Über alle Maßen geschmacklos

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Das vom Zeichner Luz angefertigte Titelblatt der ersten Ausgabe von Charlie Hebdo nach dem Anschlag vom 7. Januar 2015 an einem Zeitungsstand in Paris.

Ich will Sie unbedingt von unterkomplexen Antworten auf die Frage nach guter und schlechter Kunst verschonen, sondern nur klarmachen: Die Möglichkeiten literarischen Schreibens sind so groß, dass Journalismus nicht mithalten kann. Und auch nicht mithalten sollte, siehe folgendes Beispiel. Es ist der Einstieg in eine Seite Drei der Süddeutschen Zeitung am Tag nach den Morden in der Redaktion von Charlie Hebdo:

Als Saïd Kouachi fertig war mit seinem Werk in der Rue Nicolas Appert Nummer 10, als er und sein Bruder Chérif fast alles in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo niedergemäht hatten, als sie draußen auf dem Boulevard Richard-Lenoir noch mit einem kalten Schuss den am Boden liegenden, verwundeten Polizisten abknallten und in den schwarzen Citroën mit getönten Scheiben, Kennzeichen CW 510 XV, sprangen, fing die Suche an.

Ich finde diese Zeilen über alle Maßen geschmacklos. Die Stilmittel wirken wie aus einem Spickzettel für eine Deutsch-Schulaufgabe: Anapher, Antiquistas und Euphemismus („Werk“), Synästhesie („kalter Schuss“), Parallelismus. Man merkt dem Text die Anstrengung an, die das Literarischwirkenwollen die Autoren gekostet haben muss. Dabei fallen die Begebenheit und die Mittel ihrer Beschreibung in eins, anders gesagt, wenn etwas besonders Krasses passiert ist, muss man zu besonders krassen Mitteln greifen. Es wird plotaffirmativ gearbeitet. Was herauskommt, ist Kitsch.

Die Autoren entscheiden sich leichterhand dafür, in den Kopf des Menschen, den sie „Protagonist“ nennen würden, zu klettern und von dort aus, mit diesem mitfühlend, zu berichten. Auf diese Weise ganz nah dran, lässt sich hübsch beschreiben, wie stolz Herr K. auf sein „Werk“ ist. Nicht Menschen (also Wesen mit grammatischem und biologischem Geschlecht), sondern Neutren im grammatischen Singular, eben „fast alles“ wurde getötet, also quasi Sachbeschädigung, wobei es „getötet“ nicht trifft, nein, für das Wort „niedergemäht“ entscheiden sich die Literatenreporter. Auch wie man sich beim Mähen fühlt, wissen die Kollegen, nämlich cool: „mit einem kalten Schuss“. Puls, Blutdruck, Atem der Täter: alles normal, das ist offenbar erkennbar dort im Inneren von Herrn K., wobei: die Atemlosigkeit, die der Satzbau suggeriert, die schiere Länge des Satzes, der sich über elf Zeitungszeilen erstreckt, seine Verschachtelung, das alles will fortwährend etwas von mir als Leser. Es will, dass ich es krass finde, beeindruckt bin nicht nur von der Tat, sondern auch von der Erzählung. Deren Urheber sind, wenn man ihnen nicht unterstellen möchte, Tätersympathisanten zu sein, nicht identisch ist mit dem Erzähler. Sie schaffen also ein Lyrisches Ich, eine Kunstfigur, in diesem Fall einen auktorialen Erzähler, der die Leser mitnimmt in seine intime Kenntnis des grausamen Kammerspiels und ihrer Protagonisten. Auch der Unterschied zwischen erzählter Zeit (also der Dauer des Geschehens) und Erzählzeit (Dauer des Erzählens davon) ist den literarisch versiert sein wollenden geläufig: Je stärker sich beide einander annähern, desto unmittelbarer, intensiver ist angeblich das literarische Erleben der Leserinnen und Leser. Heraus kommt ein Text, wie ihn sich die Täter vermutlich wünschen, auch wenn er so von den Autoren nicht beabsichtigt ist: Er ist affirmativ. Das alles will für eine Literarisierung des realen Geschehens sorgen. Dafür fanden die Autoren kein besseres Thema als einen Terroranschlag. Na, Stoff genug für eine Deutsch-Erörterung steckt jedenfalls drin.

Verfasst von: Andreas Unger