gleich der Romantisierung der Natur hat dies eine (unbewusst) gebieterische Seite, wenn man bedenkt, dass Indien seit jeher, der Realität zum Trotz, lediglich als das geistliche, nicht das rationale, wissenschaftliche verstanden wird. Als das Ursprüngliche, das demnach nicht das Fortschrittliche ist, sondern das Primitive. Dieses romantische Indienbild erklärt auch, warum Bonsels – insofern man ihn mit dem Erzähler gleichsetzen darf – den Missionaren gegenüber kritisch gestimmt ist. Ebenso empfindet er diese Ablehnung gegenüber den Briten, lässt sich gegen Ende gar für die Idee eines unabhängigen geeinten Indiens begeistern.
Gleichermaßen exotistisch ist sein Bild der Inder*innen, die er unter anderem als „friedliebend“ beschreibt. (Ebd., S. 67.) Ähnlich wie Herder sie bereits im Kontrast zu den rasenden, ja, unreinen Europäern als sanftmütig darstellte. Bonsels Gesellschaftsbeschreibungen weisen jedoch auch kuratorische Tendenzen auf, zumindest dann, wenn er auf die unterschiedlichen Lebensweisen der Inder*innen eingeht. Vereinzelt tritt gar das Gebieterische bewusst zutage. So betrachtet er die „Urbevölkerung“ als primitiv oder ohrfeigt einen Schreiber – was er im Anschluss allerdings bedauert.
Obgleich gelegentlich das grauenhafte Indien einem begegnet – ob in Form der Pest, der gefährlichen Natur, zerfleischter Toter oder der ungerechten Behandlung indischer Frauen –, ist es das Exotistische, welches überwiegt. Man könnte es ergänzend ein sensationalistisches Indienbild nennen, das versucht, den Leser*innen in ihrer Erwartungshaltung entgegenzukommen, indem es das Abenteuer in den Vordergrund rückt. Jemand stiehlt, Gewehrkugeln fliegen, Tiger stieren einem entgegen, Ochsen erliegen Schlangenbissen, junge, entrückende Inderinnen entsteigen dem Opiumrauch. Diese vielleicht auch erdichteten Szenen wirken nicht nur exotisierend, sondern führen teilweise zu Ungenauigkeiten. Obzwar Bonsels vorgibt, sich mit Indien auch theoretisch auseinanderzusetzen, indem er sich in Kanaresisch, Sanskrit und indische Geschichte vertieft.
Dass das Indienbild in Bonsels' Schrift stark von seinen Projektionen überdeckt ist, erklärt auch, warum er sich am Ende seiner Heimat entgegensehnt. Wohlgemerkt einer ebenfalls idealisierten, in der die Natur einen zentralen Platz einnimmt, wo der „Holunder blühte“ und eine Amsel singt. (Ebd., S. 259.) Denn auch die stärkste Projektion wird irgendwann von der Realität überschattet, so dass man sich einer anderen zuwenden muss. Die Suche nach der Heimat in der Fremde führt zurück zur eigenen Herkunft.