Literarische Blindverkostung

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Fridolin Schley liest aus "Die Verteidigung" im Literaturhaus München, 2021 © Livestream/Literaturhaus

Schuster, bleib bei deinem Leisten? Nein. Nur: Wenn einer fiktionale Literatur schreiben will, dann bitte nicht als Journalismus. Womit wir bei einer Gattung wären, die ich „Journalistenromane“ nenne: Romane, die von (ehemals) hauptberuflichen Journalisten geschrieben worden sind. Ich habe über die Jahre eine Reihe von Journalistenromanen gelesen und habe sie mir jetzt nochmals durchgesehen, um herauszufinden, ob und gegebenenfalls welche Gemeinsamkeiten sie haben. Und was sie taugen. Nun war mein Blick auf die Frage, inwiefern sie einander ähneln, getrübt von der Tatsache, dass ich immer schon vorher wusste, wer Autor oder Autorin ist. Deshalb habe ich den Schriftsteller Fridolin Schley zu einer literarischen Blindverkostung gebeten: Jeder brachte, neben Bier, Wein und indischem Essen, ein paar Bücher mit und las daraus vor, unterbrochen nur von einem kurzen Nickerchen von mir, während Schley und seine Frau Juliane die Kinder ins Bett brachten. Die Regeln: Die Textpassage ist beliebig ausgewählt, die Namen der Protagonisten werden abgekürzt vorgelesen.

Und hier die Ergebnisse. Schley liest aus Ingo Schulzes Handy. Ich halte es zunächst für Journalistenprosa, tippe auf Alexander Osang, während Schley weiterliest. Als der Text, von einer Orangenschale ausgehend, unvermittelt ins Weltall weist und Richtung Epiphanie abbiegt, komme ich ins Zweifeln und tippe doch auf Schriftsteller – richtig. Jetzt lese ich aus dem Roman Schmalensee von Michael Frank, einem altgedienten Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung. Ich war beim Lesen Wochen zuvor ungnädig mit dem Text gewesen, die überlagen Satzkaskaden schienen mir wie eine Überkompensation langjähriger journalistischer Schreibzwänge – dieser Eindruck konnte sich mir aber nur aufdrängen, weil ich den Autor bereits als Journalist kannte, im Gegensatz zu Schley. „Ziemlich sicher ein literarischer Text“, sagt der nach wenigen Zeilen, spürt ein „Sulen in der Sprache“, findet zarte Verwandtschaftsbande des Autors mit Andreas Maier und Thomas Bernhard und schließt auf einen „Vollblutschriftsteller“ aus dem süddeutschen Sprachraum – mag sein, aber in der Logik unserer Blindverkostung läuft Frank nun mal unter Journalist.

Jetzt liest Schley aus Der Tod meiner Mutter des ehemaligen Spiegel-Autors Georg Dietz. Ich tippe auf einen Schriftstellerroman und liege falsch. Eine willkürlich gewählte Stelle von Amelie Fried erkennt Schley nach wenigen Zeilen korrekt als Teil eines Journalistenromans (andernfalls handle es sich vielleicht um einen seriellen Krimischreiber), bevor ich Michel Houellebecq sofort als Schriftsteller erkenne. Jetzt sind wir in Form! Den Anfang von Marlen Haushofers Himmel, der nirgendwo endet genügt Schley, um sich auf eine Schriftstellerin festzulegen. Er merkt es daran, dass die Kinderperspektive darin „nicht auf den schnellen Schilling“ spekuliere. „Für einen Journalisten gäbe es zu wenig her, sich nur auf die Kinderperspektive zu verlassen, so ohne Pointe.“ Das unheimliche, untergründige, scheinnaive, pointenarme – eindeutig ein Indiz für Schriftstellerei. Elfriede Jelinek ordne ich anschließend korrekt zu. Bei Dirk Kurbjuweits Nicht die ganze Wahrheit tippt Schley anfangs aufgrund des unaufgeregten Flusses auf einen Schriftstellerroman („ein Journalist hätte mehr Drang, sich zu beweisen“), bleibt schließlich aber unentschieden, was mich freut, weil auch ich finde: Spiegel-Autor Kurbjuweit ist ein Schriftsteller, der unabhängig davon auch ein guter Journalist ist. Bei Tucholsky liege ich falsch. Um eine von mir an beliebiger Stelle aufgeschlagene Passage von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz korrekt zuzuordnen, braucht Schley keine fünf Zeilen. Beim darauffolgenden Text tippe ich auf eine Schriftstellerin der 50er-Jahre und liege exakt daneben, es handelt sich um die zeitgenössische Journalistin Elke Schmitter. Auf einen „erfahrenen, erfolgreichen Schriftsteller“ tippt Schley anschließend. Er begründet das anhand einer Metapher: „Seine Iris erschrak.“ Sie sei angreifbar (die Iris des Auges mag sich zusammenziehen, aber erschrecken kann sie nicht) und deshalb kühn; ein Journalist würde sie eher nicht riskieren, ebenso wenig wie ein junger Schriftsteller. Der Autor stehe also möglicherweise bereits über dem Literaturbetrieb. Schley erschnuppert außerdem eine Freude am „ironischen, fein ziseliertem Lächerlichmachen“ und tippt, der Autor sei entweder Wolfgang Hildesheimer oder Martin Walser. Mit letzterem liegt er richtig. Als Schley anschließend aus Max Frischs Montauk liest, tippe ich richtig auf einen Schriftsteller.

Verfasst von: Andreas Unger