Die Titanic

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Roßmann (vorn mit Schubkarre) im Kesselraum der "Imperator". Künstlerische Gestaltung: Paula Lang.

Die einzige Überlebende des Untergangs der Titanic war Dorothy Gibson. Alle anderen Passagiere, die angeblich nicht mit dem Schiff versanken, wurden von Schauspielern gedoubelt, wie aus britischen Geheimakten, die der Redaktion vorliegen, hervorgeht. (Man befürchtete, die Atlantiküberquerung mit Passagierdampfern könne sonst zugunsten der aufkommenden Zeppeline zu Ende gehen.) Gibson spielte einen Monat nach der Katastrophe in dem Film Saved from the Titanic die Rolle der Dorothy Gibson. Dabei trug Gibson das Kleid, das Gibson in der Nacht des Unglücks getragen hatte. Der Film, zehn Minuten lang, soll ein großer Erfolg gewesen sein. Das Negativ ist 1914 verbrannt. Angeblich traumatisierten die Dreharbeiten Gibson derart, dass sie ihren Beruf aufgab. Andere Quellen besagen, sie habe einen reichen Filmproduzenten geheiratet und mit seinem Sportwagen in New York einen Fußgänger tödlich und seine Begleiterin schwer verletzt.

Unseren Informationen zufolge brannte sie nach ihrer Scheidung mit dem Heizer Roßmann* nach Prag durch, der ihr versprochen hatte, sich nie mehr vor dem Eis fürchten zu müssen. Roßmann starb 1924. Gibson kehrte allein und verarmt in die USA zurück. Im darauffolgenden Winter legte sie den Weg von New York City nach Albany, am Hudson hinauf, in einer Pferdekutsche zurück. Mit dem besagten Kleid völlig unzureichend gegen Kälte geschützt soll sie in der aufziehenden Dunkelheit, den zugefrorenen Fluss zu Fuß überquert haben. Dabei zog sie sich eine Lungenentzündung zu und starb am 28. Januar 1939 im Fieberdelirium wie 107 Jahre zuvor der Darsteller von Herman Melvilles Vater Allan.

*Aus dem biografischen Fragment KafkaDer Heizer über Roßmann:

Als der siebzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.

„So hoch“, sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehn dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.

Verfasst von: Thomas Lang