Analysewerkzeuge – Exotistisches, Gebieterisches und Kuratorisches
Um die Rezeption Indiens im 20. und 21. Jahrhundert zu beleuchten, ziehe ich vor allem eine Kategorisierung des indischen Denkers Amartya Sen (*1933) heran. Obschon sich seine Unterteilung auf das generelle (auch nicht-deutsche) Verstehen und Interpretieren Indiens bezieht, wird mir diese Schablone nicht nur helfen, die Indienbilder im deutschsprachigen Literaturraum einzuordnen, sondern auch ihre Eigenschaften hervorzuheben. Natürlich kommen Kategorien niemals der Wirklichkeit gleich. Außerdem sind sie auch in diesem Fall nicht absolut zu denken, da sie sich hie und da überlappen. Sen unterscheidet die Annäherungen an Indien wie folgt:
Versuche von außerhalb Indiens, die Traditionen des Landes zu verstehen und zu interpretieren, lassen sich meiner Meinung nach in mindestens drei verschiedene Kategorien einteilen, die ich als exotistische Ansätze, gebieterische Ansätze und kuratorische Ansätze bezeichnen möchte. [...] Die erste (exotistische) Kategorie konzentriert sich auf die wundersamen Aspekte Indiens. Der Fokus liegt hier auf dem Anderen, dem Fremden in dem Land, das, wie Hegel es ausdrückte, „seit Jahrtausenden in der Vorstellung der Europäer existiert“.
(Amartya Sen: Indian Traditions and the Western Imagination. In: Daedalus 126 (2), S. 4, Übersetzung KK.)
Die erste Kategorie bezieht sich also auf das mythische, mystische, mirakulöse wie fabelhafte Indien, das uns bereits bei den Romantikern begegnet ist. So nimmt es nicht wunder, dass die Indologin Carmen Brandt ergänzend dazu den Begriff „romantisches Indienbild“ verwendet. (Carmen Brandt: Spirituality, Atrocities and IT – German Images of India. In: Politeja 40, S. 89, Übersetzung KK.) Bezüglich des zweiten, des gebieterischen Ansatzes schreibt Sen:
Die zweite Kategorie bezieht sich stark auf die Ausübung der imperialen Macht und betrachtet Indien als ein unterworfenes Territorium aus der Sicht seiner britischen Gouverneure. Diese Sichtweise vermittelt ein Gefühl der Überlegenheit und der Vormundschaft, das notwendig ist, um mit einem Land umzugehen, das James Mill als „den großen Schauplatz britischen Handelns“ bezeichnete. Auch wenn viele britische Beobachter nicht in diese Kategorie fielen (und einige nicht-britische schon), lässt sich diese Kategorie nur schwer von den Regierungsaufgaben des Raj trennen.
(Sen: Indian Traditions and the Western Imagination, S. 4, Übersetzung KK.)
Sen merkt hier bereits an, dass diese Kategorie sich vor allem auf die britischen Besatzer beziehe, die dadurch ihre kolonialen Machenschaften intellektuell legitimieren. Allerdings betont er zudem, dass dies kein britisches Alleinstellungsmerkmal sei. Brandt findet dafür die etwas polemischere Bezeichnung „das grauenhafte Indienbild“. (Brandt: Spirituality, Atrocities and IT – German Images of India, S. 90, Übersetzung KK.) Auch dieses Bild ist uns bereits begegnet, etwa bei Hegel. Genauso erhielt es Einzug in das Denken seines Schülers Karl Marx (1818-1883). Die letzte Rubrik beschreibt Sen folgendermaßen:
Die dritte (kuratorische) Kategorie ist die umfassendste der drei und umfasst verschiedene Versuche, die unterschiedlichen Aspekte der indischen Kultur zu erfassen, zu klassifizieren und auszustellen. Im Gegensatz zu den exotistischen Ansätzen sucht ein kuratorischer Ansatz nicht nur nach dem Fremden (auch wenn das „Andere“ mehr „Ausstellungswert“ haben muss), und im Gegensatz zu den gebieterischen Ansätzen wird er nicht durch den Einfluss der Prioritäten des Herrschers belastet (auch wenn sich die gebieterische Verbindung nur schwer in Gänze vermeiden lässt, insofern der Autor auch ein Mitglied der herrschenden imperiale Elite ist, wie es manchmal der Fall war). Aus diesen Gründen ist man in dieser dritten Kategorie freier von Vorurteilen. Andererseits haben die kuratorischen Ansätze ihre eigenen Perspektiven, mit einem allgemeinen Interesse daran, den Gegenstand – in diesem Fall Indien – als etwas ganz Besonderes und außerordentlich Interessantes zu betrachten.
(Sen: Indian Traditions and the Western Imagination, S. 5, Übersetzung KK.)
Diese Herangehensweise ist demnach vielseitiger und mag außerdem Gemeinsamkeiten hervorheben. Trotzdem gilt auch hier Indien als besonders und interessant. Wie die anderen zwei Kategorien, die exotistische und die gebieterische, wird sie uns im Folgenden helfen, das Indienbild der deutschsprachigen, vor allen Dingen bayerischen Schriftsteller*innen zu verstehen. Dabei wird hervorzuheben sein, dass diese Kategorien sich oftmals in einer dialektischen Weise gegenseitig bedingen. Ferner werde ich den Versuch unternehmen, die Kategorien – wie es Sen selbst wünscht – zu erweitern. Denn auch das Indienbild hat sich in den letzten Jahrzehnten bei den deutschen Literat*innen verändert.
Weitere Kapitel:
Um die Rezeption Indiens im 20. und 21. Jahrhundert zu beleuchten, ziehe ich vor allem eine Kategorisierung des indischen Denkers Amartya Sen (*1933) heran. Obschon sich seine Unterteilung auf das generelle (auch nicht-deutsche) Verstehen und Interpretieren Indiens bezieht, wird mir diese Schablone nicht nur helfen, die Indienbilder im deutschsprachigen Literaturraum einzuordnen, sondern auch ihre Eigenschaften hervorzuheben. Natürlich kommen Kategorien niemals der Wirklichkeit gleich. Außerdem sind sie auch in diesem Fall nicht absolut zu denken, da sie sich hie und da überlappen. Sen unterscheidet die Annäherungen an Indien wie folgt:
Versuche von außerhalb Indiens, die Traditionen des Landes zu verstehen und zu interpretieren, lassen sich meiner Meinung nach in mindestens drei verschiedene Kategorien einteilen, die ich als exotistische Ansätze, gebieterische Ansätze und kuratorische Ansätze bezeichnen möchte. [...] Die erste (exotistische) Kategorie konzentriert sich auf die wundersamen Aspekte Indiens. Der Fokus liegt hier auf dem Anderen, dem Fremden in dem Land, das, wie Hegel es ausdrückte, „seit Jahrtausenden in der Vorstellung der Europäer existiert“.
(Amartya Sen: Indian Traditions and the Western Imagination. In: Daedalus 126 (2), S. 4, Übersetzung KK.)
Die erste Kategorie bezieht sich also auf das mythische, mystische, mirakulöse wie fabelhafte Indien, das uns bereits bei den Romantikern begegnet ist. So nimmt es nicht wunder, dass die Indologin Carmen Brandt ergänzend dazu den Begriff „romantisches Indienbild“ verwendet. (Carmen Brandt: Spirituality, Atrocities and IT – German Images of India. In: Politeja 40, S. 89, Übersetzung KK.) Bezüglich des zweiten, des gebieterischen Ansatzes schreibt Sen:
Die zweite Kategorie bezieht sich stark auf die Ausübung der imperialen Macht und betrachtet Indien als ein unterworfenes Territorium aus der Sicht seiner britischen Gouverneure. Diese Sichtweise vermittelt ein Gefühl der Überlegenheit und der Vormundschaft, das notwendig ist, um mit einem Land umzugehen, das James Mill als „den großen Schauplatz britischen Handelns“ bezeichnete. Auch wenn viele britische Beobachter nicht in diese Kategorie fielen (und einige nicht-britische schon), lässt sich diese Kategorie nur schwer von den Regierungsaufgaben des Raj trennen.
(Sen: Indian Traditions and the Western Imagination, S. 4, Übersetzung KK.)
Sen merkt hier bereits an, dass diese Kategorie sich vor allem auf die britischen Besatzer beziehe, die dadurch ihre kolonialen Machenschaften intellektuell legitimieren. Allerdings betont er zudem, dass dies kein britisches Alleinstellungsmerkmal sei. Brandt findet dafür die etwas polemischere Bezeichnung „das grauenhafte Indienbild“. (Brandt: Spirituality, Atrocities and IT – German Images of India, S. 90, Übersetzung KK.) Auch dieses Bild ist uns bereits begegnet, etwa bei Hegel. Genauso erhielt es Einzug in das Denken seines Schülers Karl Marx (1818-1883). Die letzte Rubrik beschreibt Sen folgendermaßen:
Die dritte (kuratorische) Kategorie ist die umfassendste der drei und umfasst verschiedene Versuche, die unterschiedlichen Aspekte der indischen Kultur zu erfassen, zu klassifizieren und auszustellen. Im Gegensatz zu den exotistischen Ansätzen sucht ein kuratorischer Ansatz nicht nur nach dem Fremden (auch wenn das „Andere“ mehr „Ausstellungswert“ haben muss), und im Gegensatz zu den gebieterischen Ansätzen wird er nicht durch den Einfluss der Prioritäten des Herrschers belastet (auch wenn sich die gebieterische Verbindung nur schwer in Gänze vermeiden lässt, insofern der Autor auch ein Mitglied der herrschenden imperiale Elite ist, wie es manchmal der Fall war). Aus diesen Gründen ist man in dieser dritten Kategorie freier von Vorurteilen. Andererseits haben die kuratorischen Ansätze ihre eigenen Perspektiven, mit einem allgemeinen Interesse daran, den Gegenstand – in diesem Fall Indien – als etwas ganz Besonderes und außerordentlich Interessantes zu betrachten.
(Sen: Indian Traditions and the Western Imagination, S. 5, Übersetzung KK.)
Diese Herangehensweise ist demnach vielseitiger und mag außerdem Gemeinsamkeiten hervorheben. Trotzdem gilt auch hier Indien als besonders und interessant. Wie die anderen zwei Kategorien, die exotistische und die gebieterische, wird sie uns im Folgenden helfen, das Indienbild der deutschsprachigen, vor allen Dingen bayerischen Schriftsteller*innen zu verstehen. Dabei wird hervorzuheben sein, dass diese Kategorien sich oftmals in einer dialektischen Weise gegenseitig bedingen. Ferner werde ich den Versuch unternehmen, die Kategorien – wie es Sen selbst wünscht – zu erweitern. Denn auch das Indienbild hat sich in den letzten Jahrzehnten bei den deutschen Literat*innen verändert.