Die Stufenleiter

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Fotografie Darwins zur Zeit der Publikation der "Entstehung der Arten", ca. 1854.

In seinem Aufsatz Melville, Darwin and the Great Chain of being beschreibt Eric Wilson Moby-Dick als einen Roman, der acht Jahre vor Darwins Entstehung der Arten (1859) den Evolutionsgedanken vorwegnimmt. Insgesamt wirkt das ein wenig zurechtgebogen, der Text enthält aber gute Gedanken. Ismael gilt Wilson als Vertreter des darwinschen Ansatzes, Ahab hat die Gegenposition inne. Für Ahab sei die Welt statisch, er erwarte letztlich, dass die Welt seinem Gesetz gehorche und versuche z.B. anhand von Zeichnungen auf Seekarten, den Weg Moby Dicks vorherzusagen. Nichts dürfe sich in Ahabs Welt verändern, die Mannschaft reduziere er zu willenlosen Maschinen.

„Ahab's ship is a pre-Darwinian world in miniature; it is ordered by a chain of being, seemingly static and spatial. Ahab maintains firm control of his ship's hierarchy ...“ – Ahabs Schiff ist eine prädarwinistische Welt im Kleinen; sie wird geordnet durch eine Kette des Daseins, scheinbar statisch und räumlich. Ahab behält die feste Kontrolle über die Rangordnung auf seinem Schiff ...

Ismael dagegen begreife im Laufe des Romans, dass er eher ein Getriebener des Geschehens sei, der sich anpassen müsse und könne. Er verstehe, dass Mensch und Tier überlappen und zwischen Menschen und Wilden kein grundlegender Unterschied besteht.

Über Darwin schreibt Wilson, er würde in der Entstehung der Arten die Diversität betonen (gegenüber Anpassung bei Lamarck). Plötzlich habe der Mensch nicht mehr die Kontrolle, er sei nicht länger „besonders, einzigartig, überlegen“, sondern bloß noch ein weiterer Faden im Gewebe“. So weit ich mich erinnere, hat aber bereits Linné betont, dass der Mensch biologisch gesehen ein Tier sei. Auch frage ich mich, ob in einem vom göttlichen „Design“ bestimmten Weltbild nicht Gott die Kontrolle haben müsste. So gesehen, hat sich für den Menschen nicht viel geändert, wenn an die Stelle Gottes ein Konzept des Zufalls („chance“) tritt.

Wilson geht auch Darwins Bild von der „tangled bank“, mit dem er seine Idee zusammenfasst (auf Deutsch etwa „ein Stück Erde bedeckt mit blühenden Pflanzen aller Art“). Es wird hier heutig interpretiert als Metapher für das Ökosystem. Dem folgend ließe sich behaupten, dass Darwin nicht (wie Ahab) seine Mannschaft, sondern die Natur zu einer Maschine erklärt, die blind gehorchen muss. Spezies können nicht gestalten, sie haben kein Ziel, sondern werden (blind) gestaltet – so gesehen ist die Evolutionstheorie das Kind des mechanischen Zeitalters, und Gott oder die höhere Macht tritt vielleicht nur hinter den Vorhang. Welchen Regeln folgen die Mechanismen, stellt sie jemand auf oder sind auch sie zufällig? Und wer stellt die Regel für die Zufälle auf? Heute würde man vielleicht den Algorithmus entschlüsseln wollen.

Ein weiterer Gedanke: Wenn wir angepasst werden anstatt uns anzupassen, könnten zwei oder vier Grad Erderwärmung in Zukunft eine andere Spezies in Vorteil setzen? Ist unsere gegenwärtige Hinwendung zu den Tieren letztlich nur möglich, weil wir sie endlich ganz unter dem Stiefel haben? Wollen wir sie im Grunde vernichten (die Kampagne gegen Nutztiere als Avantgarde dieser Bewegung) im Kampf um Ressourcen der begrenzten Erde?

Schließlich: Warum fand man plötzlich Fossilien, etwas, das nicht ins Bild passte ...

„Oh Mensch, siehe bewundernd auf den Wal und nimm ihn dir zum Vorbild! Halte auch du dich mitten im Eise warm. Lebe auch du in, doch sei nicht von dieser Welt. Bleib kühl am Äquator, halt dein Blut flüssig am Pol. Wie die große Kuppel vom Petersdom und wie der große Wal, so wahre auch du, oh Mensch, zu allen Zeiten deine eigene Temperatur.“ (Moby-Dick, Kapitel 68)

Verfasst von: Thomas Lang